Europäischer Gerichtshof
Artikel 13 des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen ist dahin auszulegen, daß einem Kläger, der in Ausübung seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt und daher nicht selbst der an einem der in Artikel 13 Absatz 1 aufgeführten Verträge beteiligte Verbraucher ist, nicht die besonderen Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens für Verbrauchersachen zugute kommen.

EuGH, Urteil vom 19. 1. 1993 – C-89/91 (lexetius.com/1993,33)

[1] 1. Der Bundesgerichtshof hat mit Beschluß vom 29. Januar 1991, beim Gerichtshof eingegangen am 11. März 1991, gemäß dem Protokoll vom 3. Juni 1971 betreffend die Auslegung des Übereinkommens vom 27. September 1968 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (ABl. 1972, L 299, S. 32) in der Fassung des Übereinkommens vom 9. Oktober 1978 über den Beitritt des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland vom 9. Oktober 1978 (ABl. L 304, S. 1; im folgenden: Übereinkommen) vier Fragen nach der Auslegung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 des Übereinkommens zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[2] 2. Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der TVB Treuhandgesellschaft für Vermögensverwaltung und Beteiligungen mbH mit Sitz in München (Bundesrepublik Deutschland) (im folgenden: Klägerin) und der E. F. Hutton & Company Inc. mit Sitz in New York (Vereinigte Staaten von Amerika), die inzwischen von der ebenfalls in New York ansässigen Shearson Lehman Hutton Inc. (im folgenden: Beklagte) übernommen wurde.
[3] 3. Wie sich aus den dem Gerichtshof übermittelten Akten ergibt, erhob die Klägerin in Deutschland gegen die Beklagte eine Klage aus abgetretenem Recht. Der Zedent, ein deutscher Richter, hatte die Beklagte mit der kommissionsweisen Durchführung von Devisen-, Wertpapier- und Warentermingeschäften beauftragt. Hierzu hatte er in den Jahren 1986 und 1987 erhebliche Einschüsse geleistet, die durch diese Geschäfte beinahe völlig aufgezehrt wurden.
[4] 4. Die Beklagte hatte ihre Leistungen in Zeitungsanzeigen in der Bundesrepublik Deutschland angeboten. Ihr Vertragsverhältnis mit dem Zedenten kam über die in der Bundesrepublik ansässige E. F. Hutton & Company GmbH (im folgenden: Hutton GmbH) zustande, die von der Beklagten abhängig ist und für diese Beratungsfunktionen gegenüber deren Kunden wahrnimmt. Die Hutton GmbH war zumindest vermittelnd in alle vom Zedenten erteilten Kauf- und Verkaufsaufträge eingeschaltet. Ihre Geschäftsanteile gehören einer alleinigen Tochtergesellschaft der Beklagten mit Sitz in New York. Darüber hinaus nehmen mehrere Personen leitende Funktionen sowohl bei der Beklagten als auch bei der Hutton GmbH wahr.
[5] 5. Die Klägerin fordert die verlorenen Einschüsse des Zedenten von der Beklagten zurück. Sie stützt ihr Verlangen auf Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung und auf Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung vertraglicher und vorvertraglicher Pflichten sowie auf ein deliktisches Verhalten, weil die Beklagte den Zedenten nicht genügend über die Risiken der Termingeschäfte aufgeklärt habe.
[6] 6. Das von der Klägerin angerufene Landgericht München erachtete sich für unzuständig und wies die Klage als unzulässig ab. Das Oberlandesgericht München als Berufungsgericht hob diese Entscheidung auf und bejahte die Zuständigkeit des Landgerichts. Gegen dieses Urteil legte die Beklagte beim Bundesgerichtshof Revision ein.
[7] 7. Nach Auffassung des BGH wirft der Rechtsstreit Fragen nach der Auslegung des Übereinkommens auf; er hat das Verfahren daher ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
[8] 1) Schließt Artikel 13 Absatz 1 Nr. 3 des Übereinkommens (EuGVÜ) Kommissionsverträge ein, die auf die Durchführung von Devisen-, Wertpapier- und Warentermingeschäften gerichtet sind?
[9] 2) Ist Artikel 13 Absatz 1 Nr. 3 Buchstabe a EuGVÜ bereits anwendbar, wenn der Vertragspartner des Verbrauchers vor dem Vertragsabschluß im Staat des Wohnsitzes des Verbrauchers in Zeitungsinseraten geworben hat, oder verlangt die Bestimmung einen Zusammenhang zwischen der Werbung und dem Vertragsabschluß?
[10] 3) Besitzt der Vertragspartner des Verbrauchers eine Zweigniederlassung, Agentur oder sonstige Niederlassung gemäß Artikel 13 Absatz 2 EuGVÜ, wenn er sich zum Abschluß und zur Durchführung des Vertrags einer im Wohnsitzstaat des Verbrauchers ansässigen Gesellschaft bedient, die ihm wirtschaftlich gehört und personell mit ihm verbunden ist, die aber über keine Abschlußvollmacht verfügt, sondern nur als Bote auftritt und den Verbraucher berät, und sind Streitigkeiten, die innerhalb der so vermittelten Beziehungen zwischen dem Verbraucher und seinem Vertragspartner entstehen, Streitigkeiten aus dem Betrieb der Zweigniederlassung, Agentur oder sonstigen Niederlassung?
[11] 4) a) Umfasst der Begriff "Klagen aus einem Vertrag" in Artikel 13 Absatz 1 EuGVÜ neben der Verfolgung von Schadensersatzansprüchen wegen der Verletzung vertraglicher Pflichten auch diejenige von Ansprüchen aus der Verletzung vorvertraglicher Pflichten (culpa in contrahendo) und aus ungerechtfertigter Bereicherung im Zusammenhang mit der Rückgängigmachung von vertraglichen Leistungen? b) Eröffnet Artikel 13 Absatz 1 EuGVÜ für eine Klage, mit der Schadensersatzansprüche wegen der Verletzung vertraglicher und vorvertraglicher Pflichten, Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung und Schadensersatzansprüche aus unerlaubter Handlung geltend gemacht werden, eine Annexzuständigkeit kraft Sachzusammenhangs auch für die nichtvertraglichen Klageansprüche?
[12] 8. Wegen weiterer Einzelheiten des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen wird auf den Sitzungsbericht verwiesen. Der Akteninhalt wird im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
[13] 9. Vorab ist festzustellen, daß alle Fragen des vorlegenden Gerichts die Auslegung von Artikel 13 Absätze 1 und 2 des Übereinkommens betreffen, der zum 4. Abschnitt ("Zuständigkeit für Verbrauchersachen") des die gerichtliche Zuständigkeit betreffenden Titels II des Übereinkommens gehört.
[14] 10. Zunächst ist daher zu untersuchen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung dieser Vorschrift in einem Fall wie dem vorliegenden erfüllt sind, da Fragen betreffend den Anwendungsbereich der Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens von Amts wegen zu prüfen sind.
[15] 11. Wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, ist im vorliegenden Fall die Klage auf Rückzahlung nicht vom Vertragspartner der Beklagten, einer Privatperson, erhoben worden, sondern von einer Gesellschaft, an die diese Privatperson ihre Ansprüche abgetreten hat.
[16] 12. Folglich ist zu prüfen, ob einem Kläger wie demjenigen des Ausgangsverfahrens die Eigenschaft eines Verbrauchers im Sinne des Übereinkommens zuerkannt werden kann und ob ihm damit die besonderen Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens für Verbrauchersachen zugute kommen.
[17] 13. Zur Beantwortung dieser Frage ist auf den in der Rechtsprechung (vgl. unter anderem die Urteile vom 21. Juni 1978 in der Rechtssache 150/77, Bertrand, Slg. 1978, 1431, Randnrn. 14 bis 16 und 19, und vom 17. Juni 1992 in der Rechtssache C-26/91, Handte, Slg. 1992, I-3967, Randnr. 10) aufgestellten Grundsatz hinzuweisen, daß die im Übereinkommen verwendeten Begriffe – die nach dem innerstaatlichen Recht der Vertragsstaaten eine unterschiedliche Bedeutung haben können –, um die einheitliche Anwendung des Übereinkommens in allen Vertragsstaaten zu gewährleisten, autonom auszulegen sind, wobei in erster Linie die Systematik und die Zielsetzungen des Übereinkommens berücksichtigt werden müssen. Dies gilt insbesondere für den Begriff des Verbrauchers im Sinne der Artikel 13 ff. des Übereinkommens als entscheidendes Anknüpfungskriterium für die gerichtliche Zuständigkeit.
[18] 14. Hierzu ist erstens festzustellen, daß im System des Übereinkommens der in dessen Artikel 2 Absatz 1 niedergelegte allgemeine Grundsatz gilt, daß die Gerichte des Vertragsstaats zuständig sind, in dessen Hoheitsgebiet der Beklagte seinen Wohnsitz hat.
[19] 15. Nur als Ausnahme von diesem allgemeinen Grundsatz führt das Übereinkommen im 2. bis 6. Abschnitt des Titels II abschließend die Fälle auf, in denen eine Person, die im Hoheitsgebiet eines Vertragsstaats wohnhaft oder niedergelassen ist, vor den Gerichten eines anderen Vertragsstaats verklagt werden kann – nämlich dann, wenn der Sachverhalt unter eine Vorschrift über eine besondere Zuständigkeit fällt – oder verklagt werden muß – nämlich dann, wenn der Sachverhalt unter eine Vorschrift über die ausschließliche Zuständigkeit fällt oder wenn eine Vereinbarung über die Zuständigkeit vorliegt.
[20] 16. Infolgedessen sind die von diesem allgemeinen Grundsatz abweichenden Zuständigkeitsregeln einer Auslegung nicht zugänglich, die über die in dem Übereinkommen vorgesehenen Fälle hinausgeht (vgl. Urteil Bertrand, a. a. O., Randnr. 17, und Urteil Handte, a. a. O., Randnr. 14).
[21] 17. Eine solche Auslegung ist um so mehr geboten bei einer Zuständigkeitsvorschrift wie derjenigen des Artikels 14 des Übereinkommens, die es einem Verbraucher im Sinne des Artikels 13 des Übereinkommens ermöglicht, eine Person vor den Gerichten des Vertragsstaats zu verklagen, in dessen Hoheitsgebiet der Kläger seinen Wohnsitz hat. Mit Ausnahme der ausdrücklich vorgesehenen Fälle lehnt das Übereinkommen eine Zuständigkeit der Gerichte am Wohnsitz des Klägers nämlich eindeutig ab (vgl. Urteil vom 11. Januar 1990 in der Rechtssache C-220/88, Dumez, Slg. 1990, I-49, Randnrn. 16 und 19).
[22] 18. Zweitens ist festzustellen, daß die Sonderregelung der Artikel 13 ff. des Übereinkommens von dem Bestreben getragen ist, den Verbraucher als den wirtschaftlich schwächeren und rechtlich weniger erfahrenen Vertragspartner zu schützen, und daß diesem daher der Entschluß zur gerichtlichen Wahrnehmung seiner Rechte nicht dadurch erschwert werden darf, daß er bei den Gerichten des Staates klagen muß, in dessen Hoheitsgebiet sein Vertragspartner seine Niederlassung hat.
[23] 19. Aus dem Schutzzweck dieser Vorschriften ergibt sich, daß die im Übereinkommen insoweit vorgesehenen besonderen Zuständigkeitsregeln nicht auf Personen ausgedehnt werden dürfen, die dieses Schutzes nicht bedürfen.
[24] 20. Zum einen definiert Artikel 13 Absatz 1 des Übereinkommens den Verbraucher als Person, die "zu einem Zweck … [tätig wird], der nicht der beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit dieser Person … zugerechnet werden kann", und sieht vor, daß die verschiedenen in ihm genannten Arten von Verträgen, für die die Vorschriften des 4. Abschnitts des Titels II des Übereinkommens gelten, von dem Verbraucher abgeschlossen sein müssen.
[25] 21. Zum anderen bestimmt Artikel 14 Absatz 1, daß die Gerichte des Vertragsstaats, in dem der Verbraucher seinen Wohnsitz hat, für "die Klage eines Verbrauchers gegen die andere Vertragspartei" zuständig sind.
[26] 22. Diese Vorschriften beziehen sich nach ihrem Wortlaut und ihrem Zweck nur auf den nicht berufs- oder gewerbebezogen handelnden privaten Endverbraucher (vgl. in diesem Sinne auch das Urteil Bertrand, a. a. O., Randnr. 21, und den anläßlich des Beitritts des Königreichs Dänemark, Irlands und des Vereinigten Königreichs Großbritannien und Nordirland zu dem Übereinkommen erstellten Sachverständigenbericht, ABl. 1979, C 59, S. 71, Nr. 153), der einen der in Artikel 13 aufgeführten Verträge abgeschlossen hat und gemäß Artikel 14 Partei in einem Rechtsstreit ist.
[27] 23. Das Übereinkommen schützt, wie der Generalanwalt in Nr. 26 seiner Schlussanträge ausgeführt hat, den Verbraucher nämlich nur, soweit er persönlich Kläger oder Beklagter in einem Verfahren ist.
[28] 24. Somit ist Artikel 13 des Übereinkommens dahin auszulegen, daß einem Kläger, der in Ausübung seiner beruflichen oder gewerblichen Tätigkeit handelt und daher nicht selbst der an einem der in Artikel 13 Absatz 1 aufgeführten Verträge beteiligte Verbraucher ist, nicht die besonderen Zuständigkeitsregeln des Übereinkommens für Verbrauchersachen zugute kommen.
[29] 25. Aus den vorstehenden Erwägungen folgt, daß über die vom Bundesgerichtshof gestellten Einzelfragen nicht entschieden zu werden braucht.
Kosten
[30] 26. Die Auslagen der deutschen Regierung und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.