Bundesgerichtshof entscheidet im Rechtsstreit des Ministerpräsidenten des Landes Brandenburg zugunsten der Meinungsfreiheit

BGH, Mitteilung vom 16. 6. 1998 – 48/98 (lexetius.com/1998,1396)

[1] Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hatte darüber zu entscheiden, ob der vormalige Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche in Berlin-Brandenburg und heutige Ministerpräsident des Landes Brandenburg Unterlassung der Behauptung verlangen kann, er sei "IM-Sekretär, über zwanzig Jahre im Dienste des Staatssicherheitsdienstes tätig" gewesen.
[2] Im Zusammenhang mit der Volksabstimmung über die Fusion der Länder Berlin und Brandenburg gab der Beklagte, der stellvertretender Fraktionsvorsitzender der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus ist, gegenüber einem Fernsehsender ein längeres Interview. Darin äußerte er über den Kläger unter anderem auch, "die Tatsache, daß Herr Stolpe, wie wir alle wissen, IM-Sekretär, über 20 Jahre im Dienste des Staatssicherheitsdienstes tätig, daß der die Chance erhält, 1999 hier in Berlin, auch über Berlin Ministerpräsident zu werden, d. h. ich sein Landeskind werde, zusammen mit anderen, das verursacht mir doch erhebliche Kopfschmerzen", was von dem Fernsehsender in einem Bericht ausgestrahlt wurde.
[3] Das Brandenburgische Oberlandesgericht hat, anders als erstinstanzlich das Landgericht Potsdam, dem Unterlassungsantrag stattgegeben und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassen.
[4] Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Oberlandesgerichts aufgehoben und das klageabweisende Urteil des Landgerichts wiederhergestellt.
[5] Der Senat hat die Äußerung in ihrer Gesamtheit dem Schutz des Art. 5 Abs. 1 GG unterstellt und eine Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Ehrenschutz vorgenommen. Dabei ist er der Auslegung des Berufungsgerichts nicht gefolgt, daß sich der Erklärung entnehmen ließe, daß der Kläger aufgrund einer Verpflichtungserklärung entgeltlich für den Staatssicherheitsdienst tätig geworden sei. Abgesehen hiervon sah der Senat verschiedene Deutungsmöglichkeiten. Er hat aber offengelassen, welcher zu folgen ist, weil in jedem Fall für die Zulässigkeit die Vermutung der freien Rede spricht. Bei der Abwägung der betroffenen Grundrechtspositionen war entscheidungserheblich, daß die Erklärung im öffentlichen Meinungskampf um eine die Allgemeinheit wesentlich berührende Frage geäußert wurde. Da dem Beklagten die Vermutung für die Freiheit der Rede zur Seite steht und weitere Aufklärungsmöglichkeiten nicht bestehen sowie überwiegende Belange des Klägers aus seinem Persönlichkeitsrecht nicht entgegenstehen, kann er sich auf das Grundrecht der Meinungsfreiheit berufen, zumal sich der Kläger als Ministerpräsident selbst erheblich an der politischen Auseinandersetzung beteiligt und damit aus eigenem Entschluß ins Rampenlicht der öffentlichen Diskussion gestellt hat.
BGH, Urteil vom 16. 6. 1998 – VI ZR 205/97