Bundesfinanzhof
EStG § 19; AO 1977 § 173; BGB § 278
Bewirkt die fehlerhafte Lohnsteuerbescheinigung durch den Arbeitgeber, daß der Arbeitnehmer zu einer überhöhten Einkommensteuer veranlagt wird, so kann dem Arbeitnehmer gegen den Arbeitgeber ein Schadensersatzanspruch zustehen, dessen Erfüllung durch den Arbeitgeber nicht zum Lohnzufluß führt (Abgrenzung zur Rechtsprechung im Urteil vom 28. Februar 1975 VI R 29/72, BFHE 115, 251, BStBl II 1975, 520).

BFH, Urteil vom 20. 9. 1996 – VI R 57/95; Schleswig-Holsteinisches FG (lexetius.com/1996,233)

[1] Sachverhalt: Der Arbeitgeber des Klägers und Revisionsbeklagten (Kläger) hatte für diesen eine Direktversicherung i. S. des § 40b des Einkommensteuergesetzes (EStG) abgeschlossen. Die jährlichen Beitragsleistungen in Höhe von 2.300 DM wurden aus einer Barlohnumwandlung erbracht und vom Arbeitgeber ordnungsgemäß der pauschalen Lohn- und Lohnkirchensteuer unterworfen. Infolge eines Irrtums des Arbeitgebers wurden die Direktversicherungsbeiträge in den Kalenderjahren 1981 bis 1986 als Lohn verbucht und damit dem normalen Lohnsteuerabzug unterworfen. Ebenso waren auf den Lohnsteuerkarten der vorbezeichneten Jahre die Bruttoarbeitslöhne um jeweils 2.300 DM zu hoch angegeben, was zu unzutreffenden Einkommensteuerbescheiden führte.
[2] Den dem Kläger im Kalenderjahr 1988 (Streitjahr) aus den fehlerhaften Besteuerungen als Schadensausgleich gezahlten Betrag in Höhe von 8.211 DM unterwarf der Arbeitgeber nicht dem Lohnsteuerabzug. Nach einer Lohnsteuer-Außenprüfung durch das für den Arbeitgeber zuständige Finanzamt und einer entsprechenden Mitteilung vom 16. April 1991 an den Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt – FA -) erfaßte dieser in einem geänderten Einkommensteuerbescheid vom 24. September 1991 den Betrag von 8.211 DM als Arbeitslohn.
[3] Die nach erfolglosem Vorverfahren erhobene Klage hatte mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 1995, 835 veröffentlichten Gründen Erfolg.
[4] Das FA verfolgt mit seiner Revision die Aufhebung der Vorentscheidung und die Abweisung der Klage. Dazu führt es im wesentlichen aus: Die Vorentscheidung stehe im Widerspruch zum Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 28. Februar 1975 VI R 29/72 (BFHE 115, 251, BStBl II 1975, 520). Danach gehörten Schadensersatzleistungen zum steuerpflichtigen Arbeitslohn des Arbeitnehmers, wenn sie wegen einer Verletzung der arbeitsvertraglichen Pflichten durch den Arbeitgeber erbracht würden. Diese Rechtsprechung sei zutreffend. Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts (FG) habe der Kläger die umstrittene Leistung auch im weitesten Sinne als Gegenleistung für das Zurverfügungstellen seiner Arbeitskraft erhalten. Er habe den Betrag gerade als Entgelt für ihm entgangenen Lohn bezogen; denn der Schaden bestehe darin, daß der Kläger in den Jahren 1981 bis 1986 einen um die auf die Direktversicherungsbeiträge entfallende Steuer zu geringen Lohn erhalten habe. Der Arbeitgeber habe damit nur die dem Kläger vorenthaltenen Lohnteile wieder ausgeglichen, was die Veranlassung durch das Dienstverhältnis offenkundig mache. Wenn die rechtswidrige (doppelte) Besteuerung der Direktversicherungsbeiträge wegen Eintritts der Verjährung nicht mehr rückgängig gemacht werden könne, so sei dies für den Kläger zwar unbefriedigend. Dies könne aber den Lohncharakter der Schadensersatzleistung nicht beseitigen.
[5] Die Kläger treten der Revision des FA im wesentlichen mit den Gründen der Vorentscheidung entgegen.
[6] Entscheidungsgründe: Die Revision des FA führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG (§ 126 Abs. 3 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO -). Dem FG ist zwar darin zu folgen, daß keine Lohnzuwendung gegeben ist, wenn der Arbeitgeber seinem Arbeitnehmer denjenigen Schaden ersetzt, der diesem durch fehlerhafte Eintragungen auf der Lohnsteuerkarte durch Hilfskräfte des Arbeitgebers (Lohnsteuerbescheinigung) und eine dadurch bedingte überhöhte Besteuerung bei der Einkommensteuerveranlagung entstanden ist. Die Sache geht aber zur erneuten Berechnung des dem Kläger entstandenen Schadens und zur Würdigung eines Mitverschuldens des Klägers an das FG zurück.
[7] 1. Der Arbeitgeber des Klägers hat infolge eines Versehens seiner Hilfskräfte die gemäß § 40b EStG pauschal besteuerten Prämien für die Direktversicherung des Klägers dem normalen Lohnsteuerabzug unterworfen. Dieser beim Lohnsteuerabzug unterlaufene Fehler wirkte dadurch fort, daß auch auf der Lohnsteuerbescheinigung die Direktversicherungsbeiträge als ein Teil des Barlohnes erschienen. Dies hatte zur Folge, daß bei den Einkommensteuerveranlagungen der Jahre 1981 bis 1986 die dem Kläger infolge des fehlerhaften Lohnsteuerabzugs zustehenden Erstattungsansprüche (s. Hartz/Meessen/Wolf, ABC-Führer Lohnsteuer, Stichwort "Erstattung von Lohnsteuer", Rdnr. 10, m. w. N.) unausgeglichen blieben.
[8] Die Vorinstanz ist zutreffend davon ausgegangen, daß der Arbeitgeber des Klägers diesem gegenüber schadensersatzpflichtig sein konnte. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts (BAG) ist der Arbeitgeber kraft arbeitsvertraglicher Fürsorgepflicht verpflichtet, die Lohnsteuer richtig zu berechnen und die für die Lohnbesteuerung erforderlichen Aufzeichnungen und Urkunden zutreffend zu führen bzw. auszustellen. Einen dem Arbeitnehmer aus der schuldhaften Verletzung dieser Arbeitgeberpflichten entstandenen Schaden hat der Arbeitgeber auszugleichen (z. B. BAG-Urteile vom 27. März 1985 2 AZR 188/56, Nachschlagewerk des Bundesarbeitsgerichts – Arbeitsrechtliche Praxis – A § – Nr. 1 zu § 670 BGB mit Anm. Dersch; 2 AZR 221/56, Der Betrieb – DB – 1958, 931; Schaub, Arbeitsrechtliches Handbuch, 8. Aufl., 1996, § 71 IV 15, S. 523; Palandt/Putzo, Bürgerliches Gesetzbuch, § 611 Rdnr. 66; Birkenfeld in Deutsche Steuerjuristische Gesellschaft – DStJG – 9, 269 ff.; vgl. auch die Nachweise bei Trzaskalik in Kirchhof/Söhn, Einkommensteuergesetz, § 38 Rdnr. A 51).
[9] 2. Der Schadensausgleich der vorbezeichneten Art durch den Arbeitgeber führt, sofern er sich innerhalb des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs (s. dazu nachfolgend 3.) des Arbeitnehmers hält, nicht zu einem Lohnzufluß. Gemäß § 19 Abs. 1 Nr. 1 EStG gehören zu den Einnahmen aus nichtselbständiger Arbeit u. a. Bezüge und Vorteile, die für eine Beschäftigung gewährt werden. Dem Tatbestandsmerkmal "für eine Beschäftigung" ist zu entnehmen, daß ein dem Arbeitnehmer vom Arbeitgeber zugewendeter Vorteil Entlohnungscharakter haben muß (z. B. Urteil des Senats vom 4. Juni 1993 VI R 95/92, BFHE 171, 74, BStBl II 1993, 687, unter 2. der Entscheidungsgründe). Die Zuwendung des Arbeitgebers muß sich bei objektiver Betrachtung für den Arbeitnehmer als Frucht seiner Arbeitsleistung erweisen. Allein der Umstand, daß eine Leistung des Arbeitgebers tatsächlich oder rechtlich im Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis steht, reicht zur Bejahung des Tatbestandsmerkmals "für eine Beschäftigung" allein nicht aus.
[10] Bei wertender Betrachtung erweist sich der Ersatz des dem Arbeitnehmer aus einer auf schuldhaftem Verhalten des Arbeitgebers beruhenden fehlerhaften Besteuerung entstandenen Schadens nicht als Frucht seiner Arbeitsleistung. Vielmehr wird ein dem Arbeitnehmer in dessen Privatvermögen entstandener Schaden ausgeglichen. Der Arbeitnehmer erhält die Zuwendung nicht, weil er eine Arbeitsleistung erbracht hat, sondern weil ihm gegen den Arbeitgeber ein zivilrechtlicher Anspruch auf Schadensausgleich zusteht. Daß dieser Anspruch ohne das Arbeitsverhältnis nicht entstanden wäre, ist unerheblich.
[11] Der Senat hält damit für die vorliegende Fallgestaltung an seiner Rechtsprechung im Urteil in BFHE 115, 251, BStBl II 1975, 520 nicht fest und folgt insofern der diese Rechtsprechung ablehnenden herrschenden Meinung im steuerrechtlichen Schrifttum (z. B. Tipke, Steuer und Wirtschaft – StuW – 1975, 327, 329; Knobbe-Keuk, StuW 1976, 43, 48; Kav, Finanz-Rundschau – FR – 1977, 62; Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz mit Nebengesetzen, Kommentar, § 19 EStG Anm. 185; Giloy in Kirchhof/Söhn, a. a. O., § 19 Rdnr. B 360; Blümich/Thürmer, § 19 EStG Rz. 219; Barein in Littmann/Bitz/Hellwig, Das Einkommensteuerrecht, § 19 EStG Rn. 163, 164; Altehöfer in Lademann/Söffing/Brockhoff, Kommentar zum Einkommensteuergesetz, § 19 Anm. 138 "Schadensersatz"; Crezelius, Steuerrecht II, München 1994, § 8 EStG Rz. 91).
[12] 3. Ein Schadensausgleich durch den Arbeitgeber führt aber nur insoweit nicht zum Lohnzufluß, als er in Höhe des zivilrechtlichen Schadensersatzanspruchs des Arbeitnehmers geleistet wird. Darüber hinausgehende Beträge erfüllen demgegenüber den Lohnbegriff.
[13] a) Dem Kläger ist durch die bestandskräftigen Veranlagungen zur Einkommensteuer 1981 bis 1986 ein Schaden in Höhe der Differenz zwischen der tatsächlich festgesetzten Einkommensteuer und derjenigen Einkommensteuer entstanden, die sich ergeben hätte, wenn das zu versteuernde Einkommen pro Jahr um 2.300 DM niedriger angesetzt worden wäre. Der Kläger und sein Arbeitgeber haben den Schaden mit dem Spitzensteuersatz berechnet. Da die Vorentscheidung keine Feststellungen zu den Merkmalen der Steuerbescheide der Jahre 1981 bis 1986 enthält, kann der Senat nicht beurteilen, ob diese Art der Schadensberechnung zum zutreffenden Ergebnis führt. Dies wird das FG zu klären haben.
[14] b) Das FG hat ein Mitverschulden des Klägers deshalb nicht geprüft, weil der Arbeitgeber den Schadensersatzanspruch in voller Höhe anerkannt hat.
[15] Dem vermag der Senat schon deshalb nicht zu folgen, weil nicht ausgeschlossen werden kann, daß diese Vereinbarung eine Folge der besonderen Stellung des Klägers im Betrieb des Arbeitgebers war und mit anderen Arbeitnehmern nicht in gleicher Weise getroffen worden wäre. Es entspricht dem normalen Interessengegensatz von Vertragsparteien, daß sie sich auf ein Mitverschulden des anderen Vertragsteils berufen.
[16] Im Streitfall ist zu berücksichtigen, daß der Schaden durch ein bloßes Versehen der Hilfskräfte des Arbeitgebers entstanden ist und insoweit möglicherweise von einem nur geringen Verschulden des Arbeitgebers (§ 278 des Bürgerlichen Gesetzbuches) auszugehen ist. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob nicht auch den Kläger an dem Nichterkennen des Berechnungsfehlers ein Verschulden trifft. Hierzu wird das FG weitere Feststellungen zu treffen und diese zu bewerten haben.
[17] Weiter ist entscheidungserheblich, aus welchem Grund der Kläger es unterlassen hat, die zutreffende Besteuerung durch Änderungsbescheide nach § 173 der Abgabenordnung (AO 1977) herbeizuführen, als die dem Arbeitgeber unterlaufenen Fehler im Streitjahr bekannt wurden. Soweit der Kläger die Änderung der bestandskräftigen Bescheide hätte herbeiführen können, wäre der zunächst entstandene Schaden durch materiell richtige Änderungsbescheide wieder ausgeglichen worden. Auch insoweit ist die Sache noch nicht entscheidungsreif und daher an das FG zurückzuverweisen.