Bundesgerichtshof

BGH, Urteil vom 20. 3. 1996 – 5 StR 623/95; LG Berlin (lexetius.com/1996,407)

[1] Die Revisionen der Staatsanwaltschaft gegen das Urteil des Landgerichts Berlin vom 7. Juni 1995 werden verworfen.
[2] Die Staatskasse trägt die Kosten der Revisionen sowie die durch die Rechtsmittel entstandenen notwendigen Auslagen der Angeklagten.
[3] Gründe: Das Schwurgericht hat den Angeklagten U. vom Vorwurf des versuchten Totschlags und den Angeklagten W. vom Vorwurf der Anstiftung zum versuchten Totschlag freigesprochen. Hiergegen richten sich die vom Generalbundesanwalt vertretenen Revisionen der Staatsanwaltschaft mit sachlichrechtlichen Beanstandungen. Die Rechtsmittel haben keinen Erfolg.
[4] I. Im April 1978 leistete der Angeklagte U. Wehrdienst bei den Grenztruppen der Nationalen Volksarmee der DDR. Er war bei der 8. Sicherungskompanie eingesetzt, die die Grenze zu West-Berlin im Bereich der Eisenbahnübergangsstelle Staaken-Bahnhof und der Grenzübergangsstelle Staaken-Fernstraße 5 zu sichern hatte. Die Grenzsoldaten wurden bei jedem Dienstantritt zunächst vergattert. Hierbei wurde die in der ministeriellen Anweisung DV 30/10 vorgegebene Vergatterungsformel gesprochen, wonach die Grenzkompanie die Aufgabe hatte, "Grenzdurchbrüche nicht zuzulassen, Grenzverletzer vorläufig festzunehmen oder zu vernichten und den Schutz der Staatsgrenze unter allen Bedingungen zu gewährleisten". Diese Befehlslage war den Soldaten bereits ausführlich während der Grundausbildung und der regelmäßigen, intensiven politischen Schulungen erläutert worden.
[5] Am 21. April 1978 nahm der Angeklagte W., ein Unterleutnant, als zuständiger Offizier vom Dienst die Vergatterung des Zuges vor, dem der Angeklagte U. angehörte, wobei W. sich inhaltlich strikt an die vorgegebene Formel hielt. Anschließend bezog der Angeklagte U. seinen Posten auf einem Wachturm im Bereich der Grenzübergangsstelle Staaken-Bahnhof. Dort führte eine Eisenbahnlinie, die an beiden Seiten durch etwa 3 m hohe Sperrmauern gesichert war, nach West-Berlin. Als sich am 22. April 1978 um 1. 40 Uhr ein Zug mit Fahrtrichtung West-Berlin näherte, kletterte der Zeuge J. mit Hilfe einer Leiter über die dem Wachturm gegenüber gelegene Mauer, um im Schutz des Zuges nach West-Berlin zu laufen. Als der Angeklagte U. jenseits des vorbeifahrenden Zuges den Flüchtling erblickte, war dieser nach Überwindung der Mauer bereits einige Meter gelaufen. Der Angeklagte U. entsicherte sofort seine Maschinenpistole Kalaschnikow, indem er den Hebel auf die erste Stellung "Dauerfeuer" verschob, lud sie durch und legte sie zwischen Schulter und Kopf an. Der Flüchtling lief mit hoher Geschwindigkeit schräg auf den Zug zu, wobei er möglicherweise stark in Richtung West-Berlin trieb, also einen recht langen Weg in den Schußschatten des Zuges nahm. Der Angeklagte U. erkannte, daß der Flüchtling alsbald den Schußschatten des Zuges erreichen und dann unaufhaltbar fliehen würde. Er wollte dies verhindern. Die Befehlslage hielt er für rechtmäßig und bindend. Ein Warnruf war zwecklos, da die Zuggeräusche sehr stark waren. Der Angeklagte U. gab einen kurzen Feuerstoß ab. Es lösten sich zwei Schüsse, die beide in die gegenüberliegende Mauer einschlugen. Eines der Projektile durchschoß zuvor eine Hand des Flüchtlings. Bei der Schußabgabe war der Flüchtling mindestens 24 m und höchstens 42 m vom Wachturm entfernt. Das Landgericht hat nicht feststellen können, welche Flugbahnen die Projektile genommen hatten und ob es zu Querschlägern gekommen war. Der Flüchtling erreichte West-Berlin.
[6] II. Das freisprechende Urteil hält sachlichrechtlicher Prüfung stand.
[7] 1. Das Schwurgericht hat den Angeklagten U. ohne Rechtsfehler freigesprochen.
[8] a) Zu einer Verurteilung wegen versuchten Totschlags ist das Landgericht deshalb nicht gelangt, weil es einen Tötungsvorsatz dieses Angeklagten nicht hat feststellen können, nämlich dessen Einlassung nicht zu widerlegen vermocht hat, er habe mit seinen Schüssen den Flüchtling keinesfalls treffen wollen und deshalb etwa einen Meter vor dessen Füße in Laufrichtung gezielt, um ihn durch diese Warnschüsse zum Stehenbleiben zu veranlassen. Die dem zugrundeliegende umfassende Beweiswürdigung ist nicht zu beanstanden.
[9] aa) Das Landgericht hat die Möglichkeit, daß die Projektile über Kopfhöhe des Zeugen J. geflogen und dann direkt in die Mauer eingeschlagen sind, gesehen und ausführlich erörtert (UA S. 13 f.). Dabei hat es im Ergebnis nicht ausschließen können, daß die Projektile vor dem Einschlag in die Mauer auf dem Schotter aufgeschlagen sind. Es hat sowohl die Handverletzung des Zeugen J. als auch dessen "Eindruck" berücksichtigt, ein Projektil sei nahe an seinem Kopf "vorbeigepfiffen". Anhand der Einschußlöcher hat es in Betracht kommende Schußlinien berechnet. Es hat jedoch letztlich angesichts möglicher Querschläger die Feststellungen über die Flugbahn als unsicher erachtet. Allerdings sind angesichts des geringen Abstands der Einschußlöcher zueinander unmittelbare Treffer in das Mauerwerk wahrscheinlicher als auf dem Schotter abgeprallte Schüsse. Physikalische Gesetzmäßigkeiten hat der Tatrichter indes nicht verkannt. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Einschußlöcher auch nach einem Abprall der Projektile auf dem Schotter nahe beieinander liegen. Die vom Generalbundesanwalt gehegte Besorgnis, das Landgericht könne bei seinen weiteren Erwägungen eine mögliche Variante des objektiven Geschehens übersehen haben, teilt der Senat danach nicht.
[10] bb) Auch den Erfahrungssatz, daß jede Form des Schießens in Richtung auf einen Menschen mit einer scharfen Waffe wegen der außergewöhnlich großen Lebensgefährlichkeit den Schluß auf einen Tötungsvorsatz nahelegt (vgl. BGH DtZ 1993, 255 – insoweit in NStZ 1993, 488 nicht abgedruckt; BGH, Urteil vom 4. März 1996 – 5 StR 494/95 – zur Veröffentlichung in BGHSt vorgesehen), hat der Tatrichter nicht übersehen. Er hat bei seinen Erwägungen hierzu die hohe Gefährlichkeit der Schüsse, den Handdurchschuß, die Schützenqualitäten des Angeklagten, die sorgfältige Vorbereitung der Schußabgabe, die Schußdistanz, die Einstellung der Maschinenpistole auf Dauerfeuer und die Abgabe von lediglich zwei Schüssen durch kurzes "Tippen" des Abzuges in Rechnung gestellt (UA S. 17 bis 19).
[11] cc) Der von der Beschwerdeführerin besorgte Widerspruch besteht nicht: Daß der Angeklagte U. die Befehlslage für rechtmäßig und bindend hielt, schließt nicht aus, daß er dieser Befehlslage nicht in letzter Konsequenz nachkommen wollte.
[12] b) Eine Strafbarkeit des Angeklagten U. wegen anderer Delikte, namentlich wegen vorsätzlicher Körperverletzung (§§ 223, 223a StGB/§ 115 StGB-DDR), fahrlässiger Körperverletzung (§ 230 StGB/§ 118 StGB-DDR) oder versuchter Nötigung (§§ 240, 22 StGB/§§ 129, 21 StGB-DDR) hat das Landgericht im Hinblick auf § 5 Abs. 1 WStG verneint. Es hat ausgeführt, daß eine solche Tat "nach den dem Angeklagten bekannten Umständen nicht offensichtlich gegen das Strafrecht verstieß" (UA S. 20 bis 22). Auch dies ist rechtsfehlerfrei (vgl. BGHSt 39, 168, 194; BGH NStZ 1993, 488 und 1995, 286; BGH, Urteil vom 4. März 1996 – 5 StR 494/95 – a. E.).
[13] 2. Auch den Angeklagten W. hat das Schwurgericht ohne sachlichrechtlichen Fehler freigesprochen.
[14] a) Allerdings hat das Landgericht versuchten Totschlag, begangen in mittelbarer Täterschaft, nicht geprüft. Dies begründet hier jedoch keinen Rechtsfehler, weil der Angeklagte weder an der Gestaltung von Organisationsstrukturen beteiligt war noch solche ausgenutzt hat (vgl. dazu BGHSt 40, 218) noch in einer konkreten Situation unmittelbar einen Befehl zum Schießen erteilt hat (vgl. dazu BGH, Urteil vom 4. März 1996 – 5 StR 494/95 -).
[15] b) Eine Strafbarkeit des Angeklagten W. wegen Anstiftung oder Beihilfe zum versuchten Totschlag scheidet mangels einer Haupttat aus.
[16] c) Eine versuchte Anstiftung zum Totschlag nach § 30 Abs. 1, § 212 StGB/§ 227 Abs. 1, § 225 Abs. 1 Nr. 3, §§ 112, 113 StGB-DDR hat das Landgericht deshalb nicht angenommen, weil es einen entsprechenden Anstiftervorsatz des Angeklagten W. nicht hat feststellen können. Dies liegt hier noch im Rahmen zulässiger Beweiswürdigung.
[17] d) Angesichts dessen, daß ein Vorsatz des Angeklagten W., mit der Vergatterung in den Soldaten einen Entschluß zum tödlichen Schießen zu wecken, nicht hat festgestellt werden können, scheidet hier auch eine Strafbarkeit nach anderen Vorschriften aus, die im angefochtenen Urteil nicht genannt sind: Dies gilt für das – der versuchten Anstiftung zu einem Verbrechen nach § 30 Abs. 1 StGB sehr ähnliche – Delikt des erfolglosen Verleitens zu einer rechtswidrigen Tat nach § 34 Abs. 1 WStG i. V. mit § 212 StGB/§ 258 Abs. 2 StGB-DDR i. V. mit §§ 112, 113 StGB-DDR.