Erfolglose Verfassungsbeschwerde betreffend LPG-Altschulden

BVerfG, Mitteilung vom 8. 4. 1997 – 30/97 (lexetius.com/1997,568)

[1] Der Erste Senat des BVerfG hat mit Urteil vom 8. April 1997 entschieden, daß die im Zusammenhang mit LPG-Altschulden erhobene Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen wird. Wegen des Sachverhalts wird auf die Pressemitteilungen Nr. 29/97 vom 4. April 1997 und Nr. 4/97 vom 24. Januar 1997 Bezug genommen.
[2] I. Nach der Entscheidung des Ersten Senats ist die gegen das Urteil des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 26. Oktober 1993 erhobene Verfassungsbeschwerde unbegründet. Sie verstößt nicht gegen die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Grundrechte.
[3] Zur Begründung heißt es unter anderem:
[4] Die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG wird durch die Feststellung des BGH, der Deutschen Genossenschaftsbank (DG Bank) stehe gegen die LPG eine Forderung aus einem Kreditverhältnis zu, nicht berührt.
[5] Schulden aus einem Kreditverhältnis belasten zwar das Vermögen, begründen jedoch keine eigentumsrechtliche Position im Sinne dieses Grundrechts.
[6] Ein Eigentumseingriff kommt auch unter dem Gesichtspunkt der erdrosselnden Wirkung nicht in Betracht. Die Pflicht der LPG, ihre Altkredite zu tilgen, hat keine derartige Wirkung. Die Aufrechterhaltung der Altschulden ging mit Entschuldungsmöglichkeiten einher, die gerade den wirtschaftlichen Ruin von altschuldenbelasteten LPG verhindern sollten.
[7] II. Auch das Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG wird von der Entscheidung des BGH nicht berührt. Die Altschuldenregelung hat keine objektiv berufsregelnde Tendenz. Sie begründet keine speziell auf den Beruf des Landwirts bezogenen Pflichten. Die Grundentscheidung des Gesetzgebers, in der DDR entstandene Schuldverhältnisse bestehen zu lassen, bezieht sich vielmehr auf sämtliche Wirtschaftszweige und darüber hinaus auch auf alle individuellen Darlehen außerhalb des staatswirtschaftlichen Bereichs. Die Entschuldungsregelungen sind zwar auf LPG bezogen. Sie modifizieren aber nur die Kreditverpflichtungen, verwandeln sie jedoch nicht in Berufsregelungen.
[8] III. Die angegriffene BGH-Entscheidung verstößt nicht gegen das Grundrecht der freien Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG).
[9] 1. Der Schutzbereich dieses Grundrechts ist allerdings berührt.
[10] Art. 2 Abs. 1 GG umfaßt im Rahmen der allgemeinen Handlungsfreiheit auch die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit. Insoweit schützt er den Einzelnen unter anderem davor, daß die öffentliche Gewalt bereits abgeschlossene Verträge nachträglich einer Änderung unterzieht.
[11] In dieses Recht greift die Feststellung des BGH ein. Denn entgegen der Auffassung der Bundesregierung, die planwirtschaftlichen Kredite unterschieden sich nicht wesentlich von marktwirtschaftlichen, werden die LPG damit an Verträge gebunden, die mittlerweile eine andere rechtliche Bedeutung erlangt haben. Das sozialistische Kreditverhältnis war vor allem durch das staatliche Interesse an der Planerfüllung bestimmt. Die Kreditaufnahme ging nur in geringem Maß auf einen von der LPG selbst bestimmten Geldbedarf zurück, sondern war wesentlich durch staatliche Vorgaben bedingt, die eine Verselbständigung der LPG gerade verhindern wollten.
[12] Mit der Wende wurde der Kreditvertrag aus dem Bedingungsverhältnis von Kreditaufnahme und Planerfüllung einschließlich Gewinnabführung und einer Investitionspflicht für betriebsfremde Vorhaben gelöst. Im Verhältnis zur Bank blieben vielmehr nur die reinen Kreditschulden übrig, ohne daß deren Ursachen noch eine Rolle spielten. Außerdem waren die Kredite für die private, in die staatliche Wirtschaftslenkung nicht eingebundene Bank nicht mehr ein Mittel der Durchsetzung des staatlichen Plans, sondern der Gewinnerzielung.
[13] 2. Dieser Eingriff in den Schutzbereich von Art. 2 Abs. 1 GG ist aber verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Eine gerichtliche Entscheidung, die die Vertragsfreiheit beeinträchtigt, verletzt Art. 2 Abs. 1 GG dann nicht, wenn sie sich auf eine gesetzliche Grundlage stützen kann, die ihrerseits verfassungsgemäß ist und durch das jeweilige Gericht auch in verfassungsgemäßer Weise ausgelegt und angewendet worden ist. Diesen Anforderungen entspricht die BGH-Entscheidung.
[14] a) Der Senat führt aus, daß die gesetzlichen Regelungen, die der BGH-Entscheidung zugrunde liegen, eine ausreichende gesetzliche Grundlage für den Eingriff darstellen. Etwas anderes könnte allenfalls gelten, wenn – wie der Beschwerdeführer meint – die Altschulden mit dem Untergang der DDR erloschen wären. Dies ist aber nicht der Fall. Vielmehr ist bei einem Verfassungswechsel die Kontinuität der nicht unmittelbar verfassungsrechtlich begründeten Rechtsbeziehungen die Regel, während ihre Aufhebung ausdrücklich angeordnet wird. Auch die grundlegenden Unterschiede in den Rechtsordnungen der DDR und der BRD fahren zu keinem anderen Ergebnis. Denn die Kreditbeziehungen der LPG und der Bank für Landwirtschaft und Nahrungsgüterwirtschaft (BLN) waren – auch wenn sie in der BRD so nicht hätten entstehen können – nicht Ausdruck des besonderen Unrechtsgehalts der früheren Ordnung der DDR. b) Auch die mit dem Fortbestand der Altschulden stehenden Entschuldungsregelungen genügen den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts.
[15] Zwar verlangt dieser Vorbehalt, daß alle wesentlichen mit einem Grundrechtseingriff verbundenen Regelungen vom Gesetzgeber, also vom Parlament selbst entschieden und nicht anderen Normgebern überlassen werden. Hinsichtlich der Altschulden gehören zu diesen wesentlichen Regelungen die Voraussetzungen, unter denen LPG eine Entschuldung erhalten können, und der Umfang, in dem diese gewährt wird. Im vorliegenden Fall beschränkt sich das Gesetz (Art. 25 Abs. 3 S. 3 Einigungsvertrag = Treuhand-Entschuldung; § 16 Abs. 3 DMBilG = bilanzielle Entlastung) auf die Ermöglichung der Entschuldungen. Dagegen sind Voraussetzungen, Umfang und Verfahren lediglich in zwei nicht veröffentlichten Arbeitsanweisungen des Bundesministers der Finanzen geregelt. Dies führt aber unter den besonderen Bedingungen der Wiedervereinigung nicht zur Verfassungswidrigkeit der Altschuldenregelung. Die Form der Regelung kann verfassungsrechtlich vielmehr ausnahmsweise hingenommen werden, weil zum Zeitpunkt der Gesetzgebung nicht sogleich zu übersehen war, welcher Entschuldungsbedarf bestand und wieviel Mittel dafür zur Verfügung gestellt werden konnten.
[16] c) Der Senat führt aus, daß das vom Gesetzgeber mit der Altschuldenregelung verfolgte Ziel verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden ist. Er durfte bei der Transformation der staatlichen Planwirtschaft in die freie Marktwirtschaft eine zukunftsbezogene Lösung wählen, die nicht vom Gedanken des rückwirkenden Ausgleichs für alle im Wirtschaftssystem der DDR erlittenen Einbußen geleitet war. Ob der Gesetzgeber dabei die zweckmäßigste Lösung gewählt hat, ist vom BVerfG nicht zu entscheiden. Das gilt auch im Zusammenhang mit der von dem Sachverständigen in der mündlichen Verhandlung vertretenen Ansicht, daß es ökonomisch sinnvoller und finanziell günstiger gewesen wäre, mit Ausnahme externer Forderungen alle Guthaben und Forderungen, die während der sozialistischen Staatsverwaltungswirtschaft entstanden waren, zu verrechnen und die Differenz aus öffentlichen Mitteln zu decken. Die Verfassung hätte eine solche Lösung zugelassen, schreibt sie aber nicht als einzig verfassungsgemäße vor.
[17] d) Die vom Gesetzgeber gewählte Lösung der Teilentschuldung stellt unter der Voraussetzung, daß die bilanzielle Entlastung ihr Ziel erreicht, keine unzumutbare Belastung der LPG und ihrer Rechtsnachfolger dar.
[18] Allerdings war der Gesetzgeber zu einer gewissen Kompensation verpflichtet. Beim Fehlen jeglicher Entlastung wäre die Beschränkung der wirtschaftlichen Handlungsfreiheit unverhältnismäßig gewesen. Aus der Aufrechterhaltung der von marktwirtschaftlichen wesentlich verschiedenen planwirtschaftlichen Kredite ergeben sich Belastungen, die zusammen mit den weiteren Maßnahmen die Lebensfähigkeit vieler LPG bedrohten, ohne daß diese die Möglichkeit gehabt hätten, die Schwierigkeiten aufgrund eigener Anstrengung zu überwinden.
[19] Der Senat legt dar, daß die Teilentschuldung in Form der Treuhand-Entschuldung und der bilanziellen Entlastung grundsätzlich ausreichte, die Verfassungsmäßigkeit der Altschuldenregelung zu sichern. Der Gesetzgeber durfte die Entschuldungsmaßnahmen auch auf sanierungsfähige LPG beschränken. Die knappen Entschuldungsmittel mußten nicht an solche LPG fließen, die auch ohne ihre Altschulden nicht überlebensfähig gewesen wären.
[20] Das Gericht betont jedoch, daß der Gesetzgeber hinsichtlich der bilanziellen Entlastung eine Kontroll- und gegebenenfalls eine Nachbesserungspflicht hat. Es ist derzeit noch nicht absehbar, ob die mit dieser Maßnahme bezweckte Entlastung in verfassungsrechtlich gebotenem Maß eintritt. Wegen dieser Ungewißheit der Zielerreichung muß der Gesetzgeber die weitere Entwicklung beobachten und gegebenenfalls eine Nachbesserung vonehmen. Hierfür erscheint eine Frist von zehn Jahren ab Herstellung der deutschen Einheit und Einführung der bilanziellen Entlastung angemessen. Nach Ablauf dieser Frist muß eine Überprüfung stattfinden, ob das angestrebte Ziel in weiteren zehn Jahren erreicht werden kann. Sollte sich dabei die Notwendigkeit zu einer Änderung der Rechtslage ergeben, wäre dafür eine ministerielle Arbeitsanweisung nicht mehr ausreichend. Die Neuregelung müßte vielmehr den Erfordernissen des Gesetzes- und Parlamentsvorbehalts Rechnung tragen.
[21] e) Der Senat führt aus, daß sich die Altschuldenregelung auch im übrigen im Rahmen der verfassungsgemäßen Ordnung hält. Das gilt zum einen hinsichtlich der unterschiedlichen Behandlung von LPG einerseits und anderen mit Altschulden belasteten Einrichtungen der DDR (Volkseigene Güter und Betriebe, Unternehmen der Wohnungswirtschaft) andererseits sowie der Unterscheidung zwischen sanierungsfähigen und nicht sanierungsfähigen LPG. Diese Ungleichbehandlung ist durch sachliche Gründe gerechtfertigt und verstößt mithin nicht gegen den Gleichheitssatz in Art. 3 Abs. 1 GG. Zum anderen ist es auch sachlich gerechtfertigt und damit verfassungsgemäß, daß der Gesetzgeber alle LPG ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen Ursachen und die unterschiedliche Höhe der Altschulden, die nicht oder nicht nur von den LPG zu verantworten waren, an ihren jeweiligen Altschulden festgehalten hat.
[22] Die Altschuldenregelung ist schließlich auch nicht im Blick auf Grundrechte der LPG-Mitglieder verfassungswidrig. Deren Mitgliedschafsrechte bleiben als solche unberührt. Soweit sie aufgrund der Altschuldenregelung wirtschaftlich an Wert verlieren, ist das die Folge der verfassungsmäßigen Behandlung der LPG.
BVerfG, Urteil vom 8. 4. 1997 – 1 BvR 48/94