Europäischer Gerichtshof
Ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit auf einem Gebiet anhängig ist, das in den Anwendungsbereich der Ersten Richtlinie des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (68/151/EWG), fällt, muß sein nationales Recht unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen, um zu verhindern, daß eine Aktiengesellschaft aus anderen als den in Artikel 11 der Richtlinie aufgezählten Gründen für nichtig erklärt wird.

EuGH, Urteil vom 13. 11. 1990 – C-106/89 (lexetius.com/1990,139)

[1] 1. Der Juzgado de Primera Instancia e Instrucción Nr. 1 Oviedo hat mit Beschluß vom 13. März 1989, beim Gerichtshof eingegangen am 3. April 1989, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung von Artikel 11 der Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968 zur Koordinierung der Schutzbestimmungen, die in den Mitgliedstaaten den Gesellschaften im Sinne des Artikels 58 Absatz 2 des Vertrages im Interesse der Gesellschafter sowie Dritter vorgeschrieben sind, um diese Bestimmungen gleichwertig zu gestalten (ABl. L 65, S. 8), zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[2] 2. Diese Frage stellt sich in einem Rechtsstreit zwischen der Marleasing SA, der Klägerin des Ausgangsverfahrens, und mehreren Beklagten, zu denen La Comercial Internacional de Alimentación SA (nachstehend: La Comercial) gehört. Letztere wurde als Aktiengesellschaft von drei Personen errichtet; zu diesen gehört die Firma Barviesa, die ihr Vermögen in die Gesellschaft einbrachte.
[3] 3. Aus den Gründen des Vorlagebeschlusses geht hervor, daß die Firma Marleasing aufgrund der Artikel 1261 und 1275 des spanischen Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach Verträge ohne rechtlichen Grund oder mit einem unerlaubten Grund unwirksam sind, in erster Linie beantragt hat, den Gesellschaftsvertrag zur Gründung von La Comercial für nichtig zu erklären, da die Errichtung dieser Gesellschaft ohne Rechtsgrund, nur zum Schein und zu dem Zweck erfolgt sei, die Gläubiger der Firma Barviesa, einer Mitgründerin der Beklagten, in ihren Rechten zu schädigen. La Comerical hat beantragt, die Klage insgesamt abzuweisen, insbesondere mit der Begründung, daß die Richtlinie 68/151, in deren Artikel 11 die Fälle der Nichtigkeit von Aktiengesellschaften abschließend aufgezählt seien, das Fehlen eines Rechtsgrundes nicht als Nichtigkeitsfall vorsehe.
[4] 4. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, daß das Königreich Spanien gemäß Artikel 395 der Akte über die Bedingungen des Beitritts des Königreichs Spanien und der Portugiesischen Republik zu den Europäischen Gemeinschaften (ABl. 1985, L 302, S. 23) verpflichtet gewesen sei, mit seinem Beitritt die Richtlinie in Kraft zu setzen, was bis zum Tag des Erlasses des Vorlagebeschlusses noch nicht geschehen sei. In der Erwägung, daß der Rechtsstreit ein gemeinschaftsrechtliches Auslegungsproblem aufwerfe, hat das vorlegende Gericht dem Gerichtshof folgende Frage gestellt:
[5] "Ist Artikel 11 der Richtlinie 68/151/EWG des Rates vom 9. März 1968, wenn er nicht in innerstaatliches Recht umgesetzt worden ist, unmittelbar anwendbar, so daß eine Aktiengesellschaft nicht aus anderen als den in diesem Artikel genannten Gründen für nichtig erklärt werden kann?"
[6] 5. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsrechtsstreits, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
[7] 6. Zu der Frage, ob sich ein einzelner gegenüber einem nationalen Gesetz auf die Richtlinie berufen kann, ist auf die ständige Rechtsprechung des Gerichtshofes zu verweisen, wonach eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen einzelnen begründen und eine Richtlinienbestimmung daher als solche nicht gegenüber einem einzelnen in Anspruch genommen werden kann (Urteil vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723).
[8] 7. Aus den Akten ergibt sich jedoch, daß das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen möchte, ob ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit auf einem Gebiet anhängig ist, das in den Anwendungsbereich der Richtlinie 68/151 fällt, sein nationales Recht unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen muß, um zu verhindern, daß eine Aktiengesellschaft aus anderen als den in Artikel 11 der Richtlinie aufgezählten Gründen für nichtig erklärt wird.
[9] 8. Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 10. April 1984 in der Rechtssache 14/83 (Von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Randnr. 26) entschieden hat, obliegen die sich aus einer Richtlinie ergebende Verpflichtung der Mitgliedstaaten, das in dieser Richtlinie vorgesehene Ziel zu erreichen, sowie die Pflicht der Mitgliedstaaten gemäß Artikel 5 EWG-Vertrag, alle zur Erfüllung dieser Verpflichtung geeigneten Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zu treffen, allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten, und zwar im Rahmen ihrer Zuständigkeiten auch den Gerichten. Daraus folgt, daß ein nationales Gericht, soweit es bei der Anwendung des nationalen Rechts – gleich, ob es sich um vor oder nach der Richtlinie erlassene Vorschriften handelt – dieses Recht auszulegen hat, seine Auslegung soweit wie möglich am Wortlaut und Zweck der Richtlinie ausrichten muß, um das mit der Richtlinie verfolgte Ziel zu erreichen und auf diese Weise Artikel 189 Absatz 3 EWG-Vertrag nachzukommen.
[10] 9. Das Erfordernis einer Auslegung des nationalen Rechts, die im Einklang mit Artikel 11 der Richtlinie 68/151 steht, verbietet es somit, die nationalen Rechtsvorschriften über Aktiengesellschaften dergestalt auszulegen, daß die Nichtigkeit einer Aktiengesellschaft aus anderen als den in Artikel 11 dieser Richtlinie abschließend aufgezählten Gründen ausgesprochen werden kann.
[11] 10. Zur Auslegung des Artikels 11 der Richtlinie, insbesondere seiner Nr. 2 Buchstabe b, ist festzustellen, daß diese Bestimmung es den Mitgliedstaaten untersagt, in ihren Rechtsvorschriften eine gerichtliche Nichtigerklärung in anderen als den in der Richtlinie abschließend aufgezählten Fällen vorzusehen, zu denen der Fall gehört, daß der tatsächliche Gegenstand des Unternehmens rechtswidrig ist oder gegen die öffentliche Ordnung verstösst.
[12] 11. Die Kommission ist der Meinung, der Ausdruck "tatsächlicher Gegenstand des Unternehmens" sei so auszulegen, daß damit ausschließlich der im Errichtungsakt oder in der Satzung umschriebene Unternehmensgegenstand gemeint sei. Eine Gesellschaft könne daher nicht wegen der von ihr tatsächlich ausgeuebten Tätigkeit, wie etwa der Vereitelung von Ansprüchen der Gläubiger der Gründungsgesellschafter, für nichtig erklärt werden.
[13] 12. Dieser Auffassung ist zu folgen. Wie sich aus der Präambel der Richtlinie 68/151 ergibt, sollen die Fälle der Nichtigkeit sowie die Rückwirkung der Nichtigerklärung beschränkt werden, "um die Rechtssicherheit in den Beziehungen zwischen der Gesellschaft und Dritten sowie im Verhältnis der Gesellschafter untereinander zu gewährleisten" (sechste Begründungserwägung); ausserdem "muß der Schutz Dritter … durch Bestimmungen gewährleistet werden, welche die Gründe, aus denen im Namen der Gesellschaft eingegangene Verpflichtungen unwirksam sein können, soweit wie möglich beschränken". Daraus folgt, daß jeder in Artikel 11 der Richtlinie vorgesehene Nichtigkeitsgrund eng auszulegen ist. Der Ausdruck "tatsächlicher Gegenstand des Unternehmens" ist somit dahin zu verstehen, daß er sich auf den im Errichtungsakt oder in der Satzung umschriebenen Unternehmensgegenstand bezieht.
[14] 13. Auf die Vorlagefrage ist daher zu antworten, daß ein nationales Gericht, bei dem ein Rechtsstreit auf einem Gebiet anhängig ist, das in den Anwendungsbereich der Richtlinie 68/151 fällt, sein nationales Recht unter Berücksichtigung des Wortlauts und des Zwecks dieser Richtlinie auslegen muß, um zu verhindern, daß eine Aktiengesellschaft aus anderen als den in Artikel 11 der Richtlinie aufgezählten Gründen für nichtig erklärt wird.
Kosten
[15] 14. Die Auslagen der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben hat, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.