Strafrechtliche Verfolgung eines früher in der DDR akkreditierten Botschafters im Zusammenhang mit einem Sprengstoffanschlag ist verfassungsgemäß

BVerfG, Mitteilung vom 5. 8. 1997 – 72/97 (lexetius.com/1997,597)

[1] Die Verfassungsbeschwerde betraf den Haftbefehl gegen einen ehemals in der DDR akkreditierten Botschafter wegen Beihilfe zum Mord und zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion. Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.
[2] I. Der Beschwerdeführer war von 1981 bis 1989 als Botschafter in der DDR akkreditiert. Die Staatsanwaltschaft ermittelt gegen ihn im Zusammenhang mit einem 1983 in Berlin (West) verübten Sprengstoffanschlag. Bei diesem Anschlag ist ein Mensch getötet, mehr als 20 Menschen sind teils schwer verletzt worden.
[3] Dem Beschwerdeführer wird vorgeworfen, den Anschlag durch Unterlassung gefördert zu haben. Nachdem er von der Aufbewahrung des Sprengstoffs im Botschaftsgebäude in Ost-Berlin Kenntnis erlangt habe, sei er verpflichtet gewesen, den Transport des für den Anschlag bestimmten Stoffes nach Berlin (West) zu unterbinden. Dies habe er jedoch nicht getan.
[4] Wegen Verdachts der Beihilfe zum Mord und zur Herbeiführung einer Sprengstoffexplosion erließ das Amtsgericht Berlin (AG) gegen den Beschwerdeführer im Juli 1994 einen Haftbefehl. Diese Entscheidung bestätigte das Kammergericht (KG) im April 1995 und nochmals im Juli 1996. Der Grundsatz der Immunität stehe der strafrechtlichen Verfolgung nicht entgegen. Es sei zumindest zweifelhaft, ob die Tat eine dienstliche Handlung darstelle. Allein für diese sei nach Art. 39 Abs. 2 S. 2 des Wiener Übereinkommens über diplomatische Beziehungen (WÜD) auch nach dem Ende der Mission noch Immunität zu gewähren. Jedenfalls habe die diplomatische Immunität des Beschwerdeführers lediglich die DDR verpflichtet, gelte jedoch nicht gegenüber der Bundesrepublik Deutschland als Drittstaat. Diese sei auch nicht nach den Regeln über die Staatensukzession verpflichtet, die Immunität nunmehr selbst zu respektieren. Eine dahingehende allgemeine Regel des Völkerrechts bestehe nicht. Bis zur Wiedervereinigung sei die strafrechtliche Verfolgung des Beschwerdeführers durch die Bundesrepublik Deutschland möglich gewesen. Für die Annahme, daß die Verfolgbarkeit mit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik entfallen sei, fehle ein vernünftiger Grund.
[5] Gegen die Beschlüsse des AG und des KG wendete sich der Beschwerdeführer mit der Verfassungsbeschwerde. Er rügte eine Verletzung von Art. 2 Abs. 1 und 2 GG (freie Entfaltung der Persönlichkeit, Freiheit der Person), Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip), Art. 101 Abs. 1 GG (Grundsatz des gesetzlichen Richters) und Art. 103 Abs. 2 GG (Rückwirkungsverbot).
[6] Nach seiner Auffassung lag ein amtliches Handeln vor und besteht die daraus folgende, fortgeltende Immunität auch gegenüber dem Drittstaat Bundesrepublik. Außerdem sei diese als Nachfolgestaat der DDR zur Gewährung der fortwirkenden diplomatischen Immunität verpflichtet.
[7] II. Der Zweite Senat hat entschieden, daß die Verfassungsbeschwerde unbegründet ist.
[8] Er führt u. a. aus:
[9] 1. Zwar hätte das KG gemäß Art. 100 Abs. 2 GG das Verfahren dem BVerfG vorlegen müssen. Dies ist bereits dann geboten, wenn ernstzunehmende Zweifel
[10] hinsichtlich der Existenz oder der Tragweite von Völkergewohnheitsrecht bestehen, mag das erkennende Gericht selbst auch keine Zweifel haben. Nicht das erkennende Gericht, sondern nur das BVerfG hat die Befugnis, vorhandene Zweifel selbst aufzuklären. Solche Zweifel liegen im konkreten Fall sowohl hinsichtlich der Wirkung der fortwirkenden diplomatischen Immunität gegenüber Drittstaaten (sog. erga omnes-Wirkung) als auch hinsichtlich der Bindung der Bundesrepublik an eine durch die DDR zu beachtende Immunität nach den Regeln über die Staatennachfolge vor. In beiden Fällen werden die Ansichten des Beschwerdeführers von ernstzunehmenden völkerrechtlichen Argumenten unterstützt.
[11] 2. Diese Zweifel sind auch entscheidungserheblich.
[12] a) Der Beschwerdeführer handelte in Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob die Handlung gegen das nationale Recht der Bundesrepublik Deutschland verstößt. Denn Immunität zu gewähren, ergibt überhaupt erst bei einer rechtswidrigen Handlung Sinn. Maßgeblich ist vielmehr, ob der Diplomat für seinen Entsendestaat als dessen ausführendes Organ und somit diesem zurechenbar handelt. Im vorliegenden Fall handelte der Beschwerdeführer in Ausübung seiner dienstlichen Tätigkeit. Ihm wird ein Unterlassen zur Last gelegt, das im Rahmen seiner Verantwortungssphäre als Botschafter liegt und damit dem Entsendestaat zurechenbar ist. Private Interessen sind insoweit nicht erkennbar.
[13] b) Weiterhin greifen auch keine völkergewohnheitsrechtlichen Ausnahmen von der diplomatischen Immunität. Diplomatische Immunität von strafrechtlicher Verfolgung kennt grundsätzlich keine Ausnahmen für besonders gravierende Verstöße.
[14] Dadurch, daß das KG die gebotene Vorlage an das BVerfG unterlassen hat, ist der Beschwerdeführer seinem gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 GG) entzogen worden.
[15] 3. Allerdings beruhen die angegriffenen Entscheidungen nicht auf diesem Verstoß. Denn das BVerfG wäre für den Fall der Vorlage nach Art. 100 Abs. 2 GG zu dem Ergebnis gelangt, daß weder eine allgemeine Regel des Völkerrechts besteht, nach der die fortwirkende Immunität gem. Art. 39 Abs. 2 S. 2 WÜD auch gegenüber Drittstaaten wirkt (a), noch eine allgemeine Regel des Völkerrechts gilt, nach der die zunächst nur die DDR verpflichtende Immunität im Wege der Staatennachfolge nunmehr auch von der Bundesrepublik zu beachten wäre (b).
[16] a) Der Senat legt dar, daß die diplomatische Immunität allein im Empfangsstaat (hier: DDR) wirkt. Nur der Empfangsstaat hat die Möglichkeit sich zu schützen, indem er bestimmten Diplomaten das Agriment verweigert, sie zur persona non grata erklärt oder die diplomatischen Beziehungen zum Entsendestaat abbricht. Drittstaaten haben der Tätigkeit des Diplomaten nicht zugestimmt. An dieser räumlich begrenzten Wirkung der Immunität ändert sich auch im Zeitpunkt der Beendigung der Mission nichts. Von da an erlischt zwar die persönliche Immunität, die funktionelle Immunität für dienstliches Handeln gilt aber fort. Gälte diese fortwirkende Immunität auch gegenüber Drittstaaten, so unterläge ein Diplomat für ein und dasselbe dienstliche Verhalten zwar während seiner Amtsausübung der Gerichtsbarkeit im Drittstaat, mit Beendigung der Mission aber plötzlich nicht mehr. Immunitäten für dienstliches Handeln würden dann also nach Art. 39 Abs. 2 S. 2 WÜD nicht nur weiterhin bestehen, sondern weltweit neu entstehen. Daß ein Diplomat nach Beendigung seiner Mission einen weitergehenden Immunitätsschutz genießen sollte als zuvor, widerspricht dem Grundgedanken des diplomatischen Immunitätsrechts.
[17] b) Die auf die DDR beschränkte Pflicht, die fortwirkende Immunität des Beschwerdeführers zu beachten, ist auch nicht im Wege der völkerrechtlichen Staatennachfolge auf die Bundesrepublik Deutschland übergegangen.
[18] Der Senat führt aus, daß der Einigungsvertrag insoweit keine verbindlichen Regelungen enthält. Weiterhin findet eine völkergewohnheitsrechtliche Regel, nach der die Pflicht der DDR, die fortwirkende Immunität des Beschwerdeführers zu beachten, auf die Bundesrepublik übergegangen wäre, keinen Rückhalt in der Staatenpraxis.
[19] Dies bestätigt eine Abwägung der Interessen im Hinblick auf den Zweck der fortwirkenden Immunität. Die Bundesrepublik hat den Beschwerdeführer nicht als Diplomaten aufgenommen. Vor allem hat sie auch mit dem Untergang der DDR nicht deren frühere Zustimmung zur Tätigkeit des Beschwerdeführers als Botschafter übernommen. Mit der Vereinigung Deutschlands ging die DDR als Staat unter, so daß mit ihr auch ihre diplomatischen Beziehungen zu anderen Staaten und damit die früheren Akkreditierungen erloschen. Die diplomatischen Missionen in der DDR wurden mit dem Beitritt nicht zu Missionen der jeweiligen Drittstaaten in der Bundesrepublik. Diese war bereits vor der Wiedervereinigung zur strafrechtlichen Verfolgung der in Berlin (West), also im Inland begangenen Tat befugt. Durch die Wiedervereinigung führt dieselbe Strafverfolgung nicht zur Beeinträchtigung der zwischenstaatlichen Kooperation.
[20] 4. Der Senat legt weiter dar, daß die angegriffenen gerichtlichen Entscheidungen auch nicht gegen andere verfassungsmäßige Rechte des Beschwerdeführers erstoßen.
BVerfG, Beschluss vom 10. 6. 1997 – 2 BvR 1516/96