Zur Einlegung fristwahrender Schriftsätze per Telefax

BVerfG, Mitteilung vom 15. 8. 1996 – 51/96 (lexetius.com/1996,522)

[1] Die 2. Kammer des Ersten Senats des BVerfG hat zwei Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit der Übermittlung fristwahrender anwaltlicher Schriftsätze per Telefax einstimmig stattgegeben. Gegenstand der Verfassungsbeschwerden waren gerichtliche Entscheidungen, in denen Rechtsmittel als unzulässig verworfen und Anträge auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen worden waren.
[2] I. In beiden Verfahren hatten die von den Beschwerdeführern bevollmächtigten Rechtsanwälte gegen erstinstanzliche Urteile Berufung eingelegt und in den Abendstunden des letzten Tages der Frist erfolglos versucht, die Berufungsbe- gründungen den jeweiligen Gerichten zu faxen. In dem einen Fall scheiterte die Übermittlung, weil beim Fax-Gerät des betreffenden Gerichts zuvor ein Papierstau eingetreten war. In dem anderen Fall ist die Fehlerursache nicht geklärt worden. Nach den unbestrittenen Angaben des Bevollmächtigten der Beschwerdeführerin war jedoch bei einer Telefonkontrolle der Fax-Leitung ein Freizeichen ertönt. Beiden Beschwerdeführern ist die mit unverschuldeter Fristversäumnis begründete Wiedereinsetzung in den vorigen Stand von den Gerichten versagt worden; die Berufungen wurden wegen Fristüberschreitung als unzulässig verworfen. Gegen diese Entscheidungen haben die Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerden erhoben.
[3] II. Nach Auffassung der Kammer sind die Verfassungsbeschwerden wegen Verletzung des Grundrechts auf effektiven Rechtsschutz (Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip) begründet. Die Urteile sind deshalb aufgehoben und die Verfahren an die Gerichte zur erneuten Verhandlung über die Berufungen zurückverwiesen wiesen worden. Die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen überspannen die von den Prozeßbevollmächtigten der Beschwerdeführer zu erfüllenden Sorgfaltspflichten und wälzen Risiken bei der Benutzung eines Faxgeräts, die allein in der Sphäre des Gerichts liegen, auf den rechtsuchenden Bürger ab. Die Übermittlung fristwahrender Schriftsätze per Telefax ist in allen Gerichtszweigen uneingeschränkt zulässig. Störungen des Empfangsgeräts aber auch Störungen der Übermittlungsleitungen liegen in der Sphäre der Gerichte. Der Nutzer eines für Übermittlungen anerkannten Faxgeräts hat mit der korrekten Eingabe der Empfängernummer das seinerseits Erforderliche zur Fristwahrung getan, wenn er – wie in den vorliegenden Fällen geschehen – so rechtzeitig mit der Übermittlung beginnt, daß unter normalen Umständen mit ihrem Abschluß bis 24. 00 Uhr zu rechten ist. Von einem Rechtsanwalt, der sich auf eine Fax-Übermittlung eingestellt hat, kann daher im Falle eines Defekts im Empfängergerät oder bei Leitungsstörungen nicht verlangt werden, daß er alle nur denkbaren Anstrengungen unternimmt, um seinen Schriftsatz dem Gericht auf anderem Wege noch fristgerecht zuzuleiten.
BVerfG, Beschluss vom 1. 8. 1996 – 1 BvR 989/95