Grundsatzentscheidung zu den Annahmevoraussetzungen einer Verfassungsbeschwerde – Voraussetzung für das Vorliegen eines "besonders schweren Nachteils"

BVerfG, Mitteilung vom 10. 11. 1997 – 95/97 (lexetius.com/1997,615)

[1] Der Zweite Senat des BVerfG hat entschieden, daß in einem VerfassungsbeschwerdeVerfahren die Annahmevoraussetzung des "besonders schweren Nachteils" regelmäßig dann vorliegt, wenn sich ein strafgerichtlich Verurteilter mit seiner Verfassungsbeschwerde gegen den Schuldspruch wendet.
[2] I. Der im August 1993 in das BVerfGG eingefügte § 93a regelt die Voraussetzungen, unter denen eine Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung anzunehmen ist.
[3] Die Vorschrift lautet: "(1) Die Verfassungsbeschwerde bedarf der Annahme zur Entscheidung. (2) Sie ist zur Entscheidung anzunehmen, 1. soweit ihr grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zukommt, 2. wenn es zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 genannten Rechte angezeigt ist; dies kann auch der Fall sein, wenn dem Beschwerdeführer durch die Versagung der Entscheidung zur Sache ein besonders schwerer Nachteil entsteht."
[4] Vor einer Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde selbst hat gemäß § 93a Abs. 1 BVerfGG das BVerfG über ihre Annahme zu entscheiden. Im Falle der Nichtannahme ist das Verfahren abgeschlossen. Wird die Verfassungsbeschwerde zur Entscheidung angenommen, erhält der Beschwerdeführer hierüber keinen gesonderten Bescheid. Vielmehr entscheidet das Gericht sodann unmittelbar über die Verfassungsbeschwerde selbst.
[5] Auch wenn die Verfassungsbeschwerde also wegen ihrer grundsätzlichen verfassungsrechtlichen Bedeutung (§ 93a Abs. 2 Buchst. a BVerfGG), wegen des besonderen Gewichts der geltend gemachten Grundrechtsverletzung oder wegen des Entstehens eines besonders schweren Nachteils (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG) zur Entscheidung angenommen wird, besagt dies grundsätzlich noch nichts über ihre Erfolgsaussicht. Die Verfassungsbeschwerde kann trotz Annahme beispielsweise als unbegründet zurückgewiesen werden.
[6] Andererseits läßt auch ein verfahrensabschließender Beschluß, wonach eine Verfassungsbeschwerde wegen Nichtvorliegens der Voraussetzungen des § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht zur Entscheidung angenommen wird, keine Rückschlüsse auf die Zulässigkeit oder Begründetheit einer Verfassungsbeschwerde zu. Es kann also sein, daß eine zulässige und begründete Verfassungsbeschwerde z. B. mangels Entstehens eines besonders schweren Nachteils nicht zur Entscheidung angenommen wird.
[7] Zu den Voraussetzungen der Annahme einer Verfassungsbeschwerde nach § 93a Abs. 2 BVerfGG hat bereits der Erste Senat in einem Mietrechtsstreit am 8. Februar 1994 einen Beschluß gefaßt (Az. 1 BvR 1693/92, BVerfGE 90, 22ff.)
[8] II. Der Zweite Senat hat nunmehr hinsichtlich strafgerichtlicher Verurteilungen entschieden, daß eine existentielle Betroffenheit des Beschwerdeführers im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG regelmäßig dann anzunehmen ist, wenn der Beschwerdeführer sich mit der Verfassungsbeschwerde gegen den Schuldspruch in einem Strafverfahren (Feststellung, daß der Täter einen Straftatbestand in rechtswidriger Weise erfüllt hat) wendet.
[9] Dem Beschluß lag die Verfassungsbeschwerde eines wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte (§ 113 StGB) rechtskräftig zu einer Geldstrafe von 10 Tagessätzen zu je 70, – DM Verurteilten zugrunde.
[10] Zwar hat der Senat die gegen diese Verurteilung erhobene Verfassungsbeschwerde im Ergebnis deshalb nicht zur Entscheidung angenommen, weil sie mangels Erfolgsaussicht nicht zur Durchsetzung der in § 90 Abs. 1 BVerfGG genannten Rechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG) ist. Er hat jedoch die Voraussetzung des Vorliegens eines "besonders schweren Nachteils" bejaht und zur Begründung u. a. ausgeführt:
[11] Die Kriminalstrafe stellt die am stärksten eingreifende staatliche Sanktion für begangenes Unrecht dar. Jede Strafnorm enthält ein sozial-ethisches Unwerturteil über die von ihr pönalisierte Handlungsweise. Dieses Unwerturteil, das im Einzelfall durch das strafgerichtliche Urteil konkretisiert wird, berührt den in der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) wurzelnden Wert- und Achtungsanspruch des Verurteilten. Deshalb ist der Einsatz des Strafrechts von Verfassungs wegen in besonderer Weise an den Schuldgrundsatz und das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden. Das Strafrecht wird als "ultima ratio" des Rechtsgüterschutzes eingesetzt, wenn ein bestimmtes Verhalten über sein Verbotensein hinaus in besonderer Weise sozialschädlich und für das geordnete Zusammenleben der Menschen unerträglich, seine Verhinderung daher besonders dringlich ist. Für die Feststellung eines besonders schweren Nachteils im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG kommt es deshalb in erster Linie auf das im Schuldspruch konkretisierte Unwerturteil über Tat und Täter an.
[12] Demgegenüber können die an den Schuldspruch geknüpften Rechtsfolgen (z. B. Höhe der Strafe) im Einzelfall mehr oder minder großes Gewicht haben. Insoweit wird es von den Umständen des Einzelfalls abhängen, ob eine existentielle Betroffenheit im Sinne des § 93a Abs. 2 Buchst. b BVerfGG angenommen werden kann.
BVerfG, Beschluss vom 9. 7. 1997 – 2 BvR 1371/96