Richterliche Durchsuchungsanordnungen in Strafverfahren haben eine Gültigkeit von höchstens sechs Monaten

BVerfG, Mitteilung vom 11. 6. 1997 – 53/97 (lexetius.com/1997,586)

[1] Der Zweite Senat des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde-Verfahren entschieden, daß richterliche Durchsuchungsanordnungen in strafrechtlichen Ermittlungsverfahren spätestens nach Ablauf von sechs Monaten ihre rechtfertigende Kraft verlieren, wenn nicht vorher mit ihrem Vollzug begonnen worden ist.
[2] I. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft erließ das Amtsgericht wegen Verdachts des Betruges im Juli 1990 einen Beschluß zur Durchsuchung der Arztpraxis des Beschwerdeführers. Nach dem Akteninhalt erfolgten außer einer Anfrage bei der Kassenärztlichen Vereinigung im März 1991 in dem Verfahren keine weiteren Ermittlungsmaßnahmen seitens der Staatsanwaltschaft. Erst im August 1992 ließ sie die Praxis des Beschwerdeführers auf der Grundlage des Beschlusses von Juli 1990 durchsuchen; sie beschlagnahmte verschiedene Unterlagen. Nach Einstellung eines Teils der Tatvorwürfe erhob die Staatsanwaltschaft Anklage zum Amtsgericht, welches das Verfahren wegen Geringfügigkeit einstellte. Die beschlagnahmten Unterlagen wurden herausgegeben.
[3] Die Beschwerde des Beschwerdeführers gegen die Durchsuchung verwarf das Landgericht (LG) mit der Begründung, bei einer Durchsuchung aufgrund richterlicher Anordnung sei eine Beschwerde nach Vollzug der Durchsuchung unzulässig; sie sei prozessual überholt.
[4] Gegen diesen Beschluß des LG und gegen die Durchsuchung wendete sich der Beschwerdeführer mit seiner Verfassungsbeschwerde. Er rügte insbesondere die Verletzung seines Grundrechts auf Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 GG). Art. 13 GG lautet auszugsweise:
[5] "(1) Die Wohnung ist unverletzlich. (2) Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. (3) …"
[6] II. Der Zweite Senat hat dem Beschwerdeführer recht gegeben. Die Durchsuchung und der Beschluß des LG verletzen den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht aus Art. 13 GG.
[7] Zur Begründung heißt es u. a.:
[8] Mit der Garantie der Unverletzlichkeit der Wohnung erfährt die räumliche Lebenssphäre des Einzelnen einen besonderen grundrechtlichen Schutz. Diesem Schutz unterfallen auch beruflich genutzte Räume wie Arztpraxen. In einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren darf der Richter die Durchsuchung nur anordnen, wenn er sich aufgrund eigenverantwortlicher Prüfung der Ermittlungen überzeugt hat, daß die Maßnahme verhältnismäßig ist. Mithin hat der richterliche Durchsuchungsbeschluß die rechtliche Grundlage der konkreten Maßnahme zu schaffen und muß Rahmen, Grenzen und Ziel der Durchsuchung definieren. Die vorbeugende richterliche Kontrolle der Durchsuchungen bietet nur dann einen wirksamen Grundrechtsschutz, wenn der Richter die geplante Maßnahme in ihren konkreten, gegenwärtigen Voraussetzungen beurteilt. Mit Zeitablauf entfernt sich die tatsächliche Entscheidungsgrundlage von dem Entscheidungsinhalt, den der Richter mit seiner Anordnung verantwortet.
[9] Art. 13 Abs. 2 GG läßt es zwar zu, von dem Vollzug einer Durchsuchungsanordnung vorläufig abzusehen, erlaubt es aber nicht, daß der Staatsanwalt sich eine richterliche Durchsuchungsanordnung gewissermaßen auf Vorrat besorgt oder diese vorrätig hält. Wie lange eine richterliche Durchsuchungsanordnung die Durchführung einer konkreten Durchsuchungsmaßnahme trägt, richtet sich zunächst nach der Art des Tatverdachts, der Schwierigkeit der Ermittlungen und den sonstigen Besonderheiten des Falles, aber auch nach der Dauerhaftigkeit der tatsächlichen Grundlagen für die Beurteilung der Erforderlichkeit und Zumutbarkeit der Durchsuchungsmaßnahme. Spätestens nach Ablauf eines halben Jahres ist davon auszugehen, daß die richterliche Prüfung nicht mehr die rechtlichen Grundlagen einer beabsichtigten Durchsuchung gewährleistet und die richterliche Anordnung nicht mehr den Rahmen, die Grenzen und den Zweck der Durchsuchung im Sinne eines effektiven Grundrechtsschutzes zu gewährleisten vermag. Ein Durchsuchungsbeschluß hat dann seine rechtfertigende Kraft verloren. Die Durchsuchungsermächtigung bedarf erneuter richterlicher Prüfung.
BVerfG, Beschluss vom 27. 5. 1997 – 2 BvR 1992/92