Bundesgerichtshof

BGH, Beschluss vom 5. 6. 1996 – 3 StR 534/95 I; OLG Celle (lexetius.com/1996,403)

[1] 1. Auf die Revision der Angeklagten S. wird das Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 31. März 1995 mit den Feststellungen aufgehoben, a) soweit diese Angeklagte wegen Verrats eines den Militärischen Abschirmdienst betreffenden Staatsgeheimnisses verurteilt worden ist; b) in dem diese Angeklagte betreffenden Rechtsfolgenausspruch. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an einen anderen Strafsenat des Oberlandesgerichts zurückverwiesen.
[2] 2. Die weitergehende Revision wird als unbegründet verworfen.
[3] Gründe: Das Oberlandesgericht hat die Angeklagte wegen Landesverrats zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt, den Verfall von 25.000 DM angeordnet und der Angeklagten das Stimmrecht für vier Jahre aberkannt. Nach Auffassung des Oberlandesgerichts hat die Angeklagte die "Dauerstraftat" des Landesverrats dadurch begangen, daß sie zwei Staatsgeheimnisse – nämlich die Struktur und Arbeitsweise des Militärischen Abschirmdienstes (MAD) und die Poseidon-Unterlagen zu Atomwaffenstellungen und Munitionslagern an das Ministerium für Staatssicherheit der ehemaligen DDR (MfS) verraten habe. Die Revision der Angeklagten führt mit sachlich-rechtlichen Beanstandungen zur Einschränkung des Schuldumfangs und zur Aufhebung des Rechtsfolgenausspruchs. Im übrigen hat die Nachprüfung des Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben.
[4] Nach den Feststellungen hat die Angeklagte als Schreibkraft der Gruppe II des MAD in Hannover ab 23. September 1969 (UA S. 10) deren Struktur, Personal-, Operations- und Observationsmeldungen, die in ihrer Gesamtheit als Staatsgeheimnis zu werten seien (UA S. 50), sowie ab November 1975 bis 1976 die Atomwaffeneinheiten und -standorte im Wehrbereich II ("Poseidon-Unterlagen", UA S. 27 f.), ein weiteres Staatsgeheimnis, an das MfS verraten. Die Angeklagte, zu deren Vormund nach dem Tod ihrer Eltern 1966 ihre Schwester bestellt worden war und die durch Vermittlung ihres Schwagers aufgrund dessen Bundeswehrkontakte die Anstellung beim MAD erhalten hatte, war zunächst bei den allabendlichen Zusammenkünften von Schwager und Schwester, zwei MfS-Agenten, abgeschöpft und später, kurz vor ihrer Volljährigkeit, angeworben worden. Die Angeklagte, die nie Kontakt mit anderen MfS-Mitarbeitern hatte, hat zugegeben, Informationen und Unterlagen an ihren Schwager und ihre Schwester weitergegeben zu haben, dies aber für bestimmte ihr zur Last gelegte Verratsgegenstände auch bestritten. Sie hat geltend gemacht, ihrem Schwager die Mitarbeit in einer (westlichen) Organisation zur Kontrolle der Geheimdienste geglaubt zu haben (UA S. 38 f.).
[5] 1. Das angefochtene Urteil hat im Schuldspruch zu dem die "Poseidon-Unterlagen" betreffenden Teil Bestand.
[6] Die Verfahrensrügen zum bestehen bleibenden Teil des Schuldspruchs sind unbegründet. Selbst wenn, was nicht fernliegt (vgl. Dahs in LR 24. Aufl. § 85 Rdn. 13), der sachverständige Zeuge P. tatsächlich als Sachverständiger ausgesagt haben sollte, kann das Urteil auf einem solchen Rechtsfehler nicht beruhen. Die Revision behauptet nicht, daß der sachverständige Zeuge als Sachverständiger falsch ausgesagt und ein anderer Sachverständiger etwas anderes bekundet hätte. Dementsprechend hat die Angeklagte wie die anderen Verfahrensbeteiligten auf eine Vereidigung verzichtet (vgl. § 79 StPO). Die Angeklagte trägt auch nicht vor, welche Bedenken sie bei einem Gehör zur Sachverständigenauswahl gegen einen Sachverständigen P. geltend gemacht, insbesondere aus welchen Gründen sie ihn gegebenenfalls abgelehnt, und welchen anderen Sachverständigen sie benannt hätte.
[7] Auch die Aufklärungsrüge zur Nichtvernehmung des Zeugen U. verhilft der Revision hinsichtlich des Schuldspruchs wegen des Verrats der "Poseidon-Unterlagen" nicht zum Erfolg. Der Senat kann ausschließen, daß der Schuldspruch auf der Nichtvernehmung dieses Zeugen beruht. Jedenfalls die Übergabe des "streng geheim" eingestuften Entwurfs eines Schreibens vom 11. November 1975 mit der Liste aller im Wehrbereich II gelegenen nuklearfähigen Einheiten der Bundeswehr und ihrer Verbündeten unter Angabe der genauen Koordinaten dieser Standorte mit einer Toleranz von nur 100 Metern, durch die der militärische Gegner erstmals in den Besitz eines genauen Zielkataloges gelangt war (UA S. 27), stellt den Verrat eines Staatsgeheimnisses dar, durch den die Gefahr eines schweren Nachteils für die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland herbeigeführt wurde. Insoweit trägt auch die Beweiswürdigung des Oberlandesgerichts zur subjektiven Tatseite. Mit den durch Vernehmung des Zeugen U. unter Beweis gestellten Behauptungen kann die Überzeugung des Oberlandesgerichts nicht berührt werden, daß die Angeklagte nach jahrelanger Tätigkeit beim MAD nicht glauben konnte, "insbesondere … die Poseidon-Unterlagen" (UA S. 54) einem wie auch immer gearteten westlichen "Kontrollorgan" zur Verfügung zu stellen, sondern wußte, daß die Unterlagen an einen östlichen Geheimdienst weitergeleitet werden.
[8] 2. Die Feststellungen zum Verrat eines den MAD betreffenden Staatsgeheimnisses sowie der Rechtsfolgenausspruch sind auf die Sachrüge hin aufzuheben, weil das Oberlandesgericht die Umstände zur subjektiven Seite nur unvollständig gewürdigt hat und rechtsfehlerhaft davon ausgegangen ist, § 94 StGB sei eine Dauerstraftat (UA S. 63). Auf die Aufklärungsrüge zur Nichtvernehmung des Zeugen U. kommt es auch insoweit nicht an.
[9] Das Oberlandesgericht meint, die Angeklagte habe sogleich nach ihrer Anwerbung am 23. September 1969 gewußt, daß ihr Schwager (und ihre Schwester) die von ihr überbrachten Informationen an einen östlichen Geheimdienst weiterleiteten (UA S. 50). Zwar ist es aufgrund der Beweiserwägungen des Oberlandesgerichts auszuschließen, daß die Angeklagte während des gesamten Verratszeitraumes, insbesondere bei Übergabe der "Poseidon-Unterlagen", an die Legende von der Arbeit "unter falscher Flagge" glaubte. Hiergegen spricht auch die Bitte um Ausstellung eines "Reisedokuments" Anfang 1972 (UA S. 16), zu der das angefochtene Urteil im übrigen eine Einlassung der Angeklagten nicht wiedergibt. Auf der anderen Seite ist aber die Situation einer zwanzigjährigen Vollwaise im häuslichen Umfeld ihrer als Vormund bestellten Schwester zu bedenken und das Gewicht von Äußerungen ihres sachkundigen Schwagers, der ihr aufgrund seiner Kenntnisse und persönlichen Verbindungen zur Bundeswehr die Anstellung beim MAD verschafft und ihre Einarbeitung hinsichtlich der militärischen und technischen Dinge erleichtert hat. Was für einen lebenserfahrenen Menschen oder gar für einen mit Spionagefragen befaßten Fachmann selbstverständlich ist, muß nicht für eine Zwanzigjährige unter dem gegebenen familiären Einfluß gelten. Hinzu kommt, daß der Name der Angeklagten auf den Teilnahmelisten für Sicherheitsbelehrungen der MAD-Gruppe II erst ab 1973 aufgeführt ist (UA S. 51) und daß die Summe der Sicherheitsbelehrungen zur Feststellung der subjektiven Tatseite nicht auf den Anfangszeitpunkt bezogen werden kann. Gegen ordnungsgemäße Sicherheitsbelehrungen könnten auch die fehlenden Taschenkontrollen bei der MAD-Gruppe II und der Umstand sprechen, daß sich die Angeklagte Unterlagen aus einem nicht verschlossenen Panzerschrank holen konnte. Das angefochtene Urteil bezieht auch nicht die Angaben der Schwester der Angeklagten zu deren Vorstellungen und zu den Gesprächen anläßlich der Übergabe von Verratsmaterial in die Würdigung ein, teilt sie noch nicht einmal mit.
[10] In der neuen Hauptverhandlung kann der Zeuge U., wie mit der Aufklärungsrüge geltend gemacht, zu den Vermerken in den Treffberichten als Zeuge gehört werden, so zum Treffbericht vom 27. Oktober 1976, in dem es zur Quelle "Vera" heißt: Die "Basis der Zusammenarbeit ist eine 'fremde Flagge'" (Revisionsbegründung S. 57; Beiakten Bd. 15 S. 154). Hinzu kommen der Vermerk im Treffbericht vom 23. September 1971, nach dem die Angeklagte in einem Gespräch gegenüber ihrem Schwager "beiläufig geäußert" haben soll, "daß sie auf eine Zusammenarbeit mit einem Nachrichtendienst des Ostens nicht eingehen würde" (aaO S. 52; Beiakten Bd. 9 S. 165), die Frage im Treffbericht vom 19. September 1973, "ob die unter 'falscher Flagge' arbeitende E- Quelle überhaupt die Notwendigkeit der Verschwiegenheit gegenüber (ihrem späteren Ehemann, der ebenfalls in der MAD-Gruppe II tätig war) voll erkennt" (aaO S. 56; Beiakten Bd. 10 S. 172) und die im Treffbericht vom 8. Dezember 1975 wiedergegebene Äußerung des Schwagers der Angeklagten, er vermute, die E-Quelle "Vera" glaube nicht mehr an die "fremde Flagge", sondern vermute die tatsächlichen Zusammenhänge (aaO; Beiakten Bd. 21 S. 113 ff., hier 117).
[11] Die Annahme des Oberlandesgerichts, das Verbrechen des Landesverrats nach § 94 StGB sei eine Dauerstraftat, ist nicht richtig (vgl. Träger in LK 10. Aufl. § 94 Rdn. 18). Auf die Frage, ob es sich bei dem Vergehen der geheimdienstlichen Agententätigkeit nach § 99 StGB um ein Dauerdelikt handelt oder um einen Fall tatbestandlicher Handlungseinheit, was näher liegt (vgl. Geppert NStZ 1996, 57, 59, ferner BGHR StGB § 99 Ausüben 1), braucht der Senat nicht einzugehen. Soweit Verhaltensweisen der Angeklagten nach dieser Vorschrift zu beurteilen wären, ist wegen der vorzeitigen Einstellung der Agententätigkeit jedenfalls Strafverfolgungsverjährung eingetreten. Weil die Tatbestände der §§ 94 und 99 StGB unterschiedliche Verhaltensweisen erfassen, dürfen nicht ohne weiteres eine längerdauernde geheimdienstliche Agententätigkeit, die dem Verrat eines Staatsgeheimnisses vorausgeht oder ihr nachfolgt, oder schlechthin "die Gesamtheit der preisgegebenen Informationen" aus einer MAD-Gruppe (UA S. 50) als Landesverrat im Sinne des § 94 StGB gewertet werden. Vielmehr sind Verratshandlungen nach § 94 und nach § 99 StGB, soweit sie sich nicht überschneiden, zu trennen. Zwar kann nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs die Gesamtheit von verratenen Unterlagen, deren im Zusammenhang gesehener Erkenntnisgehalt für einen fremden Nachrichtendienst von überaus hohem Wert ist, ein Staatsgeheimnis sein, ohne auf die vom Gesetzgeber abgelehnte "Mosaiktheorie" zurückzugreifen (BGHSt 24, 72, 76). Damit wird aber der Straftatbestand des § 94 StGB nicht zum Dauerdelikt umgestaltet, sondern es handelt sich um einen Fall tatbestandlicher Handlungseinheit, wenn sich ein Staatsgeheimnis aus der Gesamtheit mehrerer Einzelunterlagen zusammensetzt. Nach der Entscheidung des Großen Senats für Strafsachen vom 3. Mai 1994 (BGHSt 40, 138) kommt auch eine Zusammenfassung mehrerer Verhaltensweisen, die jede für sich den Tatbestand des § 94 StGB erfüllen, zu einer fortgesetzten Handlung nicht mehr in Betracht. Da strafbare Verhaltensweisen nach § 94 und nach § 99 StGB getrennt werden müssen, ist konkret festzustellen, was konstitutiv für das Staatsgeheimnis und was lediglich nach § 99 StGB zu beurteilen ist. Die Urteilsgründe müssen unter Berücksichtigung der Einlassung der Angeklagten, insbesondere daß sie nie Originaldokumente, keine Informationen zu Strukturaufstellungen der MAD-Gruppe und keine Funkunterlagen zu Observationen weitergegeben habe, erkennen lassen, welche bestimmten Verratsteile der Angeklagten aufgrund welcher Beweistatsachen schuldbegründend nach § 94 StGB anzulasten sind. Denn die Strafverfolgungsverjährung für das Vergehen nach § 99 StGB darf nicht unterlaufen werden.