Bundessozialgericht
Übergangsrecht – Unfallversicherung – nicht begünstigender DDR-Bescheid – Bestandskraft – Durchbrechung – Regel-Ausnahme-Verhältnis – Unfall vor dem 1. 1. 1991 – rechtsstaatliche Grundsätze
Eine Überprüfung bindender Bescheide der DDR über die Ablehnung der Anerkennung von Arbeitsunfällen nach Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet ist in der Regel ausgeschlossen (Fortführung von BSG vom 11. 5. 1995 – 2 RU 24/94 = BSGE 76, 124 = SozR 3—8100 Art 19 Nr 1 und von BSG vom 18. 3. 1997 2 RU 19/96 = BSGE 80, 119 = SozR 3—1300 § 48 Nr 61).

BSG, Urteil vom 23. 3. 1999 – B 2 U 8/98 R (lexetius.com/1999,1447)

[1] Tatbestand: Die Beteiligten streiten über die Anerkennung und Entschädigung des Unfalls des Klägers vom 14. April 1977 als Arbeitsunfall.
[2] Der am 7. Mai 1957 geborene Kläger war seit November 1976 als Wehrpflichtiger Angehöriger der Grenztruppe der ehemaligen DDR. Am Abend des 14. April 1977 fand ein Kompaniefest für die Einheit des Grenzausbildungsregiments, dem der Kläger angehörte, im Kulturhaus "Karl Marx" in Johanngeorgenstadt statt. Nach Beendigung der Feier um 20. 45 Uhr rückte die Einheit auf Befehl wieder in ihre Unterkunft ein. Der stark angetrunkene Kläger wurde in die Kaserne transportiert und dort im Clubraum der Einheit eingeschlossen, der sich im Hochparterre befand. Gegen 22. 00 Uhr wurde er besinnungslos unterhalb des Fensters des Clubraums im Freien liegend aufgefunden. Er war aus ca 3 m Höhe auf den Hinterkopf gestürzt. Im Krankenhaus wurde eine schlaffe Lähmung der unteren Extremitäten als Folge einer Rückenmarksverletzung diagnostiziert. Die betreffenden Wirbel waren mehrfach gebrochen.
[3] Am 31. August 1977 erhielt der Kläger den Bescheid, daß der Unfall als Dienstbeschädigung nicht anerkannt werde, da dieser im Widerspruch zur Versorgungsordnung der Nationalen Volksarmee (NVA) stehe. Die hiergegen gerichtete Eingabe des Klägers lehnte die NVA mit Bescheid vom 9. Dezember 1977 ab. Die am 14. Februar 1979 vor dem Kreisgericht Schwarzenberg – Zivilkammer – erhobene Feststellungsklage gegen die NVA blieb erfolglos. Das Bezirksgericht Karl-Marx-Stadt (heute: Chemnitz) wies die Beschwerde als offensichtlich unbegründet ab, da für die Anerkennung von Dienstunfällen der Gerichtsweg ausgeschlossen sei.
[4] Am 13. August 1991 zeigte die Deutsche Angestellten Krankenkasse (DAK) den Unfall gemäß § 1503 der Reichsversicherungsordnung (RVO) der Beklagten an. Diese lehnte die Anerkennung eines Arbeitsunfalles ab (Bescheid vom 23. Juli 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1992). Nach § 220 Abs 5 des Arbeitsgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik (AGB) sei ein Unfall nicht als Arbeitsunfall anzuerkennen, als dessen Ursache Alkoholmißbrauch festgestellt worden sei. Der Kläger sei infolge seiner Volltrunkenheit als alleinige Ursache aus dem Fenster gesprungen. Der Verletzung der Aufsichtspflicht durch den vorgesetzten Offizier komme nur eine untergeordnete Bedeutung zu.
[5] Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. September 1994). Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und festgestellt, daß der Unfall vom 14. April 1977 ein Arbeitsunfall iS der Sozialversicherung gewesen sei. Es hat ferner die Beklagte verurteilt, dem Kläger hieraus die gesetzlichen Leistungen zu gewähren (Urteil vom 18. November 1996). Bereits die neue eigenständige Ablehnungsentscheidung der Beklagten sei rechtswidrig, so daß eine rechtliche Überprüfung des Bescheides vom 31. August 1977 entfalle. Nach § 1150 Abs 2 RVO gälten Unfälle, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle gewesen seien, als Arbeitsunfälle iS der RVO. Dies sei hier der Fall. Nach § 5 der Verordnung über die Besoldung der Wehrpflichtigen für die Dauer des Dienstes in der Nationalen Volksarmee (Besoldungsverordnung) vom 24. Januar 1962 (GBl DDR II 49 – WPflBesVO) idF der Dritten Verordnung zur Änderung der Besoldungsverordnung vom 23. Januar 1975 (GBl DDR I 136) gälten durch Ausübung des Dienstes erlittene Körper- und Gesundheitsschäden als Folge von Arbeitsunfällen. Daß der Kläger einen Unfall erlitten habe, sei unzweifelhaft. Es handele sich auch um einen Arbeitsunfall in der Gestalt eines Dienstunfalles während der Ausübung des Wehrdienstes iS von § 5 WPflBesVO. Dies hätten auch die damals unmittelbar Verantwortlichen bis hin zum Leiter der Rechtsabteilung beim Minister für Nationale Verteidigung nicht anders gesehen. Nur der damalige Armeegeneral Hoffmann habe in seiner Weisung vom 6. Dezember 1977 die Anerkennung als Arbeitsunfall verhindert, um den Alkoholmißbrauch zu bekämpfen. Es habe ein Zusammenhang mit dem befohlenen militärischen Dienst bestanden. Daher sei das damals gültige Recht der DDR iS von § 1150 Abs 2 Satz 1 RVO von der Rechtsabteilung des Ministeriums für Nationale Verteidigung richtig angewandt worden, dessen Umsetzung aber vom Armeegeneral – wohl aus Gründen der Militärraison – verhindert worden sei. Ein von den Vorgesetzten unter deren Aufsicht geduldeter und forcierter, wenn nicht gar angeordneter Alkoholkonsum könne auch nicht als "Mißbrauch" iS des § 220 Abs 5 AGB angesehen werden.
[6] Durch die bundesdeutsche gesetzliche Regelung iVm dem Zuteilungsschlüssel sei die Beklagte für die Entscheidung über die Leistung zuständig und verantwortlich. Die Beiladung eines anderen Rechtsträgers – etwa der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch den Minister der Verteidigung – komme somit nicht in Betracht.
[7] Mit der – vom Senat zugelassenen – Revision rügt die Beklagte die Verletzung materiellen Rechts. Die Auffassung des LSG, daß ein Arbeitsunfall iS des § 1150 Abs 2 RVO vorgelegen habe, sei unzutreffend. Nach § 5 Abs 1 und 2 WPflBesVO seien nicht die Voraussetzungen eines Arbeitsunfalles zu prüfen gewesen, sondern der durch Ausübung des Dienstes erlittene Unfall (Dienstunfall) sei als Arbeitsunfall fingiert worden. Nur für die Folgen, die Rentenzahlung, sei die Sozialversicherung zuständig gewesen (§§ 23 ff der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialversicherung – Rentenverordnung [RentenVO-DDR] – vom 4. April 1974, GBl DDR I 201). Somit habe es sich nach DDR-Recht nicht um einen Arbeitsunfall gehandelt. Zudem liege ein Arbeitsunfall gemäß § 1150 Abs 2 RVO nur vor, wenn der Verletzte einen Anspruch gegenüber dem Sonderversorgungssystem der NVA oder gegenüber der Sozialversicherung der DDR gehabt habe (vgl HVBG-Info 1992, 950). Dies sei hier vom Ministerium für Nationale Verteidigung verbindlich abgelehnt worden.
[8] Auch die Zuständigkeit der Beklagten sei nicht gegeben. Die Entscheidung über das Vorliegen eines Dienstunfalles habe in der DDR das Ministerium für Nationale Verteidigung getroffen. Nach der Versicherungsordnung-NVA sei die Entscheidung über die Anerkennung eines Unfalls als Dienstunfall, als Unfall in Ausübung gesellschaftlicher Tätigkeiten oder als Wegeunfall von den Vorgesetzten ab Dienstgrad Kommandeur des Truppenteils oder Gleichgestellter aufwärts getroffen worden (vgl HVBG-Info 1993, 180). Zuständig sei folglich der Bundesminister für Verteidigung (BMV) als Funktionsnachfolger (vgl Übersicht des BMA, HVBG-Info 1991, 1473). Selbst wenn man die Zuständigkeit der Beklagten annehme, so bestehe wegen des Alkoholmißbrauchs des Klägers weder nach DDR-Recht noch nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) Versicherungsschutz.
[9] Das Urteil des LSG beruhe zudem auf einem Verfahrensfehler. Der BMV hätte als Funktionsnachfolger des Ministeriums für Nationale Verteidigung nach § 75 Abs 2 Alternative 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) notwendig beigeladen werden müssen, weil die Entscheidung, ob ein Dienstunfall vorliege, diesem gegenüber nur einheitlich ergehen könne.
[10] Die Beklagte beantragt sinngemäß, das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 18. November 1996 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Chemnitz vom 8. September 1994 zurückzuweisen.
[11] Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
[12] Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
[13] Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
[14] Entscheidungsgründe: Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat entgegen der Auffassung des LSG keinen Anspruch, wegen des Unfallereignisses vom 14. April 1977 aus der gesetzlichen Unfallversicherung entschädigt zu werden.
[15] Zutreffend ist das LSG zunächst davon ausgegangen, daß die Beklage keine Entscheidung nach § 44 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) iVm Art 19 des Einigungsvertrages (EinigVtr) vom 31. August 1990 (BGBl II S 889) hinsichtlich des dem Kläger am 31. August 1977 bekannt gegebenen Bescheides der Grenztruppen der DDR über die Ablehnung der Anerkennung des Unfalls vom 14. April 1977 als Dienstbeschädigung getroffen hat. Vielmehr hat die Beklagte mit dem hier angefochtenen Bescheid vom 23. Juli 1992 idF des Widerspruchsbescheides vom 16. Dezember 1992 eine neue sachliche Entscheidung iS eines sog Zweitbescheides erteilt, der den Klageweg (neu) eröffnet (vgl BSG SozR 3—4100 § 94 Nr 1; KassKomm-Steinwedel § 44 SGB X RdNrn 13 ff; Meyer-Ladewig, SGG, 6. Aufl, 1998, Nach § 54 RdNr 9). Denn die Beklagte hat weder in ihrem Bescheid vom 23. Juli 1992 noch im Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 1992 auf die früheren Entscheidungen der Grenztruppen der DDR Bezug genommen und damit nicht einen früheren Verwaltungsakt geprüft, sondern einen hiervon unabhängigen Verwaltungsakt erlassen.
[16] Nach § 1150 Abs 2 RVO gelten Unfälle, die vor dem 1. Januar 1992 eingetreten sind und die nach dem im Beitrittsgebiet geltenden Recht Arbeitsunfälle der Sozialversicherung waren, als Arbeitsunfälle im Sinne der RVO. Diese Vorschrift fingiert damit alle bereits eingetretenen Unfälle, die nach dem Recht des Beitrittsgebietes als Versicherungsfälle anzuerkennen waren, als Arbeitsunfälle nach der RVO mit Ansprüchen ab dem 1. Januar 1992, auch wenn sie nach der RVO keine Versicherungsfälle gewesen wären (vgl Bereiter-Hahn/Schieke/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, 4. Aufl, § 1150 RdNr 2).
[17] Der Kläger hat den Unfall am 14. April 1977 zwar bei der Grenztruppe der DDR als Wehrpflichtiger erlitten; gleichwohl ergibt sich die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger zur Entscheidung der Frage der Entschädigung wegen der Folgen dieses Unfalls. Dazu hat das LSG zutreffend festgestellt, daß nach dem zum Unfallzeitpunkt gültigen § 5 Abs 1 WPflBesVO die durch Ausübung des Dienstes erlittenen Körper- oder Gesundheitsschäden von Wehrpflichtigen als Folge von Arbeitsunfällen bzw Berufserkrankungen galten. Eine Entschädigung erfolgte im streitigen Zeitraum ggf nach Ausscheiden aus dem aktiven Wehrdienst gemäß § 5 Abs 2 WPflBesVO durch die allgemeine Sozialversicherung der DDR. Gleiches galt auch nach Einführung des § 220 Abs 4 des Arbeitsgesetzbuches der Deutschen Demokratischen Republik (AGB-DDR) vom 16. Juni 1977 (GBl DDR I 185) iVm § 11 der Verordnung zur Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten – SVO – vom 17. November 1977 (GBl DDR I 373). Damit wurden in der DDR Dienstunfälle von Wehrpflichtigen nicht nur von ihrer Bezeichnung her den Arbeitsunfällen gleichgestellt; sie wurden grundsätzlich auch entsprechend aus der allgemeinen Sozialversicherung entschädigt. Demgegenüber galten für die aktiven Angehörigen der bewaffneten Organe und der Zollverwaltung der ehemaligen DDR Sonderversorgungssysteme.
[18] Der EinigVtr hat Ansprüche und Anwartschaften wegen vor dem 3. Oktober 1990 eingetretener Arbeitsunfälle, die nicht im inneren Zusammenhang mit Verrichtungen im engeren Staatsdienst der DDR verursacht worden sind, in die gesetzliche Unfallversicherung überführt, wenn es sich hierbei um Arbeitsunfälle oder Berufskrankheiten iS der allgemeinen Sozialversicherung der DDR gehandelt hat. Hingegen hat er die Regelungen der Sonderversorgungssysteme ua über Renten aufgrund von Dienstunfällen nicht in die gesetzliche Unfallversicherung übergeleitet, sondern dem Sachgebiet "Rentenversicherung" (iS des EinigVtr) zugeordnet (vgl BSGE 74, 184, 187 = SozR 3—8570 § 11 Nr 1; BSG SozR 3—8570 § 11 Nr 3). Daraus ergab sich die Regelung des § 1150 Abs 2 RVO. Dementsprechend ist die Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger grundsätzlich zu bejahen bei Dienstbeschädigungen von ehemaligen Wehrpflichtigen der NVA, da diese, ausgenommen bei einer im Umgang mit Kampfmunition und infolge eines rechtswidrigen Angriffs erlittenen Dienstbeschädigung, nicht den Sonderversorgungssystemen unterlagen, sondern wie Arbeitsunfälle behandelt und entsprechend der Verordnung über die Gewährung und Berechnung von Renten der Sozialversicherung (Renten VO-DDR) vom 4. April 1974 (GBl DDR I 201) entschädigt wurden (vgl hierzu insgesamt Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften in HV-Info 1991, 1471, 1992, 950 und 1993, 179; Besprechungsergebnisse der Spitzenverbände der Krankenkassen vom 3. Juni 1993 in WzS 1993 216; Rundschreiben des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 8. Oktober 1991 – VIa 1—52056 in BABl 1991 81 unter Nrn 2 und 3).
[19] Zwar können ehemalige Wehrpflichtige der NVA, die vor dem 19. Mai 1990 in die damalige Bundesrepublik Deutschland übergesiedelt sind, einen ausschließlichen Anspruch auf Versorgung im Wege des Härteausgleichs nach § 82 Abs 2 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) iVm § 89 Abs 1 BVG haben (vgl Rundschreiben des BMA vom 8. Oktober 1991 – VIa 1—52056, aaO unter Nr 1; BSG-Urteil vom 4. Februar 1998 – B 9 V 6/96 R –; BSG-Urteil vom 25. Oktober 1989 – 2 RU 40/86 – SGb 1990, 465), sofern die Dienstbeschädigung nicht bei Ableistung des freiwilligen Wehrdienstes eingetreten ist (BSGE 78, 265, 267 = SozR 3—5050 § 5 Nr 2). Vorliegend ist der Kläger jedoch nicht in die Bundesrepublik Deutschland bzw die alten Bundesländer übergesiedelt, so daß ein Härteausgleich nach dem BVG nicht in Betracht kommt. Ein Fall der notwendigen Beiladung gemäß § 75 Abs 2 SGG der Bundesrepublik Deutschland liegt damit ebensowenig vor wie der des Freistaates Sachsen (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 75 RdNrn 10 und 12).
[20] Die Beklagte ist auch entgegen ihrem Revisionsvortrag der für die Entscheidung zuständige Unfallversicherungsträger, wie sie selbst in der Begründung des hier angefochtenen Bescheides vom 23. Juli 1992 ausgeführt hat. Nach Anlage I Kap VIII Sachgebiet I Abschn III Nr 1 Buchst c Abs 8 Nr 2 EinigVtr wurden die Träger der Unfallversicherung ab 1. Januar 1991 im Beitrittsgebiet (Art 3 EinigVtr) für die Durchführung der Aufgaben der Unfallversicherung zuständig. Nach Anlage I Kap VIII Sachgebiet I Abschn III Nr 1 Buchst c Abs 8 Nr 2 Buchst aa Satz 2 EinigVtr wurden die Arbeitsunfälle numerisch nach Geburtstag und -monat des Leistungsempfängers, innerhalb eines Geburtstages alphabetisch nach dem Familiennamen auf die Träger der Unfallversicherung verteilt (vgl BSGE 79, 23 = SozR 3—8110 Kap VIII J III Nr 1 EinigVtr Anlage I Nr 1 mwN). Dementsprechend hat der Hauptverband der gewerblichen Berufsgenossenschaften gemäß Anlage I Kap VIII Sachgebiet I Abschn III Nr 1 Buchst c Abs 8 Nr 2 Buchst bb EinigVtr eine Liste über die "Zuständigkeit der Unfallversicherungsträger – Arbeitsunfälle/Berufskrankheiten bis 31. Dezember 1990 erstellt" (vgl Petri ua, Leistungsgewährung bei Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den neuen Bundesländern, 1993, S 93), nach der die Beklagte für Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten ab dem Geburtsdatum vom 2. Mai bis 10. Mai der zuständige Unfallversicherungsträger ist. Dies trifft auf den Kläger zu.
[21] Zwar erfolgte die Verteilung der Arbeitsunfälle zunächst anhand des Rentenbestandes für den Zahlmonat Januar 1991 (vgl § 1159 Satz 1 RVO). Da aber der Bestand an Arbeitsunfällen im Beitrittsgebiet zu diesem Zeitpunkt nicht endgültig erfaßt war, werden die im Rentenbestand für den Zahlmonat 1991 nicht erfaßten Arbeitsunfälle gemäß § 1159 Satz 2 RVO ebenfalls nach dem Verteilungsschlüssel verteilt, um eine ständige Neuabgrenzung der internen Zuweisung zu vermeiden (BT-Drucks 12/405, S 158).
[22] Entgegen der Auffassung des LSG sind die Bescheide der Beklagten im Ergebnis allerdings nicht zu beanstanden. Zwar hätte die Beklagte keine neue sachliche Entscheidung iS eines sog Zweitbescheides erteilen dürfen, der – wie bereits erörtert – den Rechtsweg neu eröffnet. Dies könnte nämlich zu einer Umgehung der Bestimmungen des EinigVtr über die Bestandskraft bzw die Aufhebung von Verwaltungsakten der ehemaligen DDR führen, was einen Ausschlußgrund für die Erteilung eines Zweitbescheides darstellt. Denn nach Art 19 Sätze 1 und 3 EinigVtr sind die dem Kläger erteilten Ablehnungsbescheide der ehemaligen NVA über den 2. Oktober 1990 hinaus wirksam und iS von § 77 SGG zwischen dem Kläger und der Beklagten als der nach Anlage I Kap VIII Sachgebiet I Abschn III Nr 1 Buchst c Abs 8 Nr 2 EinigVtr zuständigen "Rechtsnachfolgerin" bindend geblieben. Entsprechendes hat der Senat in Bezug auf Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten bereits festgestellt, die nach DDR-Recht vor dem 3. Oktober 1990 bindend anerkannt waren (Urteil vom 11. Mai 1995 – 2 RU 26/94 – HVBG-Info 1995, 2061; BSGE 76, 124 = SozR 3—8100 Art 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 121 = SozR 3—1300 § 48 Nr 61). Gleiches gilt auch für Verwaltungsakte der ehemaligen DDR, durch die die Anerkennung von Arbeitsunfällen oder Berufskrankheiten vor dem 3. Oktober 1990 bindend abgelehnt worden sind. Folglich hätte die Beklagte zunächst eine Aufhebung der dem Kläger am 31. August und 9. Dezember 1977 erteilten Bescheide prüfen müssen und keine eigenständige neue sachliche Entscheidung treffen dürfen. Im Ergebnis ändert dies hier jedoch nichts an der weiteren Bestandskraft dieser Bescheide.
[23] In den og Entscheidungen hat der Senat entschieden, daß nach Art 19 Sätze 1 und 3 EinigVtr Verwaltungsakte der ehemaligen DDR, die vor dem Wirksamwerden des Beitritts ergangen sind, grundsätzlich wirksam bleiben. Diese Verwaltungsakte können nur aufgehoben werden, wenn sie mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr unvereinbar sind (Art 19 Satz 2 EinigVtr); unberührt bleiben daneben auch die Vorschriften über die Bestandskraft von Verwaltungsakten (Art 19 Satz 3 EinigVtr). Art 19 Satz 1 EinigVtr einerseits und Art 19 Sätze 2 und 3 EinigVtr andererseits stehen in einem Regel-Ausnahme-Verhältnis. Die Wirksamkeit von Verwaltungsakten der früheren DDR-Behörden ist danach die Regel, die Möglichkeit der Aufhebung nach Art 19 Sätze 2 oder 3 EinigVtr stellt die an enge Voraussetzungen gebundene Ausnahme dar. Daraus ergibt sich im Umkehrschluß, daß im Regelfall eine Aufhebung nicht erfolgt. Damit trägt der EinigVtr dem Umstand Rechnung, daß eine vollständige Aufarbeitung von 40 Jahren DDR-Verwaltungspraxis anhand der Prüfungsmaßstäbe der nach dem EinigVtr auch in den neuen Bundesländern – nunmehr – geltenden Rechtsordnung unmöglich wäre. Sie könnte an unüberwindlichen Schwierigkeiten der Sachverhaltsaufklärung scheitern, zur Funktionsunfähigkeit der Rechtspflege und auch zu neuen Ungerechtigkeiten führen (Thür OVG DÖV 1994, 964; BSGE 76, 124, 125 = SozR 3—8100 Art 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 121 = SozR 3—1300 § 48 Nr 61). Die rechtliche Überprüfung der verbindlich gebliebenen am 31. August und 9. Dezember 1977 erteilten Bescheide hat sich somit an Art 19 Sätze 2 und 3 EinigVtr zu orientieren. Dabei kommt es des weiteren auch nicht darauf an, ob diese rechtmäßig sind oder auch dem damaligen DDR-Recht widersprachen. Denn eine Aufhebung kommt nach Art 19 Satz 2 EinigVtr nur dann in Betracht, wenn die Bescheide mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr unvereinbar sind. Diese Regelung ist damit insbesondere auf Eingriffsakte in bestehende subjektive (vor allem: Menschen-) Rechte zugeschnitten (BSG SozR 3—1300 § 44 Nr 8). Für einen derartigen Eingriff gibt es hier keine Anhaltspunkte.
[24] Ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze ergibt sich nicht bereits aus dem Umstand, daß eine Klage gegen die Ablehnungsbescheide nach DDR-Recht nicht durch Gerichte überprüft werden konnte, oder daraus, daß diese Bescheide ggf nach den damals geltenden DDR-Vorschriften rechtswidrig gewesen sein könnten. Dies würde nämlich bedeuten, daß alle von DDR-Behörden erlassenen Verwaltungsakte nach Art 19 Satz 2 EinigVtr aufgehoben werden könnten. Gerade das sollte aber durch das og Regel-Ausnahme-Verhältnis zwischen Art 19 Abs 1 und 2 EinigVtr ausgeschlossen werden. Art 19 EinigVtr gibt über bloße Vertrauensschutzgesichtspunkte hinaus der Rechtssicherheit grundsätzlich den Vorrang vor der Einzelfallgerechtigkeit (Thür OVG aaO). Die nähere Bestimmung der rechtsstaatlichen Grundsätze iS des Art 19 Satz 2 EinigVtr ergibt sich aus der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes [BVerfG] zu Art 79 Abs 3 Grundgesetz [GG] (BVerfGE 84, 90, 120f). Der dort umschriebene Kernbereich der verfassungsmäßigen Ordnung ist gleichfalls der Maßstab für Art 19 Satz 2 EinigVtr (so auch Thür OVG aaO). Danach sind die in Art 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze zu wahren. Hierzu gehören der in Art 1 Abs 1 GG verankerte Grundsatz der Menschenwürde sowie das in Art 1 Abs 2 GG enthaltene Bekenntnis zu den Menschenrechten. Art 1 Abs 3 GG verweist des weiteren auf die nachfolgenden Grundrechte, die somit einer Einschränkung insoweit entzogen sind, als sie zur Aufrechterhaltung einer den Art 1 Abs 1 und 2 GG entsprechenden Ordnung unverzichtbar sind. Zu berücksichtigen sind insoweit der Grundsatz der Rechtsgleichheit und das Willkürverbot. Im Sinne des Art 20 Abs 1 und 3 GG sind die grundlegenden Elemente des Rechts- und Sozialstaatsprinzips zu beachten (BVerfGE 84, 90, 121 mwN). Diese Grundsätze werden durch die Ablehnungsbescheide der ehemaligen NVA nicht verletzt.
[25] Es gibt keine allgemein gültige Schlußfolgerung dahingehend, daß ein Verwaltungsakt, selbst wenn er nach den früheren DDR-Vorschriften rechtswidrig sein sollte, aus diesem Grunde einen so schwerwiegenden Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze darstellt, das er nach Art 19 Satz 2 EinigVtr aufgehoben werden müßte. Maßgeblich ist insoweit lediglich, ob der Verwaltungsakt in der Art seines Zustandekommens oder in seinen Auswirkungen die elementaren Gerechtigkeitsvorstellungen verletzt, die den Kernbereich des Rechtsstaatsprinzips bilden (Thür OVG, aaO; BSGE 80 119, 121 = SozR 3—1300 § 48 Nr 61). In diesem Sinne ist aber eine Ablehnung der Anerkennung eines Unfallereignisses wegen übermäßigen Alkoholkonsums ein im kausalitätsbezogenen Unfallversicherungsrecht übliches Kriterium. Dies belegt sowohl für das DDR-Recht der spätere § 220 Abs 5 AGB-DDR als auch die Rechtsprechung des BSG für die Bundesrepublik Deutschland (zB BSGE 48, 224 = SozR 2200 § 548 Nr 45, Urteil vom 27. November 1986 – 2 RU 67/85 –, USK 86199; BSG SozR 3—2200 § 548 Nr 9; BSG Beschluß vom 2. März 1993 – 2 BU 214/92 – HV-Info 1993, 2303). Gleiches kann nach der Rechtsprechung des Senats auch im Falle eines unternehmensbedingten Alkoholgenusses gelten (Urteil vom 5. Juli 1994 – 2 RU 34/93 –, BB 1994, 2209). Auch eine unter Umständen zu Unrecht abgelehnte Entschädigung des Unfallereignisses vom 14. April 1977 verstößt nicht gegen die og rechtsstaatlichen Grundsätze. Insbesondere der Grundsatz der Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip bleiben gewahrt, da die Unfallfolgen von der Krankenversicherung des Klägers aufgefangen werden. Die genannten Grundsätze hindern den Gesetzgeber nicht, die positiv rechtliche Ausprägung dieser Grundsätze aus sachgerechten Gründen zu modifizieren (BVerfGE 84, 90, 121 mwN). Sinn und Zweck der Regelung des Art 19 EinigVtr war entsprechend der Gesamtproblematik bei der Zusammenführung beider Rechtssysteme neben den dargestellten Überlegungen die Schaffung von Rechtssicherheit, Rechtseindeutigkeit und Rechtsfrieden. Dies haben die Parteien des EinigVtr ua im Rahmen der Regelung offener Vermögensfragen auch ausdrücklich betont (s Gemeinsame Erklärung der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zur Regelung offener Vermögensfragen vom 14. Juni 1990, Art 41 Abs 1 iVm Anlage III EinigVtr). Somit könnten selbst einzelne Verstöße gegen das ehemalige DDR-Unfallversicherungsrecht oder Verfahrensfehler keine Aufhebung der Verwaltungsakte vom 31. August und 9. Dezember 1977 rechtfertigen. Konkrete Anhaltspunkte für eine rein willkürliche und deshalb rechtsstaatlich unbeachtliche Entscheidung liegen nicht vor, zumal sog "Einzelentscheidungen" eines Staatsorgans oder eines Staatsfunktionärs (hier: General Hoffmann) im Recht der DDR nichts Unbekanntes waren (vgl BSGE 80, 119, 121 mwN = SozR 3—1300 § 48 Nr 61).
[26] Als weitere Rechtsgrundlage für die Durchbrechung der grundsätzlichen Bestandskraft von Verwaltungsakten der früheren DDR kommen die im Beitrittsgebiet nach Art 8, 19 Satz 3 EinigVtr und Anlage I Kapitel VIII Sachgebiet D Abschn III Nr 2 EinigVtr anwendbaren §§ 44, 45 und 48 SGB X in Betracht. Hierbei ist jedoch die Überprüfung der DDR-Bescheide unter Beachtung des og Gesichtspunktes des vorrangigen Bestandsschutzes auch nach diesen Bestimmungen nur eingeschränkt möglich (BSG SozR 3—1300 § 44 Nr 8; BSGE 76, 124, 125 = SozR 3—8100 Art 19 Nr 1; BSGE 80, 119, 122 = SozR 3—1300 § 48 Nr 61). Hiervon ausgehend sind die Voraussetzungen weder des § 44 noch des § 45 oder § 48 SGB X vorliegend gegeben.
[27] Eine Rücknahme nach § 45 SGB X scheidet hier schon deshalb aus, weil diese Vorschrift lediglich die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes regelt. Die am 31. August und 9. Dezember 1977 erteilten Bescheide waren aber für den Kläger nicht begünstigende Verwaltungsakte.
[28] Die Vorschrift des § 48 SGB X enthält die Verpflichtung der Behörde, einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – und hierzu gehören auch Bescheide, die eine Unfallanerkennung ablehnen – aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlaß vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Bescheid also unter den nunmehr vorliegenden Gegebenheiten nicht oder nicht wie geschehen erlassen werden durfte. Es kann dahingestellt bleiben, ob seit Erteilung der Bescheide vom 31. August 1977 und 9. Dezember 1977 eine wesentliche Änderung eingetreten ist. Denn nach Anlage I Kap VIII Sachgebiet D Abschnitt III Nr 2 EinigVtr ist für den Bereich der Unfallversicherung § 48 SGB X für Zeiten und Sachverhalte ab dem 1. Januar 1991 anzuwenden (vgl BSG SozR 3—1300 § 44 Nr 8 für den Bereich der Rentenversicherung). Wie der Senat bereits entschieden hat, ist allein durch die Überleitung bundesdeutschen Rechts auf das Beitrittsgebiet eine wesentliche Änderung insbesondere in den rechtlichen Verhältnissen iS des § 48 SGB X nicht eingetreten (BSGE 76, 124 = SozR 3—8100 Art 19 Nr 1 mwN). Aufgrund der Überleitung wird über die Frage, ob es sich bei dem Unfall des Klägers um einen Arbeitsunfall gehandelt hat, nicht neu entschieden.
[29] Gemäß § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, daß bei Erlaß des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Diese Regelung findet zwar grundsätzlich auch auf Bescheide der Unfallversicherungsträger Anwendung (BSGE 63, 18 = SozR 1300 § 44 Nr 31; BSGE 63, 214, 216 = SozR 1300 § 44 Nr 34). Sie kann vorliegend aber selbst bei rechtswidriger Anwendung des ehemaligen DDR-Rechts ebenfalls nicht zur Rücknahme der am 31. August und 9. Dezember 1977 erteilten Bescheide führen. Wie das BSG bereits für den Bereich der Rentenversicherung entschieden hat (BSG SozR 3—1300 § 44 Nr 8), können Rentenbescheide des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) für Bewilligungs- und Zahlungszeiträume vor dem 1. Januar 1991 nicht nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X vom Rentenversicherungsträger zurückgenommen werden, weil diese Regelung gemäß Anlage I Kap VIII Sachgebiet D Abschn III Nr 2 des EinigVtr für den Bereich der Rentenversicherung erst "ab 1. Januar 1991 anzuwenden" ist. § 44 Abs 1 und 4 SGB X ist nur für Zeiten und Sachverhalte ab dem 1. Januar 1991 anwendbar. Dies gilt nach dieser Vorschrift des EinigVtr ausdrücklich ebenso für die gesetzliche Unfallversicherung. Eine Feststellung der Rechtswidrigkeit der früher ergangenen Verwaltungsakte der DDR kann daher nicht nach § 44 SGB X, sondern ebenfalls nur unter Beachtung des Regel-Ausnahme-Verhältnisses des Art 19 EinigVtr erfolgen. Insoweit liegt hier aber nach den obigen Ausführungen keine Unvereinbarkeit mit rechtsstaatlichen Grundsätzen oder mit den Regelungen des EinigVtr iS des Art 19 Satz 2 EinigVtr vor. Jede andere Handhabung der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes der DDR würde den erkennbaren Willen der Parteien des EinigVtr in sein Gegenteil verkehren und eine erhebliche Rechtsunsicherheit hervorrufen. Eine Anwendung des § 44 SGB X auf Bescheide der DDR aus Zeiten vor dem 1. Januar 1991 liefe der Systematik des Art 19 EinigVtr zuwider.
[30] Nach alledem war das angefochtene Urteil des LSG somit aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
[31] Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.