Bundesgerichtshof
ZPO § 286
Der Tatrichter muß bei etwaigen Widersprüchen und Diskrepanzen zwischen mehreren Gutachten von Amts wegen versuchen aufzuklären, von welchen Grundlagen und von welchen Wertungen die Sachverständigen, ausgehen. Nur wenn die Widersprüche sich auf diese Weise nicht aufklären lassen, ist er befugt, die widerstreitenden Gutachten im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu werten (Anschluß BGH, 29. September 1992, VI ZR 234/91, NJW 1993, 269).

BGH, Urteil vom 25. 3. 1993 – VII ZR 280/91; OLG Oldenburg (lexetius.com/1993,191)

[1] Tatbestand: Die Klägerin verlangt von der Beklagten Ersatz des Schadens, der ihr bei der Errichtung eines Stahlturmes für den Windenergiepark "Jade" bei Wilhelmshaven entstanden ist.
[2] Im Juni 1988 schlossen die Parteien einen Vertrag, der die Beklagte, ein Schwerlastunternehmen, u. a. dazu verpflichtete, drei Türme zu je zwei Sektionen zu transportieren und aufzustellen.
[3] Am 8. September 1988 begann die Beklagte damit, ein oberes Turmsegment auf die bereits errichtete untere Sektion aufzustellen. Sie hob mit ihrem Kran bei einem auf 35 m ausgefahrenen Teleskopausleger unter Verwendung eines Spitzenauslegers von 28 m Länge und einer Ausladung von 16, 20 m das obere Segmentteil an. Als die Last auf eine Höhe von ca. 20 m angehoben war, stürzte die Sektion zu Boden. Der an dem Segment entstandene Schaden beträgt nach dem Vortrag der Klägerin 734.900 DM.
[4] Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit ihrer Revision erstrebt die Beklagte die Abweisung der Klage.
[5] Entscheidungsgründe: Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
[6] I. Das Berufungsgericht hat zur Haftung der Beklagten im wesentlichen folgendes ausgeführt:
[7] Die Beklagte habe die geschuldete Hebeleistung schuldhaft mangelhaft erbracht. Da die Schadensursache aus dem Gefahrenbereich des Unternehmers hervorgegangen sei, habe der Unternehmer die Darlegungs- und Beweislast, wenn sich aus der Sachlage der Schluß rechtfertige, daß er die ihm obliegende Sorgfalt verletzt habe. Der aufgrund der Beweisaufnahme feststehende Schadensverlauf indiziere die objektive Pflichtverletzung der Beklagten. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme stehe fest, daß ein Seilbruch die Ursache für den Unfall gewesen sei. Dieser Geschehensablauf ergebe sich aus dem schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T., das für den Senat überzeugend sei. Die Schlußfolgerung des im Beweissicherungsverfahren tätigen Sachverständigen Be., der Unfall sei auf einen Bruch im Fußlagerbereich des Spitzenauslegers zurückzuführen, sei von dem Sachverständigen Prof. Dr. T. widerlegt; dieser habe überzeugend ausgeführt, daß der gesamte Kran umgerissen worden wäre, wenn zunächst der Ausleger gebrochen und anschließend das Seil gerissen sei. Die Ausführungen des Sachverständigen Ba., der Fundort des abgestürzten Bauteiles lasse keine Rückschlüsse auf das Unfallgeschehen zu, sei dem Senat nicht verständlich, der Sachverständige habe für seine Folgerung keine einleuchtende Erklärung geben können.
[8] II. Das angefochtene Urteil hält der rechtlichen Nachprüfung nicht stand. Die Revision beanstandet zu Recht, daß das Berufungsgericht den Streitstoff unzureichend aufgeklärt, erhebliche Umstände bei der Beweiswürdigung nicht berücksichtigt hat und einem erheblichen Beweisangebot der Beklagten nicht nachgegangen ist.
[9] 1. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs muß der Tatrichter bei etwaigen Widersprüchen und Diskrepanzen zwischen mehreren Gutachten von Amts wegen versuchen aufzuklären, von welchen Grundlagen und von welchen Wertungen die Sachverständigen ausgehen. Nur wenn die Widersprüche sich auf diese Weise nicht aufklären lassen, ist er befugt, die widerstreitenden Gutachten im Rahmen einer Beweiswürdigung zu werten (BGH, Urteil vom 4. März 1980 – VI ZR 6/79 = VersR 1980, 533; Urteil vom 17. Dezember 1985 – VI ZR 192/84 = VersR 1986, 467; Urteil vom 23. September 1986 – VI ZR 261/85 = NJW 1987, 442; Urteil vom 9. Juli 1992 – VI ZR 222/91 = NJW 1992, 2291, 2292 m. w. N.; Urteil vom 29. September 1992 – VI ZR 234/91 = NJW 1993, 269, 270). Diese Grundsätze gelten auch bei Widersprüchen zwischen Gutachten von gerichtlich gestellten Sachverständigen und Privatgutachtern (BGH, Urteil vom 3. Oktober 1989 – VI ZR 319/88 = NJW 1990, 759, 760; Urteil vom 25. September 1990 – VI ZR 285/89 = MDR 1991, 326).
[10] 2. Die Sachaufklärung, Beweiswürdigung und Entscheidungsfindung des Berufungsgerichts genügten diesen Anforderungen nicht.
[11] Das Berufungsgericht hat sich nicht hinreichend um die Aufklärung der Widersprüche zwischen dem Gutachten des Sachverständigen Be. und des Sachverständigen Prof. Dr. T. bemüht. Es hätte den Sachverständigen Be. zur Stellungnahme zu dem abweichenden Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. T. auffordern und gegebenenfalls den Sachverständigen Prof. Dr. T. zu einer ergänzenden gutachterlichen Äußerung veranlassen müssen. Die Erwägungen des Berufungsgerichts zum Gutachten des Sachverständigen Ba. sind ebenfalls rechtsfehlerhaft. Das Berufungsgericht hätte vor der Würdigung des Gutachtens dem Sachverständigen Gelegenheit geben müssen, die aus seiner Sicht fehlende Erklärung für dessen Schlußfolgerung nachzuholen. Die Revision beanstandet ferner zu Recht, daß das Berufungsgericht die Ausführungen des Privatgutachters der Versicherung, des Sachverständigen H., in seiner Beweiswürdigung nicht berücksichtigt und den als Zeugen benannten Sachverständigen H. nicht vernommen hat. Die Beklagte hat sich auf das Zeugnis des Sachverständigen H. für die Behauptung berufen, daß für den Schaden in erster Linie der Bruch des Auslegerfußes ursächlich gewesen und daß das Seil entgegen der Annahme des Sachverständigen Prof. Dr. T. nicht gebrochen, sondern abgequetscht worden sei. Diese Behauptung ist im Hinblick auf die Ausführungen des Sachverständigen Prof. Dr. T. erheblich.
[12] III. Das angefochtene Urteil beruht auf diesen Verfahrensfehlern. Es ist nicht auszuschließen, daß das Berufungsgericht nach der gebotenen weiteren Sachverhaltsaufklärung, der notwendigen ergänzenden Beweisaufnahme und der anschließenden Beweiswürdigung den Unfallhergang und die Ursachen des Geschehens anders beurteilt. Sollten die Ursachen des Unfalls nicht geklärt werden können, dann hätte die Klägerin den ihr obliegenden Beweis einer objektiven Pflichtverletzung durch die Beklagte nicht geführt. Das Unfallereignis als solches genügt allein nicht als hinreichendes Indiz für eine objektive Pflichtverletzung der Beklagten.