Erfolglose Verfassungsbeschwerden im Zusammenhang mit dem kommunalen Wahlrecht für "Unionsbürger"

BVerfG, Mitteilung vom 27. 2. 1997 – 14/97 (lexetius.com/1997,559)

[1] Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat in zwei Fällen Verfassungsbeschwerden deutscher Staatsangehöriger im Zusammenhang mit dem kommunalen Wahlrecht für Gemeindebürger, die die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates der Europäischen Union besitzen ("Unionsbürger"), nicht zur Entscheidung angenommen.
[2] I. Auf der Grundlage von Art. 8b Abs. 1 das Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (neu gefaßt durch den Vertrag über die Europäische Union von Februar 1992) erließ der Rat der EG im Dezember 1994 eine Richtlinie über die Einzelheiten der Ausübung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für "Unionsbürger" mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Danach gelten für alle diese "Unionsbürger" bei den Kommunalwahlen dieselben Bedingungen wie für die Angehörigen des betreffenden Mitgliedstaates.
[3] II. Zu den beiden Verfassungsbeschwerde-Verfahren:
[4] 1. Das Land Baden-Württemberg setzte die EG-Richtlinie 1995 durch Änderung seiner Landesverfassung sowie der Gemeinde- und Landkreisordnung um. Hiergegen erhob ein in Mannheim wohnender deutscher Staatsangehöriger Verfassungsbeschwerde.
[5] Die Gesetzesänderungen seien verfassungswidrig, weil sie über zwingende gemeinschaftsrechtliche und grundgesetzliche Regelungen (vgl. Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG) hinausgingen. Insbesondere hat er gerügt, daß den "Unionsbürgern" neben dem aktiven und passiven Wahlrecht auch das Recht gewährt wird, an Abstimmungen in der Gemeinde teilzunehmen. Die Neuregelung verletze sein Grundrecht auf Gleichheit der Wahl (Art. 3 Abs. 1 GG).
[6] Diese Verfassungsbeschwerde ist nach der Entscheidung der 3. Kammer des Zweiten Senats unzulässig, weil sie im Falle des Obsiegens des Beschwerdeführers nur zu einer Veränderung der Rechtslage zum Nachteil anderer führen könnte. Der Beschwerdeführer hat es nicht als möglich dargelegt, selbst in Grundrechten verletzt zu sein. Zur Begründung heißt es unter anderem:
[7] Der Beschwerdeführer ist nicht in seinem Grundrecht auf Gleichheit der Wahl verletzt. Dieser Grundsatz will die gleiche Gewichtung der Stimmen aller Wahlberechtigten erreichen, gewährt jedoch kein subjektives Recht auf Ausschließung anderer von der Wahl. Dadurch, daß nach dem Landesrecht Baden-Württemberg auch "Unionsbürger" ohne Antragstellung das aktive Wahlrecht in Kommunen erhalten und für das Amt des Bürgermeisters kandidieren können, verliert der Beschwerdeführer nicht sein Recht, daß seine Stimme bei der Wahl ebenso mitbewertet wird wie die der anderen Wähler. Dasselbe gilt für sein Recht auf Teilnahme an einer allgemeinen Wahl. Danach ist es dem Gesetzgeber verboten, bestimmte Bevölkerungsgruppen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen. Das sich hieraus ergebende Recht, daß grundsätzlich jeder sein Wahlrecht in möglichst gleicher Weise soll ausüben können, wird nicht dadurch verletzt, daß anderen die Teilnahme an der Wahl gestattet wird.
[8] Wie das BVerfG bereits entschieden hat (BVerfGE 89, 155 (179f.)), gibt es nach der Verfassung kein subjektives Recht, sich bei der Ausübung des aktiven oder passiven Wahlrechts durch eine wahlrechtliche "Konkurrentenklage" gegen nichtdeutsche Wahlbewerber oder Wahlberechtigte wehren zu können. Dies gilt auch für das durch die angegriffenen Bestimmungen den "Unionsbürgern" gewährte Recht, an Abstimmungen in der Gemeinde teilzunehmen.
[9] Die Kammer führt weiter aus, daß auch die im Vergleich zu anderen Bundesländern unterschiedliche Ausgestaltung des kommunalen Wahlrechts für Ausländer in BadenWürttemberg keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes bedeutet.
BVerfG, Beschluss vom 8. 1. 1997 – 2 BvR 2862/95
[10] 2. Das Land Hessen setzte die EG-Richtlinie 1996 um und änderte seine Gemeindeordnung. Nach dieser Neuregelung sind unter anderem "Unionsbürger" bei Kommunalwahlen nicht nur wahlberechtigt, sie behalten zugleich ihr Recht, als Ausländerbeiräte gewählt zu werden oder dessen Mitglieder zu wählen. Nach der Hessischen Gemeindeordnung vertritt der Ausländerbeirat die Interessen der ausländischen Gemeindeeinwohner und berät die Organe der Gemeinde in allen Angelegenheiten, die ausländische Einwohner betreffen.
[11] Hiergegen erhob ein in Wiesbaden wohnender deutscher Staatsangehöriger Verfassungsbeschwerde. Durch das "Plus" an Wahlrechten zugunsten der "Unionsbürger" sei der Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verletzt.
[12] Auch diese Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, weil der Beschwerdeführer die Möglichkeit, in einem seiner Grundrechte verletzt zu sein, nicht dargetan hat. Die 3. Kammer des Zweiten Senats stellt über die Begründung des Beschlusses vom 8. Januar 1997 (s. o. Ziff. II. 1) hinaus unter anderem fest: Es erscheint ausgeschlossen, daß das Recht des Beschwerdeführer, durch Wahlen und Abstimmungen an der demokratischen Legitimierung der in den Gemeinden ausgeübten Staatsgewalt mitzuwirken, durch die – im Hinblick auf die Ausländerbeiräte weitergehenden – Rechte von "Unionsbürgern" beeinträchtigt ist. Die Wahrnehmungvon Unterrichtungs-, Vorschlags- und Anhörungsrechten durch die Ausländerbeiräte stellt eine rein beratende Tätigkeit dar, durch die keine Staatsgewalt ausgeübt wird. Ein Ausschluß von Unionsbürgern von den Wahlen zu den Ausländerbeiräten führe zu keiner Besserstellung des Beschwerdeführer.
BVerfG, Beschluss vom 19. 2. 1997 – 2 BvR 2621/95