Plenumsbeschluß zur verfassungsrechtlichen Garantie des "gesetzlichen Richters" bei überbesetzten gerichtlichen Spruchkörpern

BVerfG, Mitteilung vom 18. 4. 1997 – 36/97 (lexetius.com/1997,573)

[1] Das Plenum des BVerfG hat entschieden, daß die verfassungsrechtliche Garantie des "gesetzlichen Richters" (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) es grundsätzlich gebietet, für mit Berufsrichtern überbesetzte Spruchkörper eines Gerichts im voraus nach abstrakten Merkmalen zu bestimmen, welche Richter an den jeweiligen Verfahren mitzuwirken haben.
[2] I. Gegenstand des Plenarverfahrens war die Frage, welche Anforderungen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG an die Bestimmung der Berufsrichter stellt, die in einem überbesetzten Spruchkörper (= Senat oder Kammer eines Gerichts, denen mehr Berufsrichter zugewiesen sind, als das Gesetz es für die jeweilige Entscheidung vorschreibt) an den einzelnen Verfahren mitzuwirken haben.
[3] Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG lautet: "Niemand darf seinem gesetzlichen Richter entzogen werden."
[4] Das Plenum des BVerfG (alle Richterinnen und Richter des Ersten und des Zweiten Senats) hatte diese Frage gem. § 16 Abs. 1 Bundesverfassungsgerichtsgesetz zu entscheiden, weil der Erste Senat insoweit beabsichtigt, von der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senats abzuweichen.
[5] Sachverhalt: In einem beim Ersten Senat anhängigen, noch nicht abschließend entschiedenen Verfassungsbeschwerdeverfahren gegen ein Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) geht es unter anderem um folgendes:
[6] Einem Senat des BFH waren im Geschäftsjahr 1994 durch das Gerichtspräsidium neben der Vorsitzenden fünf weitere Richter zugewiesen worden. Da die Senate des BFH grundsätzlich in der Besetzung von fünf Richtern entscheiden, war der betreffende Senat damit mit einem Richter überbesetzt. Zwar hatte die Vorsitzende entsprechend dem Gerichtsverfassungsgesetz vor Beginn des Geschäftsjahres durch Zuordnung fortlaufender Nummern bestimmt, welcher Richter an welchem Sitzungstag ausschied. Da der ausscheidende Richter aber nicht der Berichterstatter oder der Mitberichterstatter des jeweiligen Verfahrens sein durfte, entschied über die endgültige Besetzung des Senats erst die Terminierung der einzelnen Verfahren.
[7] Der Erste Senat des BVerfG ist der Auffassung, daß eine solche Mitwirkungsregelung mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht vereinbar sei. Diese Auffassung weicht von der bisherigen Rechtsprechung des Zweiten Senats ab. Dieser hat es in zwei Entscheidungen für verfassungsrechtlich ausreichend erachtet, wenn das zuständige Gericht und der innerhalb des Gerichts zuständige Spruchkörper im voraus festgelegt seien. Es sei hingegen verfassungsrechtlich nicht geboten, im voraus auch festzulegen, welche konkreten Richterpersonen innerhalb eines überbesetzten Spruchkörpers an den einzelnen Verfahren mitwirkten (vgl. Beschlüsse des Zweiten Senats vom 3. Februar 1965, BVerfGE 18, 344 und vom 15. Januar 1985, BVerfGE 69, 112).
[8] II. Das Plenum hat die Rechtsfrage dahin entschieden, daß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG es grundsätzlich gebietet, für mit Berufsrichtern überbesetzte Spruchkörper eines Gerichts im voraus nach abstrakten Merkmalen zu bestimmen, welche Richter an den jeweiligen Verfahren mitzuwirken haben. Allerdings sind gerichtliche Mitwirkungsregeln, die dem nicht entsprechen, noch für eine Übergangszeit hinzunehmen, um den Fachgerichten Gelegenheit zu geben, sich auf die nunmehr geklärte verfassungsrechtliche Lage einzustellen. Die Fachgerichte haben aber die Pflicht, die Einhaltung der gebotenen Anforderungen (s. u.) spätestens ab dem 1. Juli 1997 für die ab diesem Zeitpunkt anhängig werdenden Verfahren sicherzustellen.
[9] Zur Begründung heißt es unter anderem:
[10] Mit der Garantie des gesetzlichen Richters will Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG der Gefahr vorbeugen, daß die Justiz durch eine Manipulation der rechtsprechenden Organe sachfremden Einflüssen ausgesetzt wird. Aus diesem Zweck folgt, daß es abstrakt-generelle Regelungen geben muß, die für jeden Streitfall den Richter bezeichnen, der für die Entscheidung zuständig ist. Das bedeutet zum Beispiel, daß nicht nur durch Geschäftsverteilungspläne die Zuständigkeit der einzelnen Senate festzulegen ist; vielmehr muß bei überbesetzten Spruchkörpern durch einen Mitwirkungsplan auch geregelt werden, welche Berufsrichter bei der Entscheidung welcher Verfahren mitwirken. Erst durch eine solche Regelung wird der "gesetzliche Richter" genau bestimmt.
[11] Eine solche abstrakt-generelle Vorausbestimmung muß sich bis auf die letzte Regelungsstufe erstrecken, auf der es um die Person des konkreten Richters geht. Auch auf dieser Ebene gilt es, Vorkehrungen schon gegen die bloße Möglichkeit und den Verdacht einer Manipulation der Justiz zu treffen.
[12] Geschäftsverteilungs- und Mitwirkungspläne eines Gerichts müssen hinreichend bestimmt sein. Aus ihnen muß sich möglichst eindeutig ergeben, welche Richter in einem bestimmten Verfahren mitwirken. Die Pläne dürfen keinen vermeidbaren Spielraum bei der Heranziehung der einzelnen Richter und damit keine unnötige Unbestimmtheit hinsichtlich des "gesetzlichen Richters" lassen.
[13] Diese verfassungsrechtliche Pflicht hat zur Folge, daß überall dort, wo es nach dem gewählten Regelungskonzept ohne Beeinträchtigung der Effektivität der Rechtsprechungstätigkeit möglich ist, die Bestimmung des "gesetzlichen Richters" anhand von Kriterien zu erfolgen hat, die subjektive Wertungen weitgehend ausschließen.
[14] Den dargestellten Anforderungen genügt es nicht, wenn ein Mitwirkungsplan lediglich regelt, welcher Richter an welchen Tagen nicht mitzuwirken hat, und erst die Terminierung der einzelnen Sachen zur Bestimmung der konkreten Richterpersonen führt.
[15] Das Plenum führt aus, mit seinen Erwägungen der Tatsache Rechnung getragen zu haben, daß sich die Vorstellungen von den Anforderungen an den "gesetzlichen Richter" im Laufe der Zeit allmählich verfeinert haben und im Zuge dieser Entwicklung die Forderung nach einer möglichst präzisen Vorherbestimmung auch der im Einzelfall an der gerichtlichen Entscheidung mitwirkenden Richter zunehmend stärkeres Gewicht gewonnen hat.
[16] III. Der Beschluß des Plenums stellt eine Entscheidung der dargestellten streitigen grundsätzlichen Rechtsfrage dar. Er bedeutet keine Entscheidung des beim Ersten Senat anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahrens (1 BvR 1644/94). Wann mit einer solchen zu rechnen ist, steht noch nicht fest.
BVerfG, Beschluss vom 8. 4. 1997 – 1 PBvU 1/95