Gesetzliche Regelung über die Altersversorgung von Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes bei vorzeitigem Ausscheiden ist mit dem Grundgesetz unvereinbar

BVerfG, Mitteilung vom 25. 11. 1998 – 130/98 (lexetius.com/1998,1173)

[1] Der Erste Senat des BVerfG hat in drei Verfassungsbeschwerde-Verfahren entschieden, daß § 18 des Gesetzes zur Verbesserung der betrieblichen Altersversorgung (Betriebsrentengesetz; BetrAVG) vom 19. Dezember 1974 mit dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) unvereinbar ist.
[2] Die Vorschrift regelt den Fortbestand und die Höhe von Anwartschaften aus der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst bei vorzeitigem Ausscheiden. Die auf dieser verfassungswidrigen Vorschrift beruhenden, mit den Verfassungsbeschwerden angegriffenen arbeitsgerichtlichen Urteile hat der Senat aufgehoben und die Verfahren zur erneuten Entscheidung an die jeweiligen Gerichte zurückverwiesen.
[3] Da der Gesetzgeber zwischenzeitlich für die Personengruppen der Beschwerdeführer angeordnet hat, daß auch für sie § 2 BetrAVG (s. unten I 1.) gilt, ist über die anhängigen Klagen auf dieser Grundlage zu entscheiden.
[4] Im übrigen ist der Gesetzgeber verpflichtet, unverzüglich, spätestens bis zum 31. Dezember 2000, eine verfassungskonforme Regelung zu treffen. Bis dahin kann § 18 BetrAVG weiter angewendet werden.
[5] I. Rechtslage. a) Das BetrAVG schützt Arbeitnehmer, deren Arbeitsverhältnis vor Erreichen der Altersgrenze endet, vor dem Verlust einer betrieblichen Altersversorgung. Die Höhe der Anwartschaft bei Arbeitnehmern außerhalb des öffentlichen Dienstes wird grundsätzlich nach dem sogenannten Quotierungsprinzip – auch: "ratierliche Berechnung" – bestimmt (§ 2 BetrAVG).
[6] b) Den Beschäftigten des öffentlichen Dienstes wird regelmäßig auf tarifvertraglicher Grundlage eine Gesamtversorgung zugesagt: Auf dem Wege über eine Zusatzversicherung garantiert ihnen der Arbeitgeber eine Altersversorgung in Höhe eines bestimmten Prozentsatzes des letzten Gehalts unter Anrechnung der Altersrente aus der gesetzlichen Altersversicherung. Derartige Zusagen werden von Arbeitgebern bisweilen auch einzelvertraglich oder aufgrund von Ruhelohnordnungen abgegeben.
[7] Bei vorzeitigem Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst findet – abweichend von § 2 BetrAVG – § 18 BetrAVG Anwendung. Der Wortlaut der hier maßgeblichen Fassung ist in der Anlage auszugsweise abgedruckt. Die Höhe der Zusatzrente ist danach bei vorzeitigem Ausscheiden von der Höhe der zugesagten Versorgungsrente unabhängig. Maßgeblich sind allein das letzte Entgelt und die Dauer der Betriebszugehörigkeit.
[8] § 18 BetrAVG ist seit 1974 mehrfach geändert worden. Diese Änderungen sind jedoch für die vorliegende Entscheidung ohne Bedeutung.
[9] Hinsichtlich der Frage, für welche Personengruppen die Regelung des § 18 Abs. 2 BetrAVG gilt, sind die – für das vorliegende Verfahren einschlägigen – Nummern 4 bis 6 des § 18 Abs. 1 S. 1 BetrAVG inzwischen durch das Rentenreformgesetz 1999 vom 16. Dezember 1997 aufgehoben worden. Für die Beschwerdeführer würde also heute statt § 18 BetrAVG § 2 Abs. 1 BetrAVG gelten.
[10] Der Senat hat angeordnet, daß diese Vorschrift (§ 2 Abs. 1 BetrAVG) wegen der Verfassungswidrigkeit des § 18 BetrAVG auch in den von den Beschwerdeführern vor der Aufhebung der Nummern 4 bis 6 anhängig gemachten Verfahren anzuwenden ist.
[11] II. Der Beschwerdeführer zu 1) war bei einer Landesbank, der Beschwerdeführer zu 2) und der verstorbene Ehemann der Beschwerdeführerin zu 3) waren beim Westdeutschen Rundfunk (WDR) beschäftigt. Sie sind dort in den 80er Jahren vor Erreichen der Altersgrenze auf eigenen Wunsch ausgeschieden. In den Ausgangsverfahren wurde um die Höhe ihrer Versorgungsanwartschaften gestritten. Dabei ging es im Kern um die Frage, ob diese nach § 2 BetrAVG zu berechnen sind oder ob § 18 BetrAVG einschlägig ist. Mit ihren Verfassungsbeschwerden greifen die Beschwerdeführer unmittelbar die arbeitsgerichtlichen Entscheidungen an. Mittelbar wenden sie sich gegen § 18 Abs. 1 S. 1 Nr. 5 und 6 BetrAVG, jeweils in Verbindung mit § 18 Abs. 2 Nr. 1 sowie Abs. 6 und 7 BetrAVG.
[12] III. Die Verfassungsbeschwerden sind erfolgreich. § 18 BetrAVG verletzt sowohl Art. 3 Abs. 1 GG (1.) als auch Art. 12 Abs. 1 GG (2.).
[13] Art. 3 Abs. 1 GG. Der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) ist in zweifacher Hinsicht verletzt:
[14] Zum einen werden aus dem öffentlichen Dienst ausscheidende Arbeitnehmer mit hohen Versorgungszusagen im Vergleich mit anderen Arbeitnehmern ohne rechtfertigenden Grund benachteiligt, weil nach § 18 Abs. 2 BetrAVG die Zusatzrente unabhängig von der Höhe der Versorgungszusage ist (a).
[15] Zum anderen hat der Gesetzgeber mit § 18 BetrAVG die Unverfallbarkeit von Betriebsrenten für Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes abweichend von der allgemeinen Bestimmung des § 2 BetrAVG geregelt, die für alle in der Privatwirtschaft beschäftigten Arbeitnehmer gilt. In dieser Ungleichbehandlung liegt ein weiterer Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG (b).
[16] a) Die Sonderregelung des § 18 Abs. 2 BetrAVG führt für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes zu teilweise erheblichen Einschnitten in die zeitanteilig reduzierten Rentenanwartschaften. Das gilt insbesondere für Beschäftigte mit höherem Einkommen. Bei ihnen wird die Differenz um so größer, je länger ihre Betriebszugehörigkeit andauert. So ergibt sich bei einem 55jährigen Arbeitnehmer mit Steuerklasse III/0 und einem Monatsgehalt von rund 16. 000, – DM nach 30jähriger Betriebszugehörigkeit ein Unterschied gegenüber einer "ratierlich" (§ 2 BetrAVG) berechneten Rentenanwartschaft von rund 2. 500, – DM monatlich. Andererseits gibt es auch Konstellationen, in denen die Zusatzrente die der Dauer der Betriebszugehörigkeit entsprechende Versorgungszusage übersteigt. In nicht wenigen Fällen wird dabei sogar die erst bei Erreichen der Altersgrenze fällige, an sich zugesagte Versorgungsrente deutlich überschritten.
[17] Gewichtige Rechtfertigungsgründe für diese Gleichbehandlung wesentlich ungleicher Sachverhalte liegen nicht vor. Der Senat führt aus, daß weder der Gesichtspunkt der "Gleichbehandlung aller Arbeitnehmer des öffentlichen Dienstes" noch der des "einheitlichen Versorgungsanspruchs für den Fall eines Arbeitsplatzwechsels im öffentlichen Dienst" eine Rechtfertigung darstellen. Dasselbe gilt für das Argument, daß typischerweise Arbeitnehmer mit einem höheren Gehalt von der Regelung benachteiligt werden und daß diesen ein partieller Verlust ihrer Versorgungsanwartschaften zugemutet werden kann. Die individuelle Belastbarkeit durch Rentenkürzungen ist allein daran zu messen, daß die Altersversorgung dazu dient, den Lebensstandard des Arbeitnehmers im Ruhestand in angemessenem Umfang zu erhalten. Die größere wirtschaftliche Belastbarkeit begünstigter Arbeitnehmer ist insoweit kein sachliches Kriterium. Es ist zudem widersprüchlich, wenn die öffentlichen Arbeitgeber einerseits höher verdienenden Arbeitnehmern eine besonders hohe Versorgungszusage erteilen, andererseits aber beim Ausscheiden dieser Arbeitnehmer ihre lebensstandardsichernde Funktion negiert wird.
[18] Es kann auch nicht verallgemeinernd davon ausgegangen werden, daß die von der angegriffenen Regelung benachteiligten Arbeitnehmer sich durchweg in einer Lage befinden, in der sie den partiellen Verlust ihrer Versorgungsanwartschaft beim Wechsel zu einem privaten Arbeitgeber von diesem ausgleichen lassen könnten. Es ist nicht erkennbar, daß die Mehrzahl der Arbeitnehmer mit hohen Versorgungszusagen eine Marktstellung innehat, die es ihnen erlaubt, Einbußen von Anwartschaften auf Leistungen, die den Umfang eines Jahresgehalts übersteigen können, auszugleichen.
[19] b) Ein weiterer Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG liegt in der Ungleichbehandlung von Arbeitnehmern des öffentlichen Dienstes und solchen der Privatwirtschaft.
[20] Insbesondere Beschäftigte des öffentlichen Dienstes mit höherem Einkommen erleiden durch die Sonderregelung des § 18 BetrAVG zum Teil erhebliche finanzielle Einbußen. In geringerem Umfang werden aber auch Arbeitnehmer mit Einkünften unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze je nach Rentenbiographie und Steuerklasse schlechter gestellt als bei einer Berechnung nach § 2 Abs. 2 BetrAVG. Nach den von der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder auf Anfrage des Gerichts durchgeführten Berechnungen beträgt etwa die Zusatzrente eines 45jährigen Arbeitnehmers mit 3. 000, – DM Monatsgehalt und Steuerklasse III/0 beim Ausscheiden nach 20jähriger Betriebszugehörigkeit 240, – DM. Die unverfallbare Anwartschaft nach § 2 BetrAVG würde 383, – DM betragen. Bei einem Monatseinkommen von 10. 250, – DM würde ein vergleichbarer Arbeitnehmer eine Zusatzrente von 820, – DM erhalten, während sich die unverfallbare Anwartschaft nach § 2 BetrAVG auf 1. 400, – DM belaufen würde. Mit steigenden Entgelten wächst die Differenz.
[21] Der Senat legt dar, daß auch eine solche Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt ist. Dies gilt sowohl für den Gesichtspunkt, daß den Arbeitnehmern im öffentlichen Dienst eine Altersversorgung in Anlehnung an die Beamtenversorgung zusteht, als auch für das Argument, die angegriffene Regelung werde der im öffentlichen Dienst sei langem eingeführten Gesamtversorgungszusage in besonderer Weise gerecht. Es ist nicht einsichtig, weshalb § 2 BetrAVG nicht mindestens ebensogut zu dem im öffentlichen Dienst üblichen Versorgungssystem paßt wie die Sonderregelung des § 18 BetrAVG.
[22] Die Tariföffnungsklausel des § 17 Abs. 3 BetrAVG rechtfertigt die Sonderregelung des § 18 BetrAVG ebenfalls nicht. Sie räumt zwar den Tarifvertragsparteien Handlungsspielräume bei der Ausgestaltung der Unverfallbarkeit von Rentenanwartschaften ein, entbindet sie aber nicht von der Beachtung des Gleichbehandlungsgebotes.
[23] Die Ungleichbehandlung der Arbeitnehmer im öffentlichen Dienst mit den in der Privatwirtschaft Beschäftigten wird weiterhin auch nicht durch das legitime Interesse an einer Entlastung der öffentlichen Haushalte gerechtfertigt. Das Betriebsrentengesetz schreibt weder den privaten noch den öffentlichen Arbeitgebern vor, in welchem Umfang sie ihren Arbeitnehmern eine zusätzliche Altersrente zu gewähren haben. Es hindert sie lediglich daran, ihre Zusagen bei vorzeitiger Beendigung der Arbeitsverträge ganz oder teilweise zurückzunehmen.
[24] Die angegriffene Regelung verstößt auch gegen die in Art. 12 Abs. 1 GG geregelte Berufsfreiheit. Die mit diesem Grundrecht garantierte freie Wahl des Arbeitsplatzes umfaßt den Schutz des einzelnen in seiner Wahl, eine konkrete Beschäftigungsmöglichkeit in seinem Beruf zu ergreifen, sie beizubehalten oder aufzugeben. Dem objektiven Gehalt der Grundrechte ist der Gesetzgeber auch dort verpflichtet, wo er Rahmenbedingungen speziell für das Arbeitsrecht des öffentlichen Dienstes setzt. Maßstabsetzende Normen des Vertragsrechts können zur Wahrung von Freiheitsrechten und zur Gewährung von Gleichbehandlung ungeachtet des Umstandes verfassungsrechtlich geboten sein, daß staatliche Stellen sich auch bei privatrechtlicher Betätigung prinzipiell an der grundrechtlichen Ordnung auszurichten haben.
[25] Zivilrechtliche Regelungen, die den Verfall von betrieblichen Versorgungsanwartschaften betreffen, müssen sicherstellen, daß ein Arbeitnehmer bei vorzeitigem Ausscheiden keine solchen Verluste erleidet, daß er faktisch an einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses gehindert wird. Der Gesetzgeber ist mit § 18 BetrAVG seiner Verpflichtung, die Verfallbarkeit von Betriebsrenten im öffentlichen Dienst unter Wahrung der Berufsfreiheit der Arbeitnehmer zu regeln, nicht in ausreichendem Maße gerecht geworden. Durch § 18 BetrAVG muß der Arbeitnehmer bei der Aufgabe seines Arbeitsverhältnisses im öffentlichen Dienst erhebliche Einbußen bei seiner Altersversorgung hinnehmen. Bei den Beschwerdeführern hätte der Verlust gegenüber einer ratierlich berechneten Versorgungsanwartschaft bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen 1, 5 und mehr als 5 Jahresgehältern (134. 000,-DM und 695. 000, – DM) betragen. Wird die Altersversorgung eines Arbeitnehmers bei vorzeitigem Ausscheiden nachhaltig verschlechtert, so ist dies für ihn von existentieller Bedeutung. Er kann die Herabsetzung seines Lebensstandards im Alter nach langjähriger Beschäftigung nicht mehr ausgleichen. Daher wird er auf seinem Arbeitsplatz auch dann ausharren, wenn er sich anderweitig beruflich betätigen oder aus einem anderen Grund vorzeitig ausscheiden möchte.
[26] Belange der öffentlichen Arbeitgeber, deren Berücksichtigung eine so weitgehende Unterschreitung des grundrechtlich gebotenen Schutzes der Arbeitnehmer vor Kündigungserschwerungen rechtfertigen könnte, sind nicht erkennbar.
[27] Über materielle Grundrechtspositionen, auf die der Gesetzgeber hätte Rücksicht nehmen müssen, verfügen die hier allein betroffenen öffentlichen Arbeitgeber nicht. Legitime Interessen, die bei der angegriffenen Regelung zu berücksichtigen waren, wiegen insgesamt nicht so schwer, daß sie die dargelegte Zurücknahme des Arbeitnehmerschutzes auszugleichen vermöchten. Der mit jeder Betriebsrentenzusage angestrebte Anreiz zur Betriebstreue wird für die durch § 18 BetrAVG nachteilig Betroffenen zwar verstärkt. Ein einleuchtender Grund dafür, weshalb gerade bei dieser Gruppe ein weitergehendes Interesse des Arbeitgebers an einer Betriebsbindung besteht, ist jedoch nicht ersichtlich.
[28] Auch der Umstand, daß Beamte in höheren Besoldungsstufen bei einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem öffentlichen Dienst noch stärkere Verluste hinnehmen müssen als Arbeitnehmer, begründet kein legitimes Interesse an deren Benachteiligung.
BVerfG, Beschluss vom 15. 7. 1998 – 1 BvR 1554/89