Aufhebung das steuerrechtlichen Weihnachts- und Arbeitnehmerfreibetrages ist verfassungsgemäß

BVerfG, Mitteilung vom 28. 5. 1997 – 47/97 (lexetius.com/1997,580)

[1] Der Zweite Senat des BVerfG hat auf eine gerichtliche Vorlage einstimmig entschieden, daß die Neuregelung des Einkommensteuergesetzes (EStG) 1990, die den Weihnachtsfreibetrag und den Arbeitnehmerfreibetrag aufgehoben und die Werbungskostenpauschale erhöht hat, mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.
[2] Der Weihnachtsfreibetrag (zuletzt 600, – DM) und der Arbeitnehmerfreibetrag (zuletzt 480, – DM) wurden durch das Steuerreformgesetz 1990 mit Wirkung ab dem Veranlagungszeitraum 1990 aufgehoben; gleichzeitig wurde die Werbungskostenpauschale des § 9a EStG von 564, – DM auf 2. 000, – DM erhöht. Diesen Abzugsbetrag können Steuerpflichtige beanspruchen, die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielen. Den Steuerpflichtigen steht es frei, tatsächlich entstandene höhere Werbungskosten geltend zu machen.
[3] II. Das Finanzgericht Rheinland-Pfalz (FG) hatte in einem die Veranlagung für 1991 betreffenden Steuerverfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem BVerfG u. a. die Frage vorgelegt, ob die Streichung des Arbeitnehmer- und des Weihnachtsfreibetrages mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist.
[4] Nach Auffassung des FG verstößt diese Streichung gegen den Gleichheitssatz, weil ein bis dahin gewährter Ausgleich für ein Sonderopfer der Lohnsteuerzahler beseitigt worden sei. Die Lohnsteuer werde vom Arbeitgeber bei jeder Lohnzahlung – in der Regel monatlich – einbehalten und an die Finanzkassen abgeführt. Dies bedeute eine willkürliche Ungleichbehandlung der Lohnsteuerzahler im Vergleich mit den übrigen Einkommensteuerzahlern, die ihre Einkommensteuer vierteljährlich vorauszahlen müßten. Denn die Vorauszahlungen würden den sich erhöhenden Besteuerungsmerkmalen nicht angepaßt und könnten oft hinausgezögert werden. Der Arbeitnehmerpauschbetrag von 2. 000, – DM stelle keinen genügenden Ausgleich für diese ohne erkennbaren Grund erfolgte Ungleichbehandlung von Lohnsteuer- und Einkommensteuerzahlern dar.
[5] III. Der Zweite Senat hat entschieden, daß die verfassungsrechtlichen Bedenken des vorlegenden Gerichts offensichtlich unbegründet sind.
[6] Zur Begründung heißt es u. a.:
[7] 1. Für das Steuerrecht fordert Art. 3 Abs. 1 GG, daß Gleichheit im Belastungserfolg für alle Steuerpflichtigen hergestellt werden kann. Der Gleichheitssatz fordert keine immer mehr individualisierende und spezialisierende Gesetzgebung, sondern die Regelung eines allgemein verständlichen und möglichst unausweichlichen Belastungsgrundes. Deshalb darf der Gesetzgeber einen steuererheblichen Vorgang um der materiellen Gleichheit willen im typischen Lebensvorgang erfassen und individuell gestaltbare Besonderheiten unberücksichtigt lassen.
[8] 2. Nach diesen Maßstäben ist die Aufhebung des Arbeitnehmer- und des Weihnachtsfreibetrags mit Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar. Ein dem Art. 3 Abs. 1 GG genügender Vergleich darf sich nicht nur auf die Prüfung eines mit dem Lohnsteuererhebungsverfahren verbundenen Liquiditätsnachteils beschränken. Er muß vielmehr in einem Gesamtvergleich die steuererheblichen Unterschiede zwischen den Lohneinkünften und den übrigen Einkunftsarten analysieren, bewerten und dabei die typischerweise zusammentreffenden Vor- und Nachteile für die Belastung der Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit beachten. In diesen Vergleich ist auch der Werbungskostenpauschbetrag einzubeziehen, selbst wenn er nicht geeignet ist, den Wegfall von Arbeitnehmer- und Weihnachtsfreibetrag zu kompensieren.
[9] Eine solche Gesamtwürdigung der mit der Lohnsteuererhebung verbundenen Vor- und Nachteile ergibt, daß die Ungleichheiten, die sich aus der typisiert geregelten und notwendig an der Einkunftsart ausgerichteten Steuererhebung ergeben, kein Gewicht haben, das den gesetzgeberischen Gestaltungsspielraum vertretbarer Typisierung übersteigt. Die für den Steuerpflichtigen in Liquiditätsvorteilen meßbaren Unterschiede zwischen einem in der Regel monatlichen Lohnsteuerabzug und einer vierteljährlichen Vorauszahlung bei anderen Einkünften bedürfen keines Ausgleichs. Die Belastungsgleichheit wird nur geringfügig berührt. Ein Gleichheitsverstoß liegt insoweit nicht vor.
[10] 3. Da in einen von Art. 3 Abs. 1 GG geforderten Gesamtvergleich nur verfassungsmäßige Normen einbezogen werden dürfen, hat der Zweite Senat weiterhin geprüft, ob der Werbungskostenpauschbetrag des § 9a Nr. 1 EStG seinerseits verfassungsgemäß ist. Auch diese Voraussetzung hat der Senat bejaht. Er führt aus, daß der Gesetzgeber mit dieser typisiert festgelegten Pauschale im Rahmen des ihm zustehenden Gestaltungsspielraums bleibt. Der Gleichheitssatz fordert nicht, daß stets der tatsächliche Aufwand berücksichtigt wird. Der materiellen Gleichheit kann es auch genügen, wenn der Gesetzgeber für bestimmte Arten von Aufwendungen nur den Abzug eines typisiert festgelegten Betrages gestattet. Dies gilt um so mehr für die Regelung des § 9a EStG, der nur die Typisierung eines Mindestaufwandes vorsieht, den Nachweis höherer Werbungskosten aber ausdrücklich zuläßt.
BVerfG, Beschluss vom 10. 4. 1997 – 2 BvL 77/92