Bundesverfassungsgericht

BVerfG, Mitteilung vom 12. 3. 1996 – 14/96 (lexetius.com/1996,501)

[1] Das Bundesverfassungsgericht – Erster Senat – hat eine Verfassungsbeschwerde gegen ein zivilgerichtliches Urteil zurückgewiesen, mit dem der Beschwerdeführer zur Unterlassung einer herabsetzenden Äußerung verurteilt worden war.
[2] Der Beschwerdeführer, ein eingetragener Verein, hat sich die Fortentwicklung und Reform der psychosozialen Versorgung in Deutschland zum Ziel gesetzt. Er ist vor allem in der Arbeit mit Behinderten tätig und strebt ihre Eingliederung in die Gesellschaft an. Aufgrund dieser Zielsetzung bekämpft er die Gegnerin des Ausgangsverfahrens, die dafür eintritt, daß unheilbar Kranke ihrem Leben selbst ein Ende setzen dürfen, und in einigen teils aufsehenerregenden Fällen Schwerkranken sogenannte Sterbehilfe geleistet hat.
[3] Aus Anlaß des "Internationalen Schopenhauer Kongresses 1988", bei dem auch zwei Vorstandsmitglieder der Gegnerin des Ausgangsverfahrens auftreten sollten, verteilte der Beschwerdeführer ein Flugblatt an Kongreßteilnehmer, in dem es unter anderem hieß: "Gefälschte Biografien … Die DGHS braucht für den Einsatz ihrer Zyankali-Boten und die Vermarktung ihrer Schau-Suizide in der Boulevardpresse den eindeutig todeswilligen Behinderten. Ambivalenzen, Stimmungsschwankungen, wie sie jede wirkliche Lebenskrise begleiten, sind ihr unerträglich. So fälscht sie skrupellos die Lebensgeschichten ihrer Opfer. Deren lebenswillige, hoffnungsvolle Seite kommt nicht vor. In der Berichterstattung der DGHS werden diese Menschen auf eine Existenz als "Lebender Kopf, Lebender Leichnam" etc. reduziert." Das Landgericht wies die Klage auf Unterlassung der Äußerung, die Klägerin fälsche skrupellos die Lebensgeschichten ihrer Opfer, ab, weil es darin ein zulässiges Werturteil erblickte, das die Grenze zur Schmähkritik nicht überschreite. Das Oberlandesgericht hob das Urteil des Landgerichts auf und verurteilte den Beschwerdeführer, die umstrittene Äußerung zu unterlassen. Es handele sich um eine herabsetzende Tatsachenbehauptung, für die dem Beschwerdeführer der Wahrheitsbeweis nicht gelungen sei. Der unterschiedlichen rechtlichen Bewertung des Textes lagen unterschiedliche Textdeutungen zugrunde. Während das Landgericht den Satz, der den Fälschungsvorwurf enthält, als Beurteilung der in den folgenden Sätzen aufgestellten Tatsachenbehauptungen deutete, verstand ihn das Oberlandesgericht als zusammenfassenden Ausdruck der Tatsachenbehauptungen und schrieb ihm deswegen selbst überwiegend tatsächlichen Charakter zu. Das Bundesverfassungsgericht hat bekräftigt, daß das Grundrecht der Meinungsfreiheit schon bei der Deutung des Sinns von Äußerungen beachtet werden müsse. Fehle es an der erforderlichen Sorgfalt bei der Interpretation einer umstrittenen Äußerung, so könne das im Ergebnis dazu führen, daß eine Äußerung untersagt werde, die bei zutreffendem Verständnis hätte getan werden dürfen. Es träte dann also gerade das ein, was Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG verhindern solle.
[4] Im vorliegenden Fall hätten die Zivilgerichte die Anforderungen, die das Grundrecht der Meinungsfreiheit an die Deutung von Äußerungen stellt, allerdings erfüllt. Beide Gerichte hätten der Äußerung keinen Sinn gegeben, den sie objektiv nicht haben könne, beide hätten die Äußerung nicht aus dem Zusammenhang gerissen, sondern in ihrem Kontext gewürdigt, und beide hätten sich mit alternativen Deutungsmöglichkeiten auseinandergesetzt, ehe sie sich auf ein bestimmtes Verständnis festgelegt hätten. Eine gerichtliche Deutung von Äußerungen, die diesen Erfordernissen genüge, halte verfassungsrechtlicher Nachprüfung stand. Die Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts gehe nicht weiter als die Anforderungen, die sich aus der Verfassung ergäben.
[5] Das Bundesverfassungsgericht schreibe den Zivilgerichten kein bestimmtes Verständnis einer Äußerung vor, sondern gewährleiste nur, daß bei der Deutung von Äußerungen die verfassungsrechtlich geforderte Sorgfalt geübt werde. Da auf der Basis des Verständnisses der Äußerung auch ihre rechtliche Beurteilung keinen Anlaß zu Beanstandungen gab, ist das Urteil des Oberlandesgerichts bestätigt worden.
BVerfG, Beschluss vom 13. 2. 1996 – 1 BvR 262/91