Werbeverbote für Apotheker sind zum Teil verfassungswidrig

BVerfG, Mitteilung vom 8. 8. 1996 – 47/96 (lexetius.com/1996,519)

[1] Der Erste Senat des BVerfG hat auf Verfassungsbeschwerden von Apothekern gegen deren Verurteilungen durch Berufsgerichte entschieden, daß Werbeverbote für Apotheker jedenfalls dann gegen das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen und verfassungswidrig sind, wenn sie bestimmte Werbeträger ohne Rücksicht auf den Inhalt der Werbung von vornherein als unzulässig ausschließen. Hinsichtlich der dem Verfahren zugrundeliegenden Sachverhalte wird auf die Pressemitteilung vom 5. August 1996 Nr. 45/96 Bezug genommen.
[2] I. Wegen Verstoßes gegen Art. 12 Abs. 1 GG hat der Senat den bis 1986 geltenden § 10 Nr. 11 der Berufsordnung der Landesapothekerkammer Baden-Württemberg (BO BW) in der Fassung vom 4. November 1970 für nichtig erklärt.
[3] Diese Vorschrift lautete: "Unzulässig sind insbesondere folgende Wettbewerbshandlungen: 11. Versendung von Werbebriefen, Verteilung von Flugblättern und Werbemitteln außerhalb der Apotheke."
[4] Sie war mit dem Grundrecht auf Berufsfreiheit insofern unvereinbar, als sie bestimmte Werbeträger ausnahmslos verbot. Ein solches Verbot ist weder durch ausreichende Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt noch entspricht es dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Werbung ist Apothekern, die auch Kaufleute sind, grundsätzlich erlaubt. Die jeweiligen Berufsordnungen der Länder untersagen den Apothekern nicht jede Anpreisung und Reklame in der Außendarstellung, sondern nur solche, die "übertrieben", "unangemessen" oder "zur Förderung des Arzneimittelfehlgebrauchs geeignet" ist. Ob eine Werbung übertrieben erscheint, läßt sich nur aus der Verbindung von Werbeträger und Werbeaussage unter Berücksichtigung von Gestaltung und Häufigkeit der Werbung entscheiden. Es ist nicht ersichtlich, daß bestimmte Werbeträger – entgegen ihrem erklärten Zweck und abweichend von der sonstigen seriösen Werbepraxis – generell geeignet wären, das Vertrauen der Öffentlichkeit in die berufliche Integrität des Werbenden zu schmälern. Der Senat hat deshalb die auf dieser nichtigen Norm beruhende Verurteilung des Beschwerdeführers aus Baden-Württemberg aufgehoben und das Verfahren an das Landesberufsgericht zurückverwiesen.
[5] II. Soweit der Beschwerdeführer aus Bayern erstinstanzlich vom Bayerischen Landesberufsgericht auch wegen Verstoßes gegen die auf § 8 S. 2 BO Bayern beruhenden Werberichtlinien (Verbot der Trikotwerbung, Verbot von Zeitungsannoncen in einer Größe von mehr als 40 qcm) verurteilt worden ist, hat der Senat darauf hingewiesen, daß auch diese Richtlinien aus den unter I genannten Gründen mit dem Grundrecht auf Berufsfreiheit unvereinbar sind. Sofern sie dem Konkurrentenschutz dienen sollten, wäre die Apothekerkammer nicht legitimiert, mit diesem Ziel in den Wettbewerb einzugreifen.
[6] III. Im übrigen beruhen die Verurteilungen der Beschwerdeführer auf verfassungsrechtlich unbedenklichen Normen der jeweiligen Berufsordnungen. Allerdings hält deren Auslegung und Anwendung durch die Berufsgerichte in einigen Fällen verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht stand. In diesem Umfang sind die Verurteilungen deshalb aufgehoben und die Verfahren an die Berufsge- richte zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen worden. Der Senat führt im einzelnen aus, daß die Gerichte im Rahmen der Prüfung der Verhälnismäßigkeit die Umstände der jeweiligen Einzelfälle zum Teil nicht ausreichend gewürdigt haben.
[7] Zur Begründung heißt es unter anderem:
[8] Erwägungen zum Berufsbild verlieren an Gewicht, soweit Apotheker mit ihrem Warenangebot in Konkurrenz zu sonstigen Berufsgruppen stehen. Auch andere Berufsgruppen haben Belange der Arzneimittelversorgung und damit zugleich der Volksgesundheit zu berücksichtigen und müssen aus diesem Grund mit gesteigerter Serosität um Vertrauen werben. Welche Werbeformen und welche Häufigkeit der Werbung als üblich, angemessen oder übertrieben bewertet werden, unterliegt zeitbedingten Veränderungen. Die Berufsgerichte haben dem Rechnung zu tragen. Denn durch den Wandel im Werbeverhalten verändern sich Wahrnehmungsfähigkeit und Wahrnehmungsbereitschaft der Verbraucher und damit auch die Beurteilung der Frage, welche Werbung übertrieben ist.
[9] Aufgrund dieser Erwägungen hat der Senat die Verurteilung wegen eines zu großen Inserats (Beschwerdeführer aus Baden-Württemberg), wegen zu häufiger Werbung in Zeitungsannoncen (Beschwerdeführer aus Nordrhein-Westfalen und Bayern), wegen Sporttrikotwerbung sowie Werbung durch Aufstellen von Werbetafeln und "Verkaufsschütten" auf Gehsteigen (Beschwerdeführer aus Bayern) für verfassungswidrig erklärt.
BVerfG, Beschluss vom 22. 5. 1996 – 1 BvR 744/88