Rechtsbeugung durch DDR-Richter wegen Verhängung von Todesstrafen

BGH, Mitteilung vom 16. 11. 1995 – 66/95 (lexetius.com/1995,494)

[1] Der 5. (Berliner) Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat ein Urteil des Landgerichts Berlin bestätigt, das einen Richter der DDR wegen Rechtsbeugung und Totschlags aufgrund seiner Mitwirkung an drei Todesurteilen verurteilt hatte. Der 1920 geborene Angeklagte war während der NS-Zeit in einem Konzentrationslager inhaftiert und später an der Front in einem Minensuchkommando eingesetzt. Nach dem Krieg wurde er in der DDR zum Volksrichter ausgebildet. Zur Tatzeit in den Jahren 1955/56 war er beisitzender Richter am Obersten Gericht der DDR. Gegenstand seiner Verurteilung sind zwei Fälle, in denen er an der Verwerfung von Berufungen wegen Spionage zum Tode Verurteilter mitwirkte, die beide hingerichtet wurden, ferner seine Mitwirkung an einem erstinstanzlichen Verfahren, in dem zwei Männer ebenfalls wegen Spionage zum Tode verurteilt, später indes zu lebenslanger Haft begnadigt wurden. Der Angeklagte hatte in allen Fällen für die Todesstrafe gestimmt, obgleich er ihr grundsätzlich ablehnend gegenüberstand und ihre Verhängung jeweils nicht für angemessen hielt. Der Bundesgerichtshof hat die Revision des Angeklagten verworfen. Der Senat hat zwar die Tatzeitsituation auf dem Höhepunkt des "Kalten Krieges" und den Umstand berücksichtigt, daß die 1987 in der DDR abgeschaffte – Todesstrafe damals noch weit weniger als heute geächtet war. Nach Auffassung des Senats begegnet die Todesstrafe aus heutiger Sicht unüberwindlichen Bedenken. Dies legt nahe, daß eine Wiedereinführung der nach Art. 102 GG abgeschafften Todesstrafe mit Rücksicht auf die Menschenwürde und den Wesensgehalt des Grundrechts auf Leben nicht zulässig wäre. Angesichts der überragenden Bedeutung des Rechtsguts des menschlichen Lebens war aber auch schon zur Tatzeit gerade auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der NS-Zeit – ein Todesurteil Rechtsbeugung, wenn es nicht der Bestrafung schwersten Unrechts galt. Zwar hatten die vom Angeklagten zum Tode Verurteilten im einzelnen mehr oder weniger gewichtige und umfängliche Spionagehandlungen begangen. Die Voraussetzungen schwerster Schuld waren indes offensichtlich nicht erfüllt. Den Rechtsbeugungsvorsatz des Angeklagten fand der BGH ebenfalls hinreichend belegt. Bei den hohen objektiven Schranken für den Rechtsbeugungstatbestand, der in Fällen der vorliegenden Art auf offensichtliche schwere Menschenrechtsverletzungen durch unerträgliche Willkürakte beschränkt ist, erscheint es ohnehin kaum vorstellbar, daß einem Berufsrichter die evidente Rechtswidrigkeit seiner Entscheidung verborgen geblieben sein kann. Der direkte Vorsatz der Rechtsbeugung steht auch bei einem Richter nicht in Frage, der anders als nach den Feststellungen des Landgerichts der Angeklagte bei einem objektiv rechtsbeugerischen Todesurteil keine Skrupel empfunden hat, sondern in blindem Gehorsam gegenüber staatlichen Machthabern meinte, sich auch dann im Einklang mit Recht und Gesetz zu befinden, wenn er über die Grenzen des gesetzlich Zulässigen hinaus den Willen der Staatsführung vollzog. Damit hat sich der Senat von einer Praxis, die auch in der Rechtsprechung des BGH zu finden war, distanziert, in deren Folge Richter der NSJustiz, die Todesurteile zu verantworten hatten, von Bestrafung weitgehend verschont geblieben sind. Namentlich vor diesem Hintergrund hat der Senat für die 40 Jahre zurückliegenden, gleichwohl nicht verjährten Taten die überaus milde Bestrafung des Angeklagten, gegen den das Landgericht eine Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verhängt hatte, unbeanstandet gelassen. Die Revisionen der Staatsanwaltschaft und eines Nebenklägers hatten auch insoweit keinen Erfolg, als das Landgericht den Angeklagten in drei weiteren Fällen freigesprochen hat. Der BGH hat es abgelehnt, allein die Anwendung der rechtsstaatlich bedenklich unbestimmten Strafnorm über "Boykott und Kriegshetze" aus der damals geltenden DDR-Verfassung auf Spione als bewußten Willkürakt anzusehen. Einen Fall der Verhängung von Todesstrafen gegen zwei Spione, in dem der Angeklagte für lebenslange Freiheitsstrafen gestimmt und sich wenngleich vergeblich – für eine Begnadigung der Verurteilten eingesetzt hatte, vermochte der BGH nicht als Rechtsbeugung zu bewerten. Nichts anderes konnte letztlich ungeachtet gravierender rechtsstaatlicher Bedenken gegen das damalige Verfahren für die 40 Jahre zurückliegende Bestrafung eines aus den Westsektoren in den Ostteil Berlins entführten, dem DDRSystem mißliebigen engagierten Journalisten zu vier Jahren Zuchthaus wegen Spionage gelten.
BGH, Urteil vom 16. 11. 1995 – 5 StR 747/94