Zur Verfassungsmäßigkeit einer Vorschrift des Wohnungsbindungsänderungsgesetzes

BVerfG, Mitteilung vom 19. 12. 1996 – 81/96 (lexetius.com/1996,540)

[1] Der Erste Senat des BVerfG hat entschieden, daß Art. 4 Abs. 2 Wohnungsbindungsänderungsgesetz (WoBindÄndG) bei verfassungskonformer Auslegung nicht gegen das GG verstößt.
[2] Mit dem WoBindÄndG sind die Bindungsfristen für öffentlich geförderte Wohnungen verlängert und Regelungen über die Bemessung der Kostenmieten geändert worden. Die Vorschriften dieses Gesetzes gelten nach Art. 4 Abs. 2 in Fällen vorzeitiger Rückzahlung der öffentlichen Darlehen auch dann, wenn die Rückzahlungen innerhalb einer bestimmten Zeitspanne schon vor Inkrafttreten des Gesetzes erfolgt waren.
[3] Der Erste Senat des BVerfG hat entschieden, daß die betreffende Vorschrift bei verfassungskonformer Auslegung nicht gegen das GG verstößt.
[4] I. Mit öffentlichen Mitteln geförderte Wohnungen unterliegen nach dem Wohnungsbindungsgesetz (WoBindG) hinsichtlich der Belegung und der Mietpreise bestimmten Bindungen. Die Belegungsbindung hat den Zweck, wirtschaftlich weniger leistungsfähige Wohnungsuchende mit Wohnraum zu versorgen; die Preisbindung an die Kostenmiete soll gewährleisten, daß die Wohnungsberechtigten die Wohnungen zu erschwinglichen Preisen mieten können. Das WoBindG regelt auch, wann die Eigenschaft "öffentlich gefördert", an die sich die Bindungen knüpfen, im Falle einer freiwilligen vorzeitigen Rückzahlung der Förderungsmittel endet (sog. Nachwirkungsfrist).
[5] Wegen der stark gestiegenen Wohnungsnachfrage beschloß der Bundestag am 29. März 1990 das WoBindÄndG, das am 30. Mai 1990 in Kraft trat. Mit diesem Gesetz wurde u. a. die "Nachwirkungsfrist" von acht auf zehn Jahre verlängert; außerdem wurde § 16 Abs. 3 WoBindG ersatzlos gestrichen. Nach dieser Vorschrift entfiel die Preisbindung in bestimmten Fällen schon nach sechs Monaten.
[6] Die Änderungen des WoBindÄndG erfassen gem. Art. 4 Abs. 2 auch die Fälle, in denen die Rückzahlung des öffentlichen Darlehens bereits vor dem Inkrafttreten des Änderungsgesetzes, aber nach dem 31. Dezember 1989 erfolgt war.
[7] II. Den Verfahren liegen folgende Sachverhalte zugrunde:
[8] In zwei Fällen zahlten Eigentümer von Hausgrundstücken noch vor Inkrafttreten des WoBindÄndG die zur Wohnraumbeschaffung zur Verfügung gestellten öffentlichen Darlehen vorzeitig zurück, in einem Fall am 23. April 1990 und in dem anderen am 29. Mai 1990. Die zuständigen Behörden erteilten den Eigentümern den Bescheid, daß hinsichtlich eines Teils der Wohnungen die Eigenschaft "öffentlich gefördert" nach dem WoBindÄndG am 31. Dezember 2000 ende. Hiergegen erhoben die Eigentümer Klage zum Verwaltungsgericht (VG). Nach ihrer Auffassung ist die Überleitungsvorschrift des Art. 4 Abs. 2 WoBindÄndG verfassungswidrig; sie hätten auf die Auskunft behördlicher Bediensteter vertraut, daß die Wohnraumbindung sechs Monate nach Darlehensrückzahlung entfalle.
[9] Das VG hat die Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt und dem BVerfG die Frage vorgelegt, ob Art. 4 Abs. 2 WoBindÄndG mit dem GG vereinbar ist, soweit hierdurch die Anwendung der §§ 16, 16a, 28 WoBindG in der mit Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Fassung bestimmt ist, unter anderem wenn die als Darlehen bewilligten öffentlichen Mittel nach dem 31. Dezember 1989 und vor dem 30. Mai 1990 zurückgezahlt wurden.
[10] Das VG ist der Meinung, die zur Prüfung gestellte Norm verstoße gegen die Eigentumsgarantie aus Art. 14 Abs. 1 GG.
[11] III. rer Erste Senat hat festgestellt, daß ein solcher Verstoß bei verfassungskonformer Auslegung der Norm nicht vorliegt.
[12] 1. Zwar beeinträchtigt die Neuregelung der Wohnungsbindung das von Art. 14 Abs. 1 GG geschützte Eigentumsrecht solcher Eigentümer von Sozialwohnungen, die die Wohnung schon vor Erlaß des WoBindÄndG erworben hatten. Die gesetzlichen Änderungen überschreiten jedoch nicht die Grenzen, die dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers bei seiner Aufgabe gesetzt sind, im Recht des sozialen Wohnungsbaus die verfassungsrechtlich garantierte Freiheit des Eigentümers und das von der öffentlichen Hand mit den Förderungsmitteln verfolgte Ziel in ein ausgewogenes Verhältnis zu setzen. Die Versorgung bedürftiger Bevölkerungsgruppen mit preisgünstigem Wohnraum läßt sich im vorhandenen Fördersystem nur erreichen, wenn Sozialwohnungen über längere Zeit Bindungen unterliegen, so daß ein fester Bestand an derartigen Wohnungen gewährleistet ist.
[13] 2. Die Übergangsvorschrift des Art. 4 Abs. 2 WoBindÄndG ist allerdings nur bei verfassungskonformer Auslegung mit Art. 14 Abs. 1 GG vereinbar. Dabei ist zwischen der sog. unechten und echten Rückwirkung dieser Norm zu unterscheiden:
[14] a) Soweit die Norm eine "unechte Rückwirkung" entfaltet, ist sie mit Art. 14 Abs. 1 GG unter der Voraussetzung vereinbar, daß jedenfalls die zurückgezahlten Darlehensbeträge, die ihren Zweck wegen der Gesetzesänderung nicht erreicht haben, auf Verlangen erstattet werden.
[15] "Unechte Rückwirkung" entfaltet diese Norm in den Fällen, in denen Eigentümer von Sozialwohnungen von der Möglichkeit, das Wohnungsdarlehen zurückzuzahlen, zwar vor der Gesetzesänderung Gebrauch gemacht hatten, die Rechtsfolgen aber auch nach der alten Rechtslage nicht mehr vor dem Inkrafttreten der Neuregelung eingetreten wären. Dazu konnte es – wie in den den Vorlagebeschlüssen zugrundeliegenden Sachverhalten – kommen, weil beispielsweise die Bindungen regelmäßig für eine "Nachwirkungsfrist" von acht Jahren andauerten oder – ausnahmsweise – jedenfalls für sechs Monate aufrechterhalten blieben.
[16] Die Anordnung einer solchen "unechten Rückwirkung" verstößt nicht gegen die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit. Der Senat führt aus, daß die Vorschrift zur Erreichung des gesetzgeberischen Zwecks geeignet und erforderlich ist. Dieser Zweck bestand darin, dem kurzfristig emporgeschnellten Fehlbestand an erschwinglichem Wohnraum entgegenzuwirken und innerhalb dieser generellen Zielsetzung einen Ankündigungseffekt des Gesetzesvorhabens (verstärkte Rückzahlungen der Darlehen mit Blick auf die anstehenden Änderungen) zu vermeiden.
[17] Die Anordnung der "unechten Rückwirkung" stellt allerdings nur dann keine unzumutbare Belastung für den Eigentümer dar, wenn diesem die zur vorzeitigen Tilgung des Darlehens aufgewandten Beträge erstattet werden. Denn ein Verbleib bei der öffentlichen Hand wäre zur Erreichung des mit der Überleitungsvorschrift verfolgten Zwecks, die gehäufte vorzeitige Rückzahlung von Fördermitteln zu vermeiden, nicht erforderlich.
[18] b) Soweit Art. 4 Abs. 2 WoBindÄndG eine "echte Rückwirkung" entfaltet, gebietet eine verfassungskonforme Auslegung, die Norm auf solche Fälle nicht anzuwenden.
[19] Eine "echte Rückwirkung" liegt vor, wenn ein Gesetz nachträglich ändernd in bereits abgewickelte, der Vergangenheit angehörende Tatbestände eingreift. Dies gilt hinsichtlich Art. 4 Abs. 2 WoBindÄndG für die Fälle, in denen vor dem Gesetzesbeschluß (29. März 1990) geleistete Rückzahlungen noch vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Ablösung der Wohnungsbindung und zur Zahlung erhöhter Kostenmiete geführt hatten.
[20] Der Senat führt aus, daß für eine solche "echte Rückwirkung" rechtfertigende Gründe nicht erkennbar sind, eine den Verfassungsverstoß vermeidende verfassungskonforme Auslegung der Norm jedoch möglich ist.
BVerfG, Beschluss vom 15. 10. 1996 – 1 BvL 44/92