Europäischer Gerichtshof
"Freizügigkeit – Gleichbehandlung – Sprachenregelung für Strafverfahren"
1. Der durch eine nationale Regelung eröffnete Anspruch darauf, daß ein Strafverfahren in einer anderen als der Hauptsprache des betreffenden Staates durchgeführt wird, fällt in den Anwendungsbereich des EG-Vertrags und muß mit Artikel 6 dieses Vertrages im Einklang stehen.
2. Artikel 6 des Vertrages steht einer nationalen Regelung entgegen, die Bürgern, die eine bestimmte Sprache sprechen, bei der es sich nicht um die Hauptsprache des betreffenden Mitgliedstaats handelt, und die im Gebiet einer bestimmten Körperschaft leben, den Anspruch darauf einräumt, daß Strafverfahren in ihrer Sprache durchgeführt werden, ohne dieses Recht auch den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einzuräumen, die dieselbe Sprache sprechen und sich in diesem Gebiet bewegen und aufhalten.

EuGH, Urteil vom 24. 11. 1998 – C-274/96 (lexetius.com/1998,830)

[1] In der Rechtssache C-274/96 betreffend ein dem Gerichtshof nach Artikel 177 EG-Vertrag von der Pretura circondariale Bozen, Außenabteilung Schlanders (Italien), in dem bei dieser anhängigen Strafverfahren gegen Horst Otto Bickel, Ulrich Franz vorgelegtes Ersuchen um Vorabentscheidung über die Auslegung der Artikel 6, 8a und 59 EG-Vertrag erläßt DER GERICHTSHOF unter Mitwirkung des Präsidenten G. C. Rodríguez Iglesias, der Kammerpräsidenten P. J. G. Kapteyn, J.-P. Puissochet, G. Hirsch und P. Jann sowie der Richter G. F. Mancini, J. C. Moitinho de Almeida, C. Gulmann, J. L. Murray, H. Ragnemalm (Berichterstatter), L. Sevón, M. Wathelet und R. Schintgen, Generalanwalt: F. G. Jacobs Kanzler: H. von Holstein, Hilfskanzler unter Berücksichtigung der schriftlichen Erklärungen -der italienischen Regierung, vertreten durch Professor Umberto Leanza, Leiter des Servizio del contenzioso diplomatico des Außenministeriums, als Bevollmächtigten im Beistand von Avvocato dello Stato Pier Giorgio Ferri, -der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch Pieter van Nuffel, Juristischer Dienst, und Enrico Altieri, zum Juristischen Dienst der Kommission abgeordneter nationaler Beamter, als Bevollmächtigte, aufgrund des Sitzungsberichts, nach Anhörung der mündlichen Ausführungen von Herrn Bickel und Herrn Franz, vertreten durch Rechtsanwalt Karl Zeller, Meran, der italienischen Regierung, vertreten durch Rechtsanwalt Pier Giorgio Ferri, und der Kommission, vertreten durch Pieter van Nuffel und Lucio Gussetti, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, in der Sitzung vom 27. Januar 1998, nach Anhörung der Schlußanträge des Generalanwalts in der Sitzung vom 19. März 1998, folgendes Urteil (1):
[2] 1. Die Pretura circondariale Bozen, Außenabteilung Schlanders, hat mit Beschlüssen vom 2. August 1996, beim Gerichtshof eingegangen am 12. August 1996, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag eine Frage nach der Auslegung der Artikel 6, 8a und 59 EG-Vertrag zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[3] 2. Diese Frage stellt sich in zwei Strafverfahren gegen Herrn Bickel bzw. gegen Herrn Franz.
[4] 3. Herr Bickel, ein österreichischer Staatsangehöriger, wohnt in Nüziders (Österreich) und ist von Beruf Lastwagenfahrer. Am 15. Februar 1994 wurde er mit seinem Lastkraftwagen von einer Carabinieri-Streife in Castelbello in der Provinz Bozen (Italien) angehalten, die gegen ihn ein Verfahren wegen Trunkenheit im Verkehr einleitete.
[5] 4. Herr Franz, ein deutscher Staatsangehöriger, wohnt in Peissenberg (Deutschland) und kam als Tourist nach Südtirol. Am 5. Juni 1995 wurde er einer Zollkontrolle unterzogen, bei der festgestellt wurde, daß er ein verbotenes Messer mit sich führte.
[6] 5. Beide Angeklagten erklärten gegenüber dem Pretore Bozen, sie beherrschten die italienische Sprache nicht, und beantragten unter Berufung auf die zum Schutz der deutschsprachigen Gemeinschaft in der Provinz Bozen bestimmten Vorschriften, das Verfahren gegen sie auf deutsch durchzuführen.
[7] 6. Nach Artikel 99 des Präsidialdekrets Nr. 670 vom 31. August 1972 betreffend das Sonderstatut für die Region Trentino-Südtirol (GURI Nr. 301 vom 20. November 1972) ist die deutsche Sprache in dieser Region der italienischen Sprache gleichgestellt.
[8] 7. Nach Artikel 100 dieses Dekrets haben die deutschsprachigen Bürger der Provinz Bozen – dem Gebiet, in dem die deutschsprachige Minderheit hauptsächlich ansässig ist – das Recht, im Verkehr mit den Gerichten und den Dienststellen der öffentlichen Verwaltung, die ihren Sitz in dieser Provinz haben oder regionale Zuständigkeit besitzen, ihre Sprache zu gebrauchen.
[9] 8. Nach Artikel 13 des Präsidialdekrets Nr. 574 vom 15. Juli 1988 mit Durchführungsbestimmungen zum Sonderstatut für die Region Trentino-Südtirol über den Gebrauch der deutschen und der ladinischen Sprache im Verkehr der Bürger mit der öffentlichen Verwaltung und in den Gerichtsverfahren (GURI Nr. 105 vom 8. Mai 1989) müssen sich die Gerichtsämter und Gerichtsorgane im Verkehr mit den Bürgern der Provinz Bozen und in den Akten, die sich auf diese beziehen, der Sprache des Antragstellers bedienen.
[10] 9. Artikel 14 des Dekrets Nr. 574 bestimmt ferner, daß bei Verhaftung auf frischer Tat oder bei Polizeigewahrsam die Gerichtsbehörde oder das Polizeiorgan verpflichtet ist, vor der Vernehmung oder anderen Verfahrenshandlungen den Beschuldigten zu fragen, welches seine Muttersprache ist. Wird als Sprache Deutsch angegeben, so haben die Vernehmung und jede weitere Verfahrenshandlung in dieser Sprache zu erfolgen.
[11] 10. Nach Artikel 15 des Dekrets Nr. 574 schließlich hat die Gerichtsbehörde, die einen Prozeßakt zu verfassen hat, der dem Verdächtigten oder dem Beschuldigten mitzuteilen oder zuzustellen ist, dessen mutmaßliche Sprache zu verwenden, die aufgrund der offenkundigen Sprachgruppenzugehörigkeit und anderer beim Prozeß bereits ermittelten Anhaltspunkte festgestellt wurde. Der Beschuldigte oder Verdächtigte kann sich innerhalb von zehn Tagen nach der Mitteilung oder Zustellung des ersten Prozeßaktes gegen die verwendete Sprache mit persönlich abgegebener oder dem handelnden Gerichtsorgan übermittelter Erklärung aussprechen. In diesem Fall hat die Gerichtsbehörde zu verfügen, daß die bis dahin erstellten Akte übersetzt werden und die folgenden Akte in der angegebenen Sprache verfaßt werden.
[12] 11. Das vorlegende Gericht stellt sich die Frage, ob die für die Bürger der Provinz Bozen geltenden Verfahrensvorschriften nach Gemeinschaftsrecht auch auf Besucher der Provinz anzuwenden sind, die Angehörige anderer Mitgliedstaaten sind; es hat das Verfahren daher bis zu einer Vorabentscheidung des Gerichtshofes über folgende Frage ausgesetzt:
[13] Gebieten es die Grundsätze der Nichtdiskriminierung im Sinne von Artikel 6 Absatz 1 des Vertrages, des Rechts der Unionsbürger, sich frei zu bewegen und aufzuhalten, im Sinne von Artikel 8a und des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Artikel 59 des Vertrages, daß einem Unionsbürger, der die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaats besitzt und sich in einem anderen Mitgliedstaat aufhält, das Recht gewährt wird, zu verlangen, daß ein Strafverfahren gegen ihn in einer anderen Sprache geführt wird, wenn die Staatsangehörigen dieses Staates, die sich in der gleichen Lage befinden, dieses Recht haben?
[14] 12. Diese Frage des vorlegenden Gerichts geht im wesentlichen dahin, ob der durch eine nationale Regelung eröffnete Anspruch darauf, daß ein Strafverfahren in einer anderen als der Hauptsprache des betreffenden Staates durchgeführt wird, in den Anwendungsbereich des Vertrages fällt und daher mit Artikel 6 dieses Vertrages im Einklang stehen muß. Für den Fall, daß dies bejaht wird, fragt das vorlegende Gericht weiter, ob Artikel 6 des Vertrages einer nationalen Regelung wie der hier streitigen entgegensteht, die Bürgern, die eine bestimmte Sprache sprechen, bei der es sich nicht um die Hauptsprache des betreffenden Mitgliedstaats handelt, und die im Gebiet einer bestimmten Körperschaft leben, den Anspruch darauf einräumt, daß Strafverfahren in ihrer Sprache durchgeführt werden, ohne dieses Recht auch den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einzuräumen, die dieselbe Sprache sprechen und sich in diesem Gebiet bewegen und aufhalten.
Zum ersten Teil der Frage
[15] 13. Unter dem Gesichtspunkt einer Gemeinschaft, die auf den Grundsätzen der Freizügigkeit und der Niederlassungsfreiheit aufbaut, kommt dem Schutz der Rechte und Möglichkeiten der einzelnen im sprachlichen Bereich besondere Bedeutung zu (Urteil vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 137/84, Mutsch, Slg. 1985, 2681, Randnr. 11).
[16] 14. Aus dem in Artikel 6 des Vertrages niedergelegten Verbot "jeder Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit" folgt, daß Personen, die sich in einer gemeinschaftsrechtlich geregelten Situation befinden, genauso behandelt werden müssen wie Angehörige des betreffenden Mitgliedstaats (Urteil vom 2. Februar 1989 in der Rechtssache 186/87, Cowan, Slg. 1989, 195, Randnr. 10).
[17] 15. Zu den gemeinschaftsrechtlich geregelten Situationen gehören u. a. diejenigen, die unter das durch Artikel 59 des Vertrages eingeräumte Recht auf freien Dienstleistungsverkehr fallen. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes schließt dieses Recht die Freiheit der Leistungsempfänger ein, sich zur Inanspruchnahme einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat zu begeben (Urteil Cowan, Randnr. 15). Unter Artikel 59 fallen somit alle Angehörigen der Mitgliedstaaten, die sich, ohne ein anderes durch den Vertrag gewährleistetes Freiheitsrecht in Anspruch zu nehmen, in einen anderen Mitgliedstaat begeben und dort Dienstleistungen in Empfang nehmen wollen oder die Möglichkeit haben, sie in Empfang zu nehmen. Diese Staatsangehörigen, zu denen auch Herr Bickel und Herr Franz gehören, können sich in den Aufnahmestaat begeben und sich dort frei bewegen. Im übrigen bestimmt Artikel 8a des Vertrages: "Jeder Unionsbürger hat das Recht, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vorbehaltlich der in diesem Vertrag und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen frei zu bewegen und aufzuhalten."
[18] 16. Für die Unionsbürger ist die Möglichkeit, mit den Verwaltungs- und Justizbehörden eines Staates mit gleichem Recht wie die Bürger dieses Staates in einer bestimmten Sprache kommunizieren zu können, geeignet, die Ausübung der Freiheit, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, zu erleichtern. Folglich haben Personen, die wie Herr Bickel und Herr Franz von ihrem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen, grundsätzlich nach Artikel 6 des Vertrages einen Anspruch darauf, nicht gegenüber den Angehörigen dieses Staates ungleich behandelt zu werden, was die Benutzung der dort verwendeten Sprachen angeht.
[19] 17. Für das Strafrecht und das Strafverfahrensrecht, zu dem die streitigen Vorschriften über die Verfahrenssprache gehören, sind zwar grundsätzlich die Mitgliedstaaten zuständig, doch setzt das Gemeinschaftsrecht nach ständiger Rechtsprechung dieser Zuständigkeit Schranken: Derartige Rechtsvorschriften dürfen weder zu einer Diskriminierung von Personen führen, denen das Gemeinschaftsrecht einen Anspruch auf Gleichbehandlung verleiht, noch die vom Gemeinschaftsrecht garantierten Grundfreiheiten beschränken (in diesem Sinne Urteil Cowan, Randnr. 19).
[20] 18. Soweit sie den Anspruch der Angehörigen der Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht, sich in einem anderen Mitgliedstaat zu bewegen und aufzuhalten, Gebrauch machen, auf Gleichbehandlung beeinträchtigen kann, muß folglich eine nationale Regelung über die vor den Strafgerichten dieses Staates zu verwendende Verfahrenssprache Artikel 6 des Vertrages beachten.
[21] 19. Auf den ersten Teil der vorgelegten Frage ist daher zu antworten, daß der durch eine nationale Regelung eröffnete Anspruch darauf, daß ein Strafverfahren in einer anderen als der Hauptsprache des betreffenden Staates durchgeführt wird, in den Anwendungsbereich des Vertrages fällt und mit Artikel 6 dieses Vertrages im Einklang stehen muß.
Zum zweiten Teil der Frage
[22] 20. Um jeden Verstoß gegen das Diskriminierungsverbot des Artikels 6 des Vertrages zu vermeiden, muß nach Auffassung von Herrn Bickel und Herrn Franz der Anspruch darauf, daß der Prozeß auf deutsch durchgeführt wird, allen Unionsbürgern gewährt werden, wenn dieser Anspruch allen Bürgern eines der Staaten eröffnet ist, die zur Union gehören.
[23] 21. Die italienische Regierung trägt vor, das streitige Recht sei ausschließlich den Bürgern gewährt, die zur deutschen Sprachgruppe der Provinz Bozen gehörten und in dieser Provinz wohnten. Zweck der streitigen Vorschriften sei es, die ethnisch-kulturelle Identität der Person, die zu der geschützten Minderheit gehöre, anzuerkennen. Daraus folge, daß der Anspruch auf Verwendung der Sprache der betreffenden ethnisch-kulturellen Minderheit nicht auf einen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats ausgedehnt werden dürfe, der sich in der fraglichen Region gelegentlich und vorübergehend aufhalte, da er über die Mittel verfüge, um sich, ungeachtet dessen, daß er nicht die Amtssprache des betreffenden Staates spreche, angemessen verteidigen zu können.
[24] 22. Die Kommission verweist darauf, daß der Anspruch darauf, daß das Verfahren auf deutsch durchgeführt werde, im Ausgangsfall nicht allen Personen mit italienischer Staatsangehörigkeit zuerkannt sei, sondern lediglich denjenigen, die in der Provinz Bozen wohnten und die zur deutschen Sprachgruppe dieser Provinz gehörten. Es sei daher Sache des nationalen Gerichts, zunächst einmal konkret festzustellen, ob die fragliche Regelung eine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit darstelle, sodann die Gruppe von Personen, die Opfer dieser Diskriminierung wären, abzugrenzen und schließlich zu prüfen, ob diese Diskriminierung durch objektive Umstände gerechtfertigt werden könnte.
[25] 23. Wie sich aus den Akten ergibt, behält die italienische Regelung den deutschsprachigen Bürgern der Provinz Bozen den Anspruch darauf vor, daß das Verfahren in dieser Sprache durchgeführt wird. Deutschsprachige Angehörige anderer Mitgliedstaaten, insbesondere Deutschlands und Österreichs, die sich wie Herr Bickel und Herr Franz in dieser Provinz bewegen oder aufhalten, können folglich nicht verlangen, daß ein Strafverfahren auf deutsch durchgeführt wird, obwohl diese Sprache nach den nationalen Vorschriften der italienischen Sprache gleichgestellt ist.
[26] 24. Daraus ergibt sich, daß deutschsprachige Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die sich in der Provinz Bozen bewegen und aufhalten, gegenüber den deutschsprachigen italienischen Staatsangehörigen, die in dieser Region wohnen, benachteiligt sind. Während nämlich ein deutschsprachiger italienischer Staatsangehöriger, der in der Provinz Bozen wohnt und gegen den dort Anklage erhoben wird, erreichen kann, daß das Verfahren auf deutsch durchgeführt wird, wird dieses Recht einem deutschsprachigen Angehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der sich in dieser Provinz bewegt, verweigert.
[27] 25. Selbst unterstellt, daß, wie die italienische Regierung vorträgt, die deutschsprachigen Angehörigen anderer Mitgliedstaaten, die in der Provinz Bozen wohnen, sich auf die streitige Regelung berufen und dort auf deutsch plädieren können, so daß keine Ungleichbehandlung der Einwohner der Region aus Gründen der Staatsangehörigkeit vorläge, ist doch festzustellen, daß die italienischen Staatsangehörigen gegenüber den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten begünstigt sind. Die meisten deutschsprachigen italienischen Staatsangehörigen können nämlich verlangen, daß während des gesamten Verfahrens in der Provinz Bozen deutsch verwendet wird, weil sie das in der streitigen Regelung vorgesehene Wohnsitzerfordernis erfüllen, während die meisten deutschsprachigen Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten sich auf das durch diese Regelung eingeräumte Recht nicht berufen können, da sie dieses Kriterium nicht erfüllen.
[28] 26. Folglich begünstigt eine Regelung wie diejenige des Ausgangsrechtsstreits, nach der der Anspruch darauf, daß ein Strafverfahren im Gebiet einer bestimmten Körperschaft in der Sprache des Betroffenen durchgeführt wird, davon abhängig ist, daß dieser dort wohnt, begünstigt folglich die einheimischen Staatsangehörigen gegenüber den Angehörigen der anderen Mitgliedstaaten, die ihr Recht auf freien Verkehr ausüben, und verstößt somit gegen das Diskriminierungsverbot des Artikels 6 des Vertrages.
[29] 27. Ein solches Wohnorterfordernis wäre nur dann gerechtfertigt, wenn es auf objektiven, von der Staatsangehörigkeit der Betroffenen unabhängigen Erwägungen beruhte und in einem angemessenen Verhältnis zu dem Zweck stünde, der mit den nationalen Rechtsvorschriften zulässigerweise verfolgt wird (vgl. in diesem Sinn Urteil vom 15. Januar 1998 in der Rechtssache C-15/96, Schöning/Kougebetopoulou, Slg. 1998, I-47, Randnr. 21).
[30] 28. Dies trifft jedoch, wie sich aus dem Vorlagebeschluß ergibt, auf die streitige Regelung nicht zu.
[31] 29. Das Vorbringen der italienischen Regierung, diese Regelung solle die in der betreffenden Provinz wohnende ethnisch-kulturelle Minderheit schützen, stellt im vorliegenden Zusammenhang keine gültige Rechtfertigung dar. Gewiß kann der Schutz einer Minderheit wie der hier betroffenen ein legitimes Ziel darstellen. Aus den Akten ergibt sich jedoch nicht, daß dieses Ziel durch die Ausdehnung der streitigen Regelung auf deutschsprachige Angehörige anderer Mitgliedstaaten, die von ihrem Recht auf freien Verkehr Gebrauch machen, gefährdet würde.
[32] 30. Überdies haben Herr Bickel und Herr Franz in der mündlichen Verhandlung unwidersprochen vorgetragen, die betroffenen Gerichte könnten die Verfahren auf deutsch durchführen, ohne daß dies zu Schwierigkeiten oder zusätzlichen Kosten führen würde.
[33] 31. Daher ist auf den zweiten Teil der Vorlagefrage zu antworten, daß Artikel 6 des Vertrages einer nationalen Regelung entgegensteht, die Bürgern, die eine bestimmte Sprache sprechen, bei der es sich nicht um die Hauptsprache des betreffenden Mitgliedstaats handelt, und die im Gebiet einer bestimmten Körperschaft leben, den Anspruch darauf einräumt, daß Strafverfahren in ihrer Sprache durchgeführt werden, ohne dieses Recht auch den Angehörigen anderer Mitgliedstaaten einzuräumen, die dieselbe Sprache sprechen und sich in diesem Gebiet bewegen und aufhalten.
Kosten
[34] 32. Die Auslagen der italienischen Regierung und der Kommission, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.
1: Verfahrenssprache: Italienisch