Europäischer Gerichtshof
"Richtlinie 91/156/EWG – Umsetzungsfrist – Wirkungen – Abfallbegriff"
1. Ein Stoff ist nicht allein deshalb, weil er unmittelbar oder mittelbar in einen industriellen Produktionsprozeß einbezogen ist, vom Abfallbegriff des Artikels 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 ausgenommen.
2. Nach den Artikeln 5 Absatz 2 und 189 Absatz 3 EWG-Vertrag sowie der Richtlinie 91/156 darf der Mitgliedstaat, an den diese Richtlinie gerichtet ist, während der in dieser festgesetzten Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen, die geeignet sind, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich in Frage zu stellen.

EuGH, Urteil vom 18. 12. 1997 – C-129/96 (lexetius.com/1997,149)

[1] In der Rechtssache C-129/96 betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag vom belgischen Conseil d'État in dem bei diesem anhängigen Rechtsstreit Inter-Environnement Wallonie ASBL gegen Région wallonne vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 5 und 189 EWG-Vertrag sowie des Artikels 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. L 194, S. 47) in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 (ABl. L 78, S. 32) erläßt DER GERICHTSHOF unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten C. Gulmann, H. Ragnemalm und R. Schintgen sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, P. J. G. Kapteyn, J. L. Murray, D. A. O. Edward, J.-P. Puissochet, G. Hirsch, P. Jann und L. Sevón (Berichterstatter), Generalanwalt: F. G. Jacobs Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen -der Inter-Environnement Wallonie ASBL, vertreten durch Rechtsanwalt Jacques Sambon, Brüssel, -der belgischen Regierung, vertreten durch Jan Devadder, Conseiller général im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, Außenhandel und Entwicklungszusammenarbeit, als Bevollmächtigten, -der deutschen Regierung, vertreten durch Ministerialrat Ernst Röder und Oberregierungsrat Bernd Kloke, Bundesministerium für Wirtschaft, als Bevollmächtigte, -der französischen Regierung, vertreten durch Jean-François Dobelle, stellvertretender Direktor in der Direktion für Rechtsfragen des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten, und Romain Nadal, stellvertretender Sekretär für Auswärtige Angelegenheiten im selben Ministerium, als Bevollmächtigte, -der niederländischen Regierung, vertreten durch Adriaan Bos, Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, -der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch John E. Collins, Assistant Treasury Solicitor, als Bevollmächtigten im Beistand von Derrick Wyatt, QC, -der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Maria Condou Durande, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen der Inter-Environnement Wallonie ASBL, vertreten durch Rechtsanwalt Jacques Sambon, der französischen Regierung, vertreten durch Jean-François Dobelle und Romain Nadal, der niederländischen Regierung, vertreten durch Johannes Steven van den Oosterkamp, stellvertretender Rechtsberater im Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten, als Bevollmächtigten, der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch Derrick Wyatt, QC, und der Kommission, vertreten durch Maria Condou Durande, in der Sitzung vom 5. Februar 1997, nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 24. April 1997, folgendes Urteil (1):
[2] 1. Der belgische Conseil d'État hat mit Urteil vom 29. März 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 23. April 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Artikel 5 und 189 EWG-Vertrag sowie des Artikels 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442/EWG des Rates vom 15. Juli 1975 über Abfälle (ABl. L 194, S. 47) in der Fassung der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 (ABl. L 78, S. 32) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[3] 2. Diese Fragen stellen sich in einem Verfahren über eine Nichtigkeitsklage des Vereins mit nichtgewerblichen Zielen Inter-Environnement Wallonie gegen den Erlaß der wallonischen Regionalverwaltung vom 9. April 1992 über giftige oder gefährliche Abfälle (im folgenden: Erlaß).
Die Gemeinschaftsregelung
[4] 3. Die Richtlinie 75/442 soll die nationalen Rechtsvorschriften über die Abfallbeseitigung harmonisieren. Sie wurde durch die Richtlinie 91/156 geändert.
[5] 4. In Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 in der Fassung der Richtlinie 91/156 wird der Begriff "Abfall" wie folgt bestimmt: "Im Sinne dieser Richtlinie bedeutet: a). Abfall": alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muß. Die Kommission erstellt nach dem Verfahren des Artikels 18 spätestens zum 1. April 1993 ein Verzeichnis der unter die Abfallgruppen in Anhang I fallenden Abfälle. Dieses Verzeichnis wird regelmäßig überprüft und erforderlichenfalls nach demselben Verfahren überarbeitet …"
[6] 5. Das in dieser Vorschrift genannte Verzeichnis wurde mit der Entscheidung 94/3/EG der Kommission vom 20. Dezember 1993 über ein Abfallverzeichnis gemäß Artikel 1 Buchstabe a) der Richtlinie 75/442 (ABl. 1994, L 5, S. 15) erlassen. In Nummer 3 der Einleitung zu diesem Verzeichnis wird darauf hingewiesen, daß dieses nicht erschöpfend ist und daß die Aufnahme eines Stoffes darin nur dann von Belang ist, wenn die Definition von Abfall auf diesen Stoff zutrifft.
[7] 6. Nach den Artikeln 9 Absatz 1 und 10 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung bedürfen alle Anlagen oder Unternehmen, die die in Anhang II A oder II B genannten Maßnahmen durchführen, einer Genehmigung durch die zuständige Behörde. Anhang II A betrifft die Beseitigungsverfahren, während Anhang II B die Verwertungsverfahren aufführt.
[8] 7. Artikel 11 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung sieht eine Ausnahme von dieser Genehmigungspflicht vor: "(1) Unbeschadet der Richtlinie 78/319/EWG des Rates vom 20. März 1978 über giftige und gefährliche Abfälle [ABl. L 84, S. 43], zuletzt geändert durch die Akte über den Beitritt Spaniens und Portugals, können von der Genehmigungspflicht des Artikels 9 bzw. Artikels 10 befreit werden: a) die Anlagen oder Unternehmen, die die Beseitigung ihrer eigenen Abfälle am Entstehungsort sicherstellen, und b) die Anlagen oder Unternehmen, die Abfälle verwerten. Diese Befreiung gilt nur, -wenn die zuständigen Behörden für die verschiedenen Arten von Tätigkeiten jeweils allgemeine Vorschriften zur Festlegung der Abfallarten und -mengen sowie der Bedingungen erlassen haben, unter denen die Tätigkeit von der Genehmigungspflicht befreit werden kann, und -wenn die Art oder Menge der Abfälle und die Verfahren zu ihrer Beseitigung oder Verwertung so beschaffen sind, daß die Bedingungen des Artikels 4 eingehalten werden. (2) Die in Absatz 1 genannten Anlagen oder Unternehmen müssen bei den zuständigen Behörden gemeldet sein. …"
[9] 8. In Artikel 4 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung heißt es: "Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, daß die Abfälle verwertet oder beseitigt werden, ohne daß die menschliche Gesundheit gefährdet wird und ohne daß Verfahren oder Methoden verwendet werden, welche die Umwelt schädigen können, insbesondere ohne daß -Wasser, Luft, Boden und die Tier- und Pflanzenwelt gefährdet werden; -Geräusch- oder Geruchsbelästigungen verursacht werden; -die Umgebung und das Landschaftsbild beeinträchtigt werden. …"
[10] 9. Gemäß Artikel 2 Absatz 1 Unterabsatz 1 der Richtlinie 91/156 mußten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Rechts- und Verwaltungsvorschriften erlassen, um dieser Richtlinie spätestens zum 1. April 1993 nachzukommen, und hiervon unverzüglich die Kommission unterrichten. Unterabsatz 2 dieses Absatzes lautet: "Wenn die Mitgliedstaaten Vorschriften nach Unterabsatz 1 erlassen, nehmen sie in den Vorschriften selbst oder durch einen Hinweis bei der amtlichen Veröffentlichung auf diese Richtlinie Bezug. Die Mitgliedstaaten regeln die Einzelheiten der Bezugnahme."
[11] 10. Die Richtlinie 91/689/EWG des Rates vom 12. Dezember 1991 über gefährliche Abfälle (ABl. L 377, S. 20) verweist in Artikel 1 Absatz 3 auf die Definition des Begriffes "Abfälle" in der Richtlinie 75/442 und bestimmt in Artikel 1 Absatz 4 den Begriff "gefährliche Abfälle".
[12] 11. Artikel 3 Absätze 1 und 2 der Richtlinie 91/689 bestimmt: "(1) Die Abweichung gemäß Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe a) der Richtlinie 75/442/EWG von der Genehmigungspflicht bei Anlagen oder Unternehmen, die ihre Abfälle selbst beseitigen, gilt nicht für gefährliche Abfälle im Sinne der vorliegenden Richtlinie. (2) Gemäß Artikel 11 Absatz 1 Buchstabe b) der Richtlinie 75/442/EWG kann ein Mitgliedstaat für Anlagen oder Unternehmen, die die von der vorliegenden Richtlinie erfaßten Abfälle verwerten, eine Ausnahme von den Bestimmungen des Artikels 10 jener Richtlinie vorsehen, -wenn dieser Mitgliedstaat allgemein Vorschriften erläßt, in denen Art und Menge der Abfälle aufgeführt und spezifische Auflagen (Grenzwerte für die in den Abfällen enthaltenen gefährlichen Stoffe, Emissionsgrenzwerte, Art der Tätigkeit) und die sonstigen für verschiedene Verwertungsverfahren geltenden Vorschriften festgelegt sind, und -wenn die Art oder Menge der Abfälle und die Verfahren zu ihrer Verwertung so beschaffen sind, daß die Bedingungen des Artikels 4 der Richtlinie 75/442/EWG eingehalten werden."
[13] 12. Durch Artikel 11 der Richtlinie 91/689 wurde die Richtlinie 78/319/EWG des Rates vom 20. März 1978 über giftige und gefährliche Abfälle (ABl. L 84, S. 43) zum 12. Dezember 1993 aufgehoben. Durch Artikel 1 der Richtlinie 94/31/EG des Rates vom 27. Juni 1994 zur Änderung der Richtlinie 91/689 (ABl. L 168, S. 28) wurde die Aufhebung der Richtlinie 78/319 jedoch auf den 27. Juni 1995 verschoben.
Die nationale Regelung
[14] 13. Das Dekret des Conseil régional wallon vom 5. Juli 1985 über Abfälle in der Fassung des Dekrets vom 25. Juli 1991 (im folgenden: Dekret) definiert Abfälle in Artikel 3 Nummer 1 wie folgt: "Abfälle: alle Stoffe oder Gegenstände, die unter die in Anhang I aufgeführten Gruppen fallen und deren sich ihr Besitzer entledigt, entledigen will oder entledigen muß."
[15] 14. Artikel 5 § 1 des Erlasses sieht vor: "Die Ansiedlung und der Betrieb einer speziellen Anlage für die Zusammenstellung, Vorbehandlung, Beseitigung oder Verwertung von giftigen oder gefährlichen Abfällen, die nicht in einen industriellen Produktionsprozeß eingegliedert ist …, bedürfen einer Genehmigung."
[16] 15. In der Präambel des Erlasses wird insbesondere auf das Dekret, auf die Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung und auf die Richtlinien 78/319 und 91/689 Bezug genommen. Nach seinem Artikel 86 tritt der Erlaß am Tag seiner Veröffentlichung im Moniteur belge in Kraft. Diese Veröffentlichung erfolgte am 23. Juni 1992.
Sachverhalt des Ausgangsverfahrens
[17] 16. Die Inter-Environnement Wallonie (im folgenden: Klägerin) beantragte mit Klageschrift, die am 21. August 1992 beim belgischen Conseil d'État eingereicht wurde, die Nichtigerklärung aller, hilfsweise einzelner Vorschriften des Erlasses.
[18] 17. Der Conseil d'État hat in seinem Vorlageurteil bereits über fünf der sechs von der Klägerin geltend gemachten Klagegründe entschieden und bestimmte Vorschriften des Erlasses für nichtig erklärt.
[19] 18. Mit dem verbliebenen Klagegrund macht die Klägerin geltend, Artikel 5 § 1 des Erlasses verstoße insbesondere gegen Artikel 11 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung und Artikel 3 der Richtlinie 91/689, da er die Ansiedlung und den Betrieb einer speziellen Anlage für die Zusammenstellung, Vorbehandlung, Beseitigung oder Verwertung von giftigen oder gefährlichen Abfällen von der Genehmigungsregelung ausnehme, wenn die Anlage "in einen industriellen Produktionsprozeß eingegliedert" sei.
[20] 19. Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, Artikel 11 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung in Verbindung mit Artikel 3 der Richtlinie 91/689 lasse eine Ausnahme von der Genehmigungspflicht für Unternehmen, die Abfälle verwerteten, nur unter den dort festgelegten Bedingungen und nur dann zu, wenn diese Unternehmen bei den zuständigen Behörden gemeldet seien.
[21] 20. Der Conseil d'État vertritt hierzu die Auffassung, daß Artikel 5 § 1 des Erlasses tatsächlich gegen Artikel 11 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung in Verbindung mit Artikel 3 der Richtlinie 91/689 verstoße.
[22] 21. Er stellt fest, daß der Erlaß zu einem Zeitpunkt ergangen sei, zu dem die in der Richtlinie gesetzte Umsetzungsfrist noch nicht abgelaufen gewesen sei, und fragt sich, inwieweit ein Mitgliedstaat während dieser Zeit eine Handlung vornehmen dürfe, die der Richtlinie widerspreche. Der von der Klägerin vertretenen Ansicht, daß diese Frage zu verneinen sei, stehe der Grundsatz entgegen, daß bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Handlung auf den Zeitpunkt ihrer Vornahme abzustellen sei.
[23] 22. Mit dem zweiten Teil ihres Klagegrundes macht die Klägerin geltend, daß der in Artikel 5 § 1 des Erlasses vorgesehene Ausschluß dem Dekret widerspreche, das keine Ausnahme für Maßnahmen vorsehe, die in einen industriellen Prozeß eingegliedert seien.
[24] 23. Hierzu stellt der Conseil d'État fest, daß mit Artikel 3 Nummer 1 des Dekrets und mit dem Anhang, auf den dort verwiesen werde, eine getreue Umsetzung der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung beabsichtigt sei. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergebe sich zwar, daß Abfälle alle Stoffe oder Gegenstände seien, deren sich der Besitzer entledige oder zu entledigen habe, ohne deren wirtschaftliche Wiederverwendung durch andere Personen ausschließen zu wollen, doch könne anhand dieser Rechtsprechung nicht die Frage entschieden werden, ob Abfall im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung auch einen Stoff oder Gegenstand im Sinne von Artikel 1 dieser Richtlinie umfasse, der unmittelbar oder mittelbar in einen industriellen Produktionsprozeß einbezogen sei.
[25] 24. Demgemäß hat der Conseil d'État dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
[26] 1. Verbieten es die Artikel 5 und 189 EWG-Vertrag, daß die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist der Richtlinie 75/442/EWG vom 15. Juli 1975 über Abfälle in der durch die Richtlinie 91/156/EWG vom 18. März 1991 geänderten Fassung eine Bestimmung erlassen, die dieser Richtlinie widerspricht? Verbieten es diese Vertragsbestimmungen, daß die Mitgliedstaaten eine Rechtsvorschrift erlassen und in Kraft setzen, die sich als Umsetzung dieser Richtlinie darstellt, deren Bestimmungen jedoch gegen die Vorgaben dieser Richtlinie zu verstoßen scheinen?
[27] 2. Ist ein in Anhang I der Richtlinie 91/156/EWG des Rates vom 18. März 1991 zur Änderung der Richtlinie 75/442/EWG über Abfälle genannter Stoff, der unmittelbar oder mittelbar in einen industriellen Produktionsprozeß einbezogen ist, Abfall im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a dieser Richtlinie?
Zur zweiten Frage
[28] 25. Die zweite Frage des vorlegenden Gerichts, die zuerst zu prüfen ist, geht im wesentlichen dahin, ob ein Stoff allein deshalb, weil er unmittelbar oder mittelbar in einen industriellen Produktionsprozeß einbezogen ist, vom Abfallbegriff des Artikels 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung ausgenommen ist.
[29] 26. Aus dem Wortlaut von Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung ergibt sich zunächst, daß der Anwendungsbereich des Begriffes "Abfall" von der Bedeutung des Ausdrucks "sich entledigen" abhängt.
[30] 27. Sodann ergibt sich aus der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung, insbesondere aus den Artikeln 4 und 8 bis 12 sowie den Anhängen II A und II B, daß dieser Ausdruck sowohl die Beseitigung als auch die Verwertung eines Stoffes oder Gegenstands umfaßt.
[31] 28. Wie der Generalanwalt in den Nummern 58 bis 61 seiner Schlußanträge ausgeführt hat, zeigen das Verzeichnis der Abfallgruppen in Anhang I der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung und die in den Anhängen II A und II B dieser Richtlinie aufgeführten Beseitigungs- und Verwertungsverfahren, daß der Abfallbegriff grundsätzlich keine Art von Rückständen, industriellen Nebenerzeugnissen oder sonstigen aus Produktionsprozessen stammenden Stoffen ausnimmt. Für diese Feststellung spricht auch das von der Kommission mit der Entscheidung 94/3 aufgestellte Abfallverzeichnis.
[32] 29. In diesem Zusammenhang ist erstens klarzustellen, daß die Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung, wie sich insbesondere aus ihren Artikeln 9 bis 11 ergibt, nicht nur für die Beseitigung und Verwertung von Abfällen durch darauf spezialisierte Unternehmen, sondern auch für die Beseitigung und Verwertung von Abfällen am Entstehungsort durch das Unternehmen gilt, das sie produziert hat.
[33] 30. Zweitens müssen die Abfälle nach Artikel 4 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung zwar verwertet oder beseitigt werden, ohne daß die menschliche Gesundheit gefährdet wird und ohne daß Verfahren oder Methoden verwendet werden, die die Umwelt schädigen können; die Richtlinie enthält aber keinen Hinweis darauf, daß sie nicht die Beseitigungs- oder Verwertungsverfahren, die Bestandteil eines industriellen Produktionsprozesses sind, betrifft, wenn diese keine Gefahr für die menschliche Gesundheit oder die Umwelt darstellen.
[34] 31. Schließlich hat der Gerichtshof bereits entschieden, daß der Begriff "Abfall" im Sinne von Artikel 1 der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung nicht so zu verstehen ist, daß er Stoffe und Gegenstände, die zur wirtschaftlichen Wiederverwendung geeignet sind, nicht erfaßt (vgl. Urteile vom 28. März 1990 in der Rechtssache C-359/88, Zanetti u. a., Slg. 1990, I-1509, Randnrn. 12 und 13, vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-422/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-1097, Randnrn. 22 und 23, und vom 25. Juni 1997 in den Rechtssachen C-304/94, C-330/94, C-342/94 und C-224/95, Tombesi u. a., Slg. 1997, I-3561, Randnrn. 47 und 48).
[35] 32. Aus alledem folgt, daß Stoffe, die in einen Produktionsprozeß einfließen, Abfälle im Sinne von Artikel 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung sein können.
[36] 33. Diese Schlußfolgerung läßt die Tatsache unberührt, daß, wie die belgische, die deutsche und die niederländische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs zutreffend vorgetragen haben, zwischen der Verwertung von Abfällen im Sinne der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung und der gewöhnlichen industriellen Behandlung von Produkten, die keine Abfälle sind, unterschieden werden muß, wie schwierig diese Unterscheidung auch sein mag.
[37] 34. Daher ist auf die zweite Frage zu antworten, daß ein Stoff nicht allein deshalb, weil er unmittelbar oder mittelbar in einen industriellen Produktionsprozeß einbezogen ist, vom Abfallbegriff des Artikels 1 Buchstabe a der Richtlinie 75/442 in der geänderten Fassung ausgenommen ist.
Zur ersten Frage
[38] 35. Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht im wesentlichen wissen, ob die Artikel 5 und 189 EWG-Vertrag es verbieten, daß die Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist der Richtlinie 91/156 Maßnahmen ergreifen, die dieser Richtlinie widersprechen.
[39] 36. Nach Ansicht der Klägerin ergibt sich aus dem Vorrang des Gemeinschaftsrechts und aus Artikel 5 des Vertrages, daß auch dann, wenn sich ein Mitgliedstaat dafür entscheide, eine Gemeinschaftsrichtlinie vor Ablauf der darin festgesetzten Frist umzusetzen, diese Umsetzung mit der Richtlinie übereinstimmen müsse. Wenn sich die Région wallonne entschieden habe, die Richtlinie 91/156 am 9. April 1992 umzusetzen, hätte sie ihr daher auch nachkommen müssen.
[40] 37. Die Kommission schließt sich dieser Meinung an und trägt vor, daß es den Mitgliedstaaten nach den Artikeln 5 und 189 des Vertrages untersagt sei, während der Umsetzungsfrist der Richtlinie 91/156 eine mit dieser Richtlinie unvereinbare Bestimmung zu erlassen. Die Frage, ob eine bestimmte Maßnahme speziell auf die Umsetzung dieser Richtlinie gerichtet sei, sei dabei irrelevant.
[41] 38. Die belgische und die französische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs sind dagegen der Ansicht, daß es den Mitgliedstaaten bis zum Ablauf der Umsetzungsfrist einer Richtlinie freistehe, mit dieser Richtlinie nicht übereinstimmende Vorschriften zu erlassen. Die Regierung des Vereinigten Königreichs fügt jedoch hinzu, daß es einem Mitgliedstaat nach den Artikeln 5 und 189 des Vertrages untersagt sei, Maßnahmen zu erlassen, die zur Folge hätten, ihm die ordnungsgemäße Umsetzung der Richtlinie unmöglich zu machen oder ungewöhnlich zu erschweren.
[42] 39. Die niederländische Regierung vertritt die Ansicht, daß der Erlaß einer Richtlinie zur Folge habe, daß die Mitgliedstaaten nichts mehr unternehmen dürften, was die Erreichung des in der Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erschweren könnte. Jedoch sei kein Verstoß eines Mitgliedstaats gegen die Artikel 5 und 189 des Vertrages anzunehmen, wenn es, wie im vorliegenden Fall, nicht sicher sei, daß die nationalen Vorschriften der betreffenden Richtlinie zuwiderliefen.
[43] 40. Zunächst ist die Pflicht eines Mitgliedstaats, alle zur Erreichung des durch eine Richtlinie vorgeschriebenen Zieles erforderlichen Maßnahmen zu treffen, eine durch Artikel 189 Absatz 3 des Vertrages und durch die Richtlinie selbst auferlegte zwingende Pflicht (vgl. Urteile vom 1. Februar 1977 in der Rechtssache 51/76, Verbond van Nederlandse Ondernemingen, Slg. 1977, 113, Randnr. 22, vom 26. Februar 1986 in der Rechtssache 152/84, Marshall, Slg. 1986, 723, Randnr. 48, und vom 24. Oktober 1996 in der Rechtssache C-72/95, Kraaijeveld u. a., Slg. 1996, I-5403, Randnr. 55). Diese Pflicht, alle allgemeinen oder besonderen Maßnahmen zu treffen, obliegt allen Trägern öffentlicher Gewalt in den Mitgliedstaaten einschließlich der Gerichte im Rahmen ihrer Zuständigkeiten (vgl. Urteil vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-106/89, Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Randnr. 8, und Urteil Kraaijeveld u. a., Randnr. 55).
[44] 41. Sodann werden nach Artikel 191 Absatz 2 EWG-Vertrag, der auf den im Ausgangsverfahren maßgebenden Zeitraum Anwendung findet, die "Richtlinien und Entscheidungen … denjenigen, für die sie bestimmt sind, bekanntgegeben und werden durch diese Bekanntgabe wirksam". Aus dieser Vorschrift ergibt sich, daß eine Richtlinie gegenüber dem Mitgliedstaat, an den sie gerichtet ist, schon vom Zeitpunkt ihrer Bekanntgabe an Rechtswirkungen entfaltet.
[45] 42. Im vorliegenden Fall ist in der Richtlinie 91/156 entsprechend einer gängigen Praxis eine Frist festgelegt, bei deren Ablauf die Rechts- und Verwaltungsvorschriften, die erforderlich sind, um der Richtlinie nachzukommen, in den Mitgliedstaaten in Kraft getreten sein müssen.
[46] 43. Da diese Frist den Mitgliedstaaten insbesondere die für den Erlaß der Umsetzungsmaßnahmen erforderliche Zeit geben soll, kann ihnen kein Vorwurf gemacht werden, wenn sie die Richtlinie nicht vor Ablauf dieser Frist in ihre Rechtsordnung umsetzen.
[47] 44. Gleichwohl obliegt es den Mitgliedstaaten während der Umsetzungsfrist, die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, daß das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel bei Ablauf dieser Frist erreicht wird.
[48] 45. Die Mitgliedstaaten sind zwar nicht verpflichtet, diese Maßnahmen vor Ablauf der Umsetzungsfrist zu erlassen, doch ergibt sich aus Artikel 5 Absatz 2 in Verbindung mit Artikel 189 Absatz 3 des Vertrages und aus der Richtlinie selbst, daß sie während dieser Frist den Erlaß von Vorschriften unterlassen müssen, die geeignet sind, das in dieser Richtlinie vorgeschriebene Ziel ernstlich in Frage zu stellen.
[49] 46. Es ist Sache des nationalen Gerichts, zu beurteilen, ob dies bei den nationalen Vorschriften, deren Rechtmäßigkeit es zu prüfen hat, der Fall ist.
[50] 47. Bei dieser Beurteilung hat das nationale Gericht insbesondere zu prüfen, ob sich die betreffenden Vorschriften als eine vollständige Umsetzung der Richtlinie darstellen, und es hat die konkreten Folgen der Anwendung dieser mit der Richtlinie nicht übereinstimmenden Vorschriften und ihrer Geltungsdauer zu untersuchen.
[51] 48. Stellen sich die betreffenden Vorschriften z. B. als eine endgültige und vollständige Umsetzung der Richtlinie dar, so könnte der Umstand, daß sie mit dieser nicht übereinstimmen, vermuten lassen, daß das in der Richtlinie vorgeschriebene Ziel nicht fristgerecht erreicht werden wird, wenn eine rechtzeitige Änderung der Vorschriften nicht möglich ist.
[52] 49. Umgekehrt könnte das nationale Gericht die einem Mitgliedstaat zustehende Befugnis in Betracht ziehen, vorläufige Vorschriften zu erlassen oder die Richtlinie schrittweise durchzuführen. In diesen Fällen würde die mangelnde Übereinstimmung nationaler Übergangsvorschriften mit der Richtlinie oder die fehlende Umsetzung bestimmter Vorschriften der Richtlinie das darin vorgeschriebene Ziel nicht zwangsläufig in Frage stellen.
[53] 50. Daher ist auf die erste Frage zu antworten, daß nach den Artikeln 5 Absatz 2 und 189 Absatz 3 EWG-Vertrag sowie der Richtlinie 91/156 der Mitgliedstaat, an den diese Richtlinie gerichtet ist, während der in dieser festgesetzten Umsetzungsfrist keine Vorschriften erlassen darf, die geeignet sind, die Erreichung des in dieser Richtlinie vorgeschriebenen Zieles ernstlich in Frage zu stellen.
Kosten
[54] 51. Die Auslagen der belgischen, der deutschen, der französischen und der niederländischen Regierung sowie der Regierung des Vereinigten Königreichs und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
1: Verfahrenssprache: Französisch