Europäisches Gericht
"Wettbewerb – Artikel 85 EG-Vertrag – Wirkungen eines Nichtigkeitsurteils – Rechte der Verteidigung – Geldbuße"
1. Die Rechtssachen T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94, T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94 werden zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
2. Artikel 1 der Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli 1994 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags (IV/31. 865, PVC) wird insoweit für nichtig erklärt, als dort festgestellt wird, daß die Société artésienne de vinyle nach dem ersten Halbjahr 1981 an der beanstandeten Zuwiderhandlung beteiligt gewesen ist.
3. Die gegen die Elf Atochem SA, die Société artésienne de vinyle und die Imperial Chemical Industries plc in Artikel 3 dieser Entscheidung verhängten Geldbußen werden auf 2 600 000 Euro, 135 000 Euro bzw. 1 550 000 Euro herabgesetzt.
4. Im übrigen werden die Klagen abgewiesen.
5. Jede Klägerin trägt in ihrer jeweiligen Rechtssache ihre eigenen Kosten sowie die Kosten der Kommission. In den Rechtssachen T-307/94 und T-328/94 tragen jedoch die Elf Atochem SA, die Imperial Chemical Industries plc und die Kommission jeweils ihre eigenen Kosten. In der Rechtssache T-318/94 trägt die Société artésienne de vinyle zwei Drittel ihrer eigenen Kosten und die Kommission neben ihren eigenen Kosten ein Drittel der Kosten der Klägerin.

EuG, Urteil vom 20. 4. 1999 – T-305/94 (lexetius.com/1999,2152)

[1] In den verbundenen Rechtssachen T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94, T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94 Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Gesellschaft belgischen Rechts, Brüssel, Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Inne G. F. Cath, zugelassen beim Hoge Raad der Nederlanden, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Lambert Dupong, 4—6, rue de la Boucherie, Luxemburg, Elf Atochem SA, Gesellschaft französischen Rechts, Paris, Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Xavier de Roux, Charles-Henri Léger und Jacques-Philippe Gunther, Paris, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Jacques Loesch, 11, rue Goethe, Luxemburg, BASF AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Ludwigshafen (Deutschland), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Ferdinand Hermanns, Düsseldorf, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Jacques Loesch und Marc Wolters, 11, rue Goethe, Luxemburg, Shell International Chemical Company Ltd, Gesellschaft englischen Rechts, London, Prozeßbevollmächtigte: Kenneth B. Parker, QC, London, und Solicitor John W. Osborne, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Jean Hoss, 2, place Winston Churchill, Luxemburg, DSM NV und DSM Kunststoffen BV, Gesellschaften niederländischen Rechts, Heerlen (Niederlande), Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Inne G. F. Cath, zugelassen beim Hoge Raad der Nederlanden, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Lambert Dupong, 4—6, rue de la Boucherie, Luxemburg, Wacker-Chemie GmbH, Gesellschaft deutschen Rechts, München (Deutschland), Hoechst AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Frankfurt am Main (Deutschland), Prozeßbevollmächtigte der beiden Letztgenannten: Rechtsanwälte Hans Hellmann und Hans-Joachim Hellmann, Köln, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Jacques Loesch und Marc Wolters, 11, rue Goethe, Luxemburg, Société artésienne de vinyle, Gesellschaft französischen Rechts, Paris, Prozeßbevollmächtigter: Rechtsanwalt Bernard van de Walle de Ghelcke, Brüssel, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Alex Schmitt, 7, Val Sainte-Croix, Luxemburg, Montedison SpA, Gesellschaft italienischen Rechts, Mailand (Italien), Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Giuseppe Celona, Giorgio Aghina, beide Mailand, und Piero Angelo Maria Ferrari, Rom, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Georges Margue, 20, rue Philippe II, Luxemburg, Imperial Chemical Industries plc, Gesellschaft englischen Rechts, London, Prozeßbevollmächtigte: David Vaughan, QC, Barrister David Anderson, London, und Solicitors Victor White und Richard Coles, London, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Lambert Dupong, 4—6, rue de la Boucherie, Luxemburg, Hüls AG, Gesellschaft deutschen Rechts, Marl (Deutschland), Prozeßbevollmächtigte: zunächst Rechtsanwalt Hansjürgen Herrmann, Köln, später Rechtsanwalt Frank Montag, Köln, Zustellungsanschrift: Kanzlei des Rechtsanwalts Jacques Loesch, 11, rue Goethe, Luxemburg, Enichem SpA, Gesellschaft italienischen Rechts, Mailand, Prozeßbevollmächtigte: Rechtsanwälte Mario Siragusa, Rom, und Francesca Maria Moretti, Bologna, Zustellungsanschrift: Kanzlei der Rechtsanwälte Elvinger, Hoss und Prussen, 2, place Winston Churchill, Luxemburg, Klägerinnen, gegen Kommission der Europäischen Gemeinschaften, zunächst vertreten durch Berend Jan Drijber, Julian Currall und Marc van der Woude, Juristischer Dienst, als Bevollmächtigte, Beistand: Rechtsanwälte Éric Morgan de Rivery, Paris, Alexander Böhlke, Frankfurt am Main, Barrister David Lloyd Jones, London, Rechtsanwalt Renzo Maria Morresi, Bologna, und Nicholas Forwood, QC, später durch Julian Curral, Beistand: Rechtsanwalt Marc van der Woude, Brüssel, Zustellungsbevollmächtigter: Carlos Gómez de la Cruz, Juristischer Dienst, Centre Wagner, Luxemburg-Kirchberg, Beklagte, wegen Nichtigerklärung der Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli 1994 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EG-Vertrags (IV/31. 865, PVC) (ABl. L 239, S. 14) erläßt DAS GERICHT ERSTER INSTANZ DER EUROPÄISCHEN GEMEINSCHAFTEN (Dritte erweiterte Kammer) unter Mitwirkung der Präsidentin V. Tiili sowie der Richter K. Lenaerts und A. Potocki, Kanzler: J. Palacio González, Verwaltungsrat aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 9. bis 12. Februar 1998, folgendes Urteil (1):
Sachverhalt
[2] 1. Nachdem die Kommission der Europäischen Gemeinschaften am 13. und 14. Oktober 1983 eine Nachprüfung gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 des Rates vom 6. Februar 1962, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages (ABl. 1962, Nr. 13, S. 204), im Polypropylensektor vorgenommen hatte, legte sie eine besondere Akte für Polyvinylchlorid (PVC) an. In der Folge nahm sie mehrere Nachprüfungen in den Geschäftsräumen der betroffenen Unternehmen vor und richtete mehrere Auskunftsverlangen an diese.
[3] 2. Am 24. März 1988 eröffnete die Kommission gegen 14 PVC-Hersteller von Amts wegen ein Verfahren nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17. Am 5. April 1988 übermittelte sie allen diesen Unternehmen eine Mitteilung der Beschwerdepunkte gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63/EWG der Kommission vom 25. Juli 1963 über die Anhörung nach Artikel 19 Absätze (1) und (2) der Verordnung Nr. 17 des Rates (ABl. 1963, Nr. 127, S. 2268). Sämtliche Adressaten beantworteten die Mitteilung der Beschwerdepunkte im Juni 1988. Sie wurden mit Ausnahme von Shell International Chemical Company Ltd, die keinen entsprechenden Antrag gestellt hatte, im September 1988 mündlich angehört.
[4] 3. Am 1. Dezember 1988 gab der Beratende Ausschuß für Kartell- und Monopolfragen seine Stellungnahme zu dem Entscheidungsvorschlag der Kommission ab.
[5] 4. Nach Abschluß des Verfahrens erließ die Kommission die Entscheidung 89/190/EWG vom 21. Dezember 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/31. 865, PVC) (ABl. 1989, L 74, S. 1; nachstehend: ursprüngliche Entscheidung oder Entscheidung 1988). Mit dieser Entscheidung setzte die Kommission eine Geldbuße wegen Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages gegen folgende PVC-Hersteller fest: Atochem SA, BASF AG, DSM NV, Enichem SpA, Hoechst AG, Hüls AG, Imperial Chemical Industries plc, Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Montedison SpA, Norsk Hydro AS, Société artésienne de vinyle, Shell International Chemical Company Ltd, Solvay et Cie und Wacker-Chemie GmbH.
[6] 5. Alle diese Unternehmen mit Ausnahme von Solvay et Cie (nachstehend: Solvay) erhoben gegen diese Entscheidung beim Gemeinschaftsrichter Klage auf Nichtigerklärung.
[7] 6. Mit Beschluß vom 19. Juni 1990 erklärte das Gericht in der Rechtssache T-106/89 (Norsk Hydro/Kommission, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht) die Klage der Norsk Hydro für unzulässig.
[8] 7. Die in das Register der Kanzlei des Gerichts unter den Nummern T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89 eingetragenen Rechtssachen wurden zu gemeinsamem mündlichen Verfahren und zu gemeinsamer Entscheidung verbunden.
[9] 8. Mit Urteil vom 27. Februar 1992 erklärte das Gericht in den Rechtssachen T-79/89, T-84/89, T-85/89, T-86/89, T-89/89, T-91/89, T-92/89, T-94/89, T-96/89, T-98/89, T-102/89 und T-104/89 (BASF u. a./Kommission, Slg. 1992, II-315) die Entscheidung 1988 für inexistent.
[10] 9. Auf Rechtsmittel der Kommission hob der Gerichtshof mit Urteil vom 15. Juni 1994 in der Rechtssache C-137/92 P (Kommission/BASF u. a., Slg. 1994, I-2555; nachstehend: Urteil vom 15. Juni 1994) das Urteil des Gerichts auf und erklärte die Entscheidung 1988 für nichtig.
[11] 10. Auf dieses Urteil hin erließ die Kommission am 27. Juli 1994 eine neue Entscheidung gegen die von der ursprünglichen Entscheidung betroffenen Hersteller mit Ausnahme von Solvay und von Norsk Hydro AS (nachstehend: Norsk Hydro) (Entscheidung 94/599/EG der Kommission vom 27. Juli 1994 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag [IV/31. 865, PVC] [ABl. L 239, S. 14; nachstehend: Entscheidung oder zweite Entscheidung]).
[12] 11. Die zweite Entscheidung enthält u. a. folgende Artikel:
[13] "Artikel 1. BASF AG, DSM NV, Elf Atochem SA, Enichem SpA, Hoechst AG, Hüls AG, Imperial Chemical Industries Plc, Limburgse Vinyl Maatschappij NV, Montedison SpA, Société artésienne de vinyle SA, Shell International Chemical [Company] Ltd und Wacker-Chemie GmbH haben gegen Artikel 85 EWG-Vertrag verstoßen, indem sie (zusammen mit Norsk Hydro … und Solvay …) an einer Vereinbarung und/oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweise beteiligt waren, die etwa im August 1980 beschlossen wurde und auf deren Grundlage die PVC-Hersteller, die die EWG beliefern, an regelmäßigen Sitzungen teilnahmen, um Zielpreise und Zielquoten festzusetzen, abgestimmte Initiativen zur Anhebung des Preisniveaus zu planen und die Anwendung der besagten geheimen Vereinbarungen zu kontrollieren.
[14] Artikel 2. Die in Artikel 1 genannten Unternehmen, die nach wie vor auf dem PVC-Sektor in der EG tätig sind, sind verpflichtet (außer Norsk Hydro und Solvay, die bereits einer bestandskräftigen Abstellungsentscheidung unterliegen), die festgestellte Zuwiderhandlung unverzüglich abzustellen (falls sie dies noch nicht getan haben) und in Zukunft bezüglich ihrer PVC-Geschäfte von allen Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die dasselbe oder ähnliches bezwecken oder bewirken, Abstand zu nehmen. Dazu gehört der Austausch von Informationen, die normalerweise dem Geschäftsgeheimnis unterliegen und durch die Teilnehmer direkt oder indirekt über Produktion, Absatz, Lagerhaltung, Verkaufspreise, Kosten oder Investitionspläne anderer Hersteller informiert oder aufgrund derer sie in die Lage versetzt werden, die Befolgung ausdrücklicher oder stillschweigender Preis- oder Marktaufteilungsabsprachen innerhalb der Gemeinschaft zu kontrollieren. Ein Verfahren zum Austausch von den PVC-Sektor betreffenden Informationen, dem sich die Hersteller anschließen, muß unter Ausschluß sämtlicher Informationen geführt werden, aus denen sich das Marktverhalten einzelner Hersteller ableiten läßt, insbesondere dürfen die Unternehmen untereinander keine zusätzlichen wettbewerbsrelevanten Informationen austauschen, die ein solches System nicht erfaßt.
[15] Artikel 3. Gegen die in dieser Entscheidung genannten Unternehmen werden wegen des in Artikel 1 festgestellten Verstoßes folgende Geldbußen festgesetzt: i) BASF AG: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU, ii) DSM NV: eine Geldbuße von 600 000 ECU, iii) Elf Atochem SA: eine Geldbuße von 3 200 000 ECU, iv) Enichem SpA: eine Geldbuße von 2 500 000 ECU, v) Hoechst AG: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU, vi) Hüls AG: eine Geldbuße von 2 200 000 ECU, vii) Imperial Chemical Industries Plc: eine Geldbuße von 2 500 000 ECU, viii) Limburgse Vinyl Maatschappij NV: eine Geldbuße von 750 000 ECU, ix) Montedison SpA: eine Geldbuße von 1 750 000 ECU, x) Société artésienne de vinyle SA: eine Geldbuße von 400 000 ECU, xi) Shell International Chemical Company Ltd: eine Geldbuße von 850 000 ECU, xii) Wacker-Chemie GmbH: eine Geldbuße von 1 500 000 ECU."
Verfahren
[16] 12. Die Unternehmen Limburgse Vinyl Maatschappij NV (nachstehend: LVM), Elf Atochem, BASF AG (nachstehend: BASF), Shell International Chemical Company Ltd (nachstehend: Shell), DSM NV et DSM Kunststoffen BV (nachstehend: DSM), Wacker-Chemie GmbH (nachstehend: Wacker), Hoechst AG (nachstehend: Hoechst), Société artésienne de vinyle (nachstehend: SAV), Montedison SpA (nachstehend: Montedison), Imperial Chemical Industries plc (nachstehend: ICI), Hüls AG (nachstehend: Hüls) und Enichem SpA (nachstehend: Enichem) haben mit Klageschriften, die zwischen dem 5. und 14. Oktober 1994 bei der Kanzlei des Gerichts eingegangen sind, die vorliegenden Klagen erhoben.
[17] 13. Auf der Grundlage von Artikel 64 der Verfahrensordnung hat am 6. April 1995 eine Sitzung zwischen den Mitgliedern der Dritten erweiterten Kammer und den Parteien stattgefunden. In dieser Sitzung haben die Parteien sich damit einverstanden erklärt, das schriftliche Verfahren auszusetzen und die mündliche Verhandlung auf die Prüfung der verfahrensrechtlichen Klagegründe zu beschränken. Sie haben sich dabei für die Verbindung der Rechtssachen T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94, T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94 ausgesprochen.
[18] 14. Das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung, beschränkt auf die Prüfung der verfahrensrechtlichen Klagegründe, ohne vorherige Beweisaufnahme zu eröffnen.
[19] 15. Die Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer hat mit Beschluß vom 25. April 1995 (nicht in der Sammlung veröffentlicht) die Rechtssachen T-305/94, T-306/94, T-307/94, T-313/94, T-314/94, T-315/94, T-316/94, T-318/94, T-325/94, T-328/94, T-329/94 und T-335/94 wegen ihres Zusammenhangs nach Artikel 50 der Verfahrensordnung zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung verbunden.
[20] 16. Die mündliche Verhandlung hat am 13. und 14. Juni 1995 stattgefunden.
[21] 17. Mit Beschluß vom 14. Juli 1995 (nicht in der Sammlung veröffentlicht) hat die Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer die Fortsetzung des schriftlichen Verfahrens und die Aufhebung der Verbindung der Rechtssachen angeordnet.
[22] 18. Das schriftliche Verfahren ist am 20. Februar 1996 geschlossen worden.
[23] 19. Im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen hat das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) den Parteien mit Schreiben vom 7. Mai 1997 seine Entscheidung mitgeteilt, allen Klägerinnen Zugang zu gewähren zu den Akten der Kommission in der Sache, die zu der Entscheidung geführt hat, mit Ausnahme der kommissionsinternen Dokumente und der Dokumente, die Geschäftsgeheimnisse oder andere vertrauliche Angaben enthalten.
[24] 20. Nachdem die Klägerinnen im Juni und Juli 1997 Einsicht in die Akten genommen hatten, haben alle bis auf die Klägerinnen in den Rechtssachen T-315/94 und T-316/94 ihre Stellungnahme im Juli bzw. im September 1997 bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht. Die Kommission hat als Antwort hierauf im Dezember 1997 eine Stellungnahme abgegeben.
[25] 21. Mit Beschluß vom 22. Januar 1998 hat die Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts nach Anhörung der Parteien die vorliegenden Rechtssachen erneut zu gemeinsamem mündlichen Verfahren verbunden.
[26] 22. Das Gericht (Dritte erweiterte Kammer) hat auf Bericht des Berichterstatters beschlossen, die mündliche Verhandlung zu eröffnen, und hat den Parteien im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen aufgegeben, verschiedene schriftliche Fragen zu beantworten und eine Reihe von Schriftstücken vorzulegen. Die Parteien sind dem nachgekommen.
[27] 23. Die Parteien haben in der Sitzung vom 9. bis 12. Februar 1998 mündlich verhandelt und Fragen des Gerichts beantwortet.
[28] 24. Sie haben dabei erklärt, sie hätten keine Einwände gegen die Verbindung der Rechtssachen zu gemeinsamer Entscheidung.
[29] 25. In der mündlichen Verhandlung war das Gericht mit der Präsidentin V. Tiili sowie den Richtern C. P. Briët, K. Lenaerts, A. Potocki und J. D. Cooke besetzt. Nach Ablauf der Amtszeit von Richter Briët am 17. September 1998 ist das vorliegende Urteil gemäß Artikel 32 § 1 der Verfahrensordnung von den drei unterzeichnenden Richtern beraten worden.
Anträge der Parteien
[30] 26. Sämtliche Klägerinnen beantragen, -die Entscheidung ganz oder teilweise für nichtig zu erklären, -hilfsweise, die gegen sie festgesetzte Geldbuße für nichtig zu erklären oder herabzusetzen, -der Kommission die Kosten aufzuerlegen.
[31] 27. In den Rechtssachen T-315/94, T-316/94 und T-329/94 beantragen Wacker, Hoechst und Hüls weiterhin, -den Bericht des Anhörungsbeauftragten beizuziehen und anzuordnen, daß er ihnen zugänglich gemacht wird, -anzuordnen, daß ihnen das vollständige Protokoll der Anhörung einschließlich aller Anlagen zugänglich gemacht wird.
[32] 28. Darüber hinaus beantragen Wacker und Hüls in den Rechtssachen T-315/94, und T-329/94, -anzuordnen, daß die Beklagte dem Gericht das Gutachten ihres Juristischen Dienstes vorlegt, das dieser zu Verfahrensfragen im Zusammenhang mit der angefochtenen Entscheidung erstellt hat, und ferner anzuordnen, ihnen dieses Gutachten zugänglich zu machen.
[33] 29. In den Rechtssachen T-315/94 und T-316/94 beantragen Wacker und Hoechst, -die Verfahrensakten der Rechtssache T-92/89 beizuziehen.
[34] 30. In der Rechtssache T-325/94 beantragt Montedison weiterhin, -die Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen, der ihr durch die Kosten für die Stellung der Sicherheit und durch alle anderen Kosten als Folge der zweiten Entscheidung entstanden ist, -die Verfahrensakten der Rechtssache T-104/89 und die dort vorgelegten Schriftstücke beizuziehen, -das geschäftsführende Mitglied des Verwaltungsrats und den am 1. November 1982 zuständigen Manager von Montedison als Zeugen zu vernehmen.
[35] 31. Die Kommission beantragt, -die Klagen abzuweisen, -den Klägerinnen die Kosten aufzuerlegen.
Zur Zulässigkeit der Klagegründe im Hinblick auf die Artikel 44 § 1, 46 § 1 und 48 § 2 der Verfahrensordnung
[36] 32. Die Kommission hat gegenüber mehreren Klagegründen die Einrede der Unzulässigkeit erhoben und diese je nach Fall auf Artikel 44 § 1 Buchstabe c oder auf Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung gestützt. Eine Klägerin hat ebenfalls eine Einrede der Unzulässigkeit erhoben, die sie auf Artikel 46 § 1 der Verfahrensordnung stützt. Jede dieser drei Gruppen von Einreden ist getrennt zu untersuchen.
I – Zu den Einreden der Unzulässigkeit, die auf Artikel 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung gestützt sind
Vorbringen der Parteien
[37] 33. Die Kommission trägt vor, Montedison habe in ihrer Erwiderung allgemein auf sämtliche verfahrensrechtlichen Klagegründe verwiesen, die die Parteien in ihren gemeinsamen Plädoyers in der Sitzung vom 13. und 14. Juni 1995 angeführt hätten. Montedison habe diese Plädoyers ihrem Schriftsatz nicht beigefügt, da sie dem Gericht angeblich bekannt seien.
[38] 34. Auch Enichem zähle in dem verfahrensrechtlichen Teil ihres Erwiderungsschriftsatzes einleitend sämtliche verfahrensrechtlichen Klagegründe auf, die die Klägerinnen in ihren gemeinsamen Plädoyers in der Sitzung vom 13. und 14. Juni 1995 vorgetragen hätten, und erkläre, sich diese Gründe zu eigen zu machen. Zu diesem Zweck habe Enichem ihrer Erwiderung die Notizen sämtlicher Prozeßbevollmächtigter der Klägerinnen für ihre Plädoyers beigefügt.
[39] 35. Solche Verweisungen ständen nicht im Einklang mit Artikel 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung des Gerichts (Beschluß des Gerichts vom 29. November 1993 in der Rechtssache T-56/92, Koelman/Kommission, Slg. 1993, II-1267, Randnrn. 21 bis 23). Das Gericht könne nämlich nicht an Stelle der Klägerin in den Unterlagen, auf die verwiesen worden sei, selbst die Umstände suchen und bestimmen, die es als Grundlage für die Anträge in der Klageschrift betrachten könnte.
[40] 36. Auch die Klagegründe, die Shell in ihrer Erwiderung aufgezählt habe und die in den dazugehörigen Anlagen näher ausgeführt worden seien, müßten für unzulässig erklärt werden und seien im Verfahren nicht zu berücksichtigen (Urteile des Gerichtshofes vom 13. Dezember 1990 in der Rechtssache C-347/88, Kommission/Griechenland, Slg. 1990, I-4747, Randnr. 29, vom 13. März 1992 in der Rechtssache C-43/90, Kommission/Deutschland, Slg. 1992, I-1909, Randnr. 8; Urteil des Gerichts vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-37/91, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1901, Randnr. 46, und Beschluß des Gerichts vom 28. April 1993 in der Rechtssache T-85/92, Hoe/Kommission, Slg. 1993, II-523).
[41] 37. Jeder Schriftsatz müsse nämlich klar die für den konkreten Fall maßgeblichen tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte erkennen lassen und – mit Ausnahme der Klageschrift – dem vorangegangenen Schriftsatz entsprechen. Durch die Verweisung auf beigefügte Schriftstücke, die andere Prozeßbevollmächtigte in anderen Rechtssachen vorgelegt hätten, zwinge die Klägerin das Gericht, selbst die Umstände zu bestimmen, auf die Shell ihre Klage stützen wolle. Zudem seien die beigefügten Unterlagen nur vorbereitende Notizen einiger Prozeßbevollmächtigter für die Sitzung vom 13. und 14. Juni 1995 gewesen und entsprächen nicht unbedingt den tatsächlichen Plädoyers. Das Sitzungsprotokoll sei aber nicht zugänglich. Im übrigen stütze sich die Klägerin nur auf einige Teile der Notizen eines der Prozeßbevollmächtigten für sein Plädoyer. Einige dieser Notizen verwiesen wiederum auf Argumente anderer Parteien in deren Anträgen und Schriftsätzen.
[42] 38. Schließlich seien die Rechtssachen nur zu gemeinsamer mündlicher Verhandlung verbunden worden, und die Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer habe an deren Schluß die Trennung der Rechtssachen angeordnet.
Würdigung durch das Gericht
[43] 39. Die Klageschrift muß gemäß Artikel 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung den Streitgegenstand und eine kurze Darstellung der Klagegründe enthalten. Diese Angaben müssen so klar und genau sein, daß dem Beklagten die Vorbereitung seiner Verteidigung und dem Gericht die Entscheidung über die Klage, gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, ermöglicht wird. Um die Rechtssicherheit und eine ordnungsgemäße Rechtspflege zu gewährleisten, ist es für die Zulässigkeit einer Klage erforderlich, daß die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Umstände, auf denen die Klage beruht, zumindest in gedrängter Form, jedenfalls aber zusammenhängend und verständlich, aus dem Wortlaut der Klageschrift selbst hervorgehen. Die Klageschrift kann zwar in einzelnen Punkten durch Verweisungen auf bestimmte Stellen beigefügter Schriftstücke gestützt und ergänzt werden, eine allgemeine Verweisung auf andere Schriftstücke, selbst wenn sie der Klageschrift beigefügt sind, kann jedoch das Fehlen wesentlicher Umstände in der Klageschrift nicht ausgleichen (vgl. u. a. Beschluß Koelman/Kommission, Randnr. 21). Zudem ist es nicht Sache des Gerichts, die Klagegründe und Argumente, auf die sich die Klage möglicherweise stützen läßt, in den Anlagen zu suchen und zu bestimmen, denn die Anlagen haben eine bloße Beweis- und Hilfsfunktion (Urteil des Gerichts vom 7. November 1997 in der Rechtssache T-84/96, Cipeke/Kommission, Slg. 1997, II-2081, Randnr. 34).
[44] 40. Diese Auslegung des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung gilt auch für die Voraussetzungen der Zulässigkeit der Erwiderung, die nach Artikel 47 § 1 der Verfahrensordnung die Klageschrift ergänzen soll.
[45] 41. Im vorliegenden Fall verweisen Shell, Montedison und Enichem in ihrer Erwiderung allgemein auf die Klagegründe und Argumente, die einige Klägerinnen in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht am 13. und 14. Juni 1995 vorgetragen haben. Diese allgemeine Verweisung auf Schriftstücke, selbst wenn sie der Erwiderung beigefügt sind, kann nicht die Wiedergabe des Sachverhalts, der Klagegründe und der Argumente im Schriftsatz selbst ersetzen.
[46] 42. Ergänzend zu ihrer Erwiderung verweist Enichem in einzelnen Punkten auf die beigefügten Schriftstücke. Diese Verweise bezeichnen jedoch das betreffende beigefügte Schriftstück nur allgemein und erlauben es damit dem Gericht nicht, genau die Argumente zu bestimmen, die es als Ergänzung der in der Klageschrift vorgetragenen Gründe betrachten könnte.
[47] 43. Soweit Shell, Montedison und Enichem in ihren Erwiderungen auf die gemeinsamen Plädoyers verweisen, genügen diese Schriftsätze somit nicht den Anforderungen des Artikels 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung und können daher nicht berücksichtigt werden.
II – Zur Einrede der Unzulässigkeit, die auf Artikel 46 § 1 der Verfahrensordnung gestützt wird
Vorbringen der Parteien
[48] 44. Nach Ansicht von Hüls ist es nach Artikel 46 § 1 Buchstabe b der Verfahrensordnung unzulässig, wenn die Kommission als Entgegnung auf bestimmte Klagegründe in der Klageschrift auf den Sitzungsbericht in der Rechtssache T-86/89, Hüls/Kommission, verweise (Urteile des Gerichtshofes vom 8. Juli 1965 in den Rechtssachen 19/63 und 65/63, Prakash/Euratom, Slg. 1965, 718, 736, vom 28. April 1971 in der Rechtssache 4/69, Lütticke/Kommission, Slg. 1971, 325, Randnr. 2, und Kommission/Deutschland, Randnrn. 7 und 8; Urteile des Gerichts vom 5. Dezember 1990 in der Rechtssache T-82/89, Marcato/Kommission, Slg. 1990, II-735, Randnr. 22, und ICI/Kommission, Randnr. 47).
[49] 45. Die Kommission führt aus, die Textübernahme in ihrer Klagebeantwortung sei keine pauschale Verweisung im Sinne der von Hüls angeführten Rechtsprechung. Hüls verkenne in Wirklichkeit die Funktion einer Anlage, die eine förmliche Bezugnahme ohne überflüssige Wiederholung gestatte. Im übrigen sei die Bezugnahme auf eine andere Klage zwischen denselben Parteien wegen desselben Gesamtkomplexes zulässig (Urteil ICI/Kommission, Randnr. 47).
Würdigung durch das Gericht
[50] 46. Nach Artikel 46 § 1 Buchstabe b der Verfahrensordnung muß die Klagebeantwortung die tatsächliche und rechtliche Begründung enthalten. Diese Begründung muß, sei es auch in gedrängter Form, hinreichend klar und genau in der Klagebeantwortung selbst enthalten sein, um dem Kläger die Vorbereitung seiner Erwiderung und dem Gericht die Entscheidung über die Klage, gegebenenfalls auch ohne weitere Informationen, zu ermöglichen.
[51] 47. Im konkreten Fall hat die Kommission unter der Überschrift "Die materiellen Rügen" sich auf folgende Erklärung in ihrer Klagebeantwortung beschränkt: "Die Kommission sieht sich zu ihrer Verteidigung ihrerseits veranlaßt, ihr seinerzeitiges Verteidigungsvorbingen [im Rahmen der Klagen gegen die Entscheidung 1988] in das vorliegende Verfahren einzuführen. Statt einer wörtlichen Wiedergabe der Klagebeantwortung hält sie es im gegenwärtigen Verfahrensstadium für sinnvoll und zweckmäßig, auf ihren Vortrag in der Rechtssache T-86/89 zu verweisen, wie er im Sitzungsbericht zusammengefaßt ist." Sie führt anschließend die entsprechenden Titel des Sitzungsberichts auf, verweist auf Seitenzahlen dieses Berichts und ergänzt das Vorbringen, auf das sie verweist, um einige Anmerkungen.
[52] 48. Unter der Überschrift "Die materiellen Rügen" gibt die Beklagte die tatsächliche und rechtliche Begründung nur in Form von Überschriften wieder. Diese Begründung genügt daher nicht den Zulässigkeitsvoraussetzungen der Klarheit und Genauigkeit. Infolgedessen sind diese tatsächlichen und rechtlichen Gründe für unzulässig zu erklären.
III – Zu den Einreden der Unzulässigkeit, die auf Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung gestützt werden
Vorbringen der Parteien
[53] 49. Die Kommission macht geltend, daß jedes erstmals in der Erwiderung vorgetragene Angriffs- und Verteidigungsmittel, das nicht auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werde, die erst während des Verfahrens zutage getreten seien, ein neues Angriffs- oder Verteidungsmittel sei, das aufgrund von Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung für unzulässig zu erklären sei (Urteile des Gerichts vom 10. März 1992 in der Rechtssache T-68/89, T-77/89 und T-78/89, SIV u. a./Kommission, Slg. 1992, II-1403, Randnr. 82, vom 18. November 1992 in der Rechtssache T-16/91, Rendo u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2417, Randnr. 131, und vom 21. Februar 1995 in der Rechtssache T-29/92, SPO u. a./Kommission, Slg. 1995, II-289, Randnr. 409).
[54] 50. Im vorliegenden Fall seien mehrere Angriffsmittel von LVM, BASF, DSM und ICI aufgrund dieser Bestimmung unzulässig.
[55] 51. Der Beschluß der Präsidentin der Dritten erweiterten Kammer des Gerichts vom 14. Juli 1995 über die Fortsetzung des schriftlichen Verfahrens und die Aufhebung der Verbindung der Rechtssachen sei nicht so zu verstehen, daß er einer Partei erlaube, sämtliche verfahrensrechtlichen Klagegründe geltend zu machen, einschließlich der Gründe, die nur in der Klageschrift anderer Klägerinnen vorgetragen worden seien.
[56] 52. Darüber hinaus müßten die meisten Anlagen der Erwiderung von Hüls ausgeschlossen werden, da sie entgegen Artikel 35 § 3 der Verfahrensordnung nicht in der Verfahrenssprache verfaßt seien.
Würdigung durch das Gericht
[57] 53. Nach Artikel 48 § 2 Absatz 1 der Verfahrensordnung können neue Angriffs- und Verteidigungsmittel im Laufe des Verfahrens nicht mehr vorgebracht werden, es sei denn, daß sie auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt werden, die erst während des Verfahrens zutage getreten sind.
[58] 54. BASF hat im vorliegenden Fall erstmals in der Erwiderung folgende Klagegründe geltend gemacht: Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem, Verstoß gegen das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-Abkommen), Verstoß gegen die seinerzeit geltende Geschäftsordnung der Kommission, Verjährung, Verstoß gegen die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (MRK) sowie Verstoß gegen die Verpflichtung zur Anhörung der Klägerin, bevor die Entscheidung getroffen wird, von dem Verfahren gemäß den Verordnungen Nrn. 17 und 99/63 abzuweichen.
[59] 55. ICI rügt in ihrer Erwiderung einen Verstoß gegen die Geschäftsordnung der Kommission, da der Juristische Dienst der Kommission vor Erlaß der Entscheidung nicht konsultiert worden sei. Die fehlende Konsultierung des Juristischen Dienstes der Kommission vor Erlaß der Entscheidung, die durch den Sitzungsbericht in der Rechtssache T-307/94 vor der Sitzung vom Juni 1995 zutage getreten sei, stelle eine neue, während des Verfahrens zutage getretene Tatsache dar. Dem kann nicht gefolgt werden. Dazu genügt die Feststellung, daß in diesem Sitzungsbericht keine Rede davon ist, daß der Juristische Dienst überhaupt nicht konsultiert worden sei, sondern es heißt dort: "Die Kommission behauptet, es gebe kein Gutachten des Juristischen Dienstes zu der Frage, ob eine neue Entscheidung gegenüber den PVC-Herstellern auf der Grundlage des Verwaltungsverfahrens erlassen werden könne, das vor dem Erlaß der Entscheidung vom 21. Dezember 1988 durchgeführt worden sei." Somit läßt sich nicht die Ansicht vertreten, daß diese Stelle des Sitzungsberichts in der Rechtssache T-307/94 eine neue Tatsache sei, die zeige, daß es vor Erlaß der Entscheidung keine Stellungnahme des Juristischen Dienstes gegeben habe.
[60] 56. Soweit die Argumentation von ICI dahin zu verstehen sein sollte, daß im Rahmen dieses Klagegrundes und durch die Verweisung auf ein ihrer Erwiderung als Anlage beigefügtes gemeinsames Plädoyer geltend gemacht wird, daß die bei Erlaß der Entscheidung geltende Geschäftsordnung der Kommission rechtswidrig gewesen sei, so ist festzustellen, daß dieser Einwand der Rechtswidrigkeit erstmals in der Erwiderung vorgetragen worden ist, obwohl die Klägerin nicht daran gehindert war, ihn in ihrer Klageschrift anzuführen.
[61] 57. Hüls beruft sich in ihrer Erwiderung auf die als Anlage beigefügten, für die Plädoyers bestimmten Notizen zu den in der Sitzung vom 13. und 14. Juni 1995 gemeinsam dargestellten Themen. Die in diesen Notizen behandelten Themen betreffen, soweit sie in der Erwiderung ausführlicher erörtert werden, Klagegründe, die Hüls in ihrer Klageschrift geltend gemacht hatte, mit Ausnahme des Klagegrundes der fehlenden Beteiligung der Überwachungsbehörde der Europäischen Freihandelsgemeinschaft (EFTA), der erstmals in der Erwiderung angeführt worden ist.
[62] 58. Die Notizen für die gemeinsamen Plädoyers in der Anlage der Erwiderung von Hüls sind nicht in der von der Klägerin gewählten Verfahrenssprache verfaßt. Hüls hat entgegen Artikel 35 § 3 der Verfahrensordnung keine auszugsweise Übersetzung dieser umfangreichen Schriftstücke vorgelegt. Unter den ganz besonderen Umständen des vorliegenden Falles und unter Berücksichtigung der Zustimmung des Gerichts zur Benutzung irgendeiner der Verfahrenssprachen für den Vortrag einiger gemeinsamer Themen in der mündlichen Verhandlung vom 13. und 14. Juni 1995 wäre es jedoch nach Ansicht des Gerichts trotz der von ihm verfügten Aufhebung der Verbindungen der Rechtssachen im Anschluß an diese Verhandlung ein übertriebener Formalismus, diese Anlagen, die in einer anderen als der von der Klägerin gewählten Verfahrenssprache verfaßt sind, nicht zu akzeptieren. Somit sind die Anlagen der Erwiderung von Hüls in der vorgelegten Form zulässig.
[63] 59. LVM und DSM machen in ihrer Erwiderung zur Begründung des Klagegrundes des Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, den sie bereits in ihrer Klageschrift vorgetragen haben, geltend, daß die Kommission gegen ihre Begründungspflicht nach Artikel 190 EG-Vertrag verstoßen habe. Angesichts der Formulierung dieser Rüge im Kontext des betreffenden Klagegrundes kommt diesem Vorbringen kein eigenständiger Charakter gegenüber dem Klagegrund zu, in dessen Rahmen diese Rüge erhoben worden ist. Sie kann daher nicht als ein eigenständiger Klagegrund angesehen werden, der erstmals in der Erwiderung geltend gemacht worden ist.
[64] 60. Nach Artikel 113 der Verfahrensordnung kann das Gericht schließlich jederzeit von Amts wegen prüfen, ob unverzichtbare Prozeßvoraussetzungen fehlen.
[65] 61. Das Gericht stellt in diesem Zusammenhang fest, daß Elf Atochem erstmals in ihrer Erwiderung geltend gemacht hat, daß die Kommission gegen ihre Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der EFTA-Überwachungsbehörde verstoßen hat.
[66] 62. SAV hat in ihrer Klageschrift einen "Verstoß gegen die Grundsätze der ordnungsgemäßen Verwaltung und des rechtlichen Gehörs [gerügt], weil das Verfahren nicht in einer angemessenen Frist eingeleitet worden ist". In ihrer Erwiderung hat sie unter dem Klagegrund "Verstoß gegen die Grundsätze der geordneten Rechtspflege und des rechtlichen Gehörs" vorgetragen, daß die Kommission die Anhörung im September 1988 nicht berücksichtigt habe, da sie nicht genügend Zeit gehabt habe, sich vor Erlaß der Entscheidung 1988 näher mit dem Anhörungsprotokoll zu befassen. Diese letztgenannte Feststellung ist als ein getrennter Klagegrund anzusehen, da er in keiner Weise die Einleitung des Verfahrens innerhalb einer angemessenen Frist betrifft. Dieser Klagegrund, der in keiner Verbindung zu einem der in der Klageschrift vorgetragenen Gründe steht, ist daher als ein erstmals in der Erwiderung geltend gemachtes Angriffsmittel anzusehen.
[67] 63. Im vorliegenden Fall ist während des Verfahrens kein neuer Grund zutage getreten, der das verspätete Vorbringen von Elf Atochem und SAV rechtfertigen könnte. Diese beiden Klägerinnen hätten die entsprechenden Angriffsmittel daher in ihrer Klageschrift geltend machen können. Folglich können sie diese nach Artikel 48 § 2 nicht in der Erwiderung vortragen.
[68] 64. Nach alledem sind die Angriffsmittel, die Elf Atochem, BASF, SAV, ICI und Hüls erstmals in ihrer Erwiderung geltend gemacht haben und die nicht auf rechtlichen oder tatsächlichen Gründen beruhen, die erstmals während des Verfahrens zutage getreten sind, für unzulässig zu erklären.
Zum Antrag auf Nichtigerklärung der Entscheidung
I – Zu den Klagegründen, die Form- und Verfahrensmängel betreffen
[69] 65. Die verschiedenen Klagegründe, die Form- und Verfahrensmängel betreffen, lassen sich in vier Hauptgruppen einteilen. Zunächst wenden sich die Klägerinnen gegen die Auslegung, die die Kommission der Tragweite des Urteils vom 15. Juni 1994 gegeben hat, mit der die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt worden ist, und gegen die Folgerungen, die die Kommission daraus gezogen hat (A). Sodann rügen sie Unregelmäßigkeiten beim Erlaß und bei der Feststellung der Entscheidung (B). Sie machen ferner geltend, daß das Verfahren vor Erlaß der Entscheidung 1988 Unregelmäßigkeiten aufgewiesen habe (C). Schließlich sei die Entscheidung bezüglich einer Reihe von Fragen, die in die drei vorhergehenden Gruppen fielen, unzureichend begründet (D).
A – Die Wirkungen des Urteils vom 15. Juni 1994, mit dem die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt worden ist
[70] 66. Die Klagegründe und Argumente der Klägerinnen lassen sich unter drei Gesichtspunkte einordnen. Erstens habe die Kommission wegen des Urteils vom 15. Juni 1994 keine neue Entscheidung erlassen können. Zweitens, so einige Klägerinnen, habe das Urteil vom 15. Juni 1994 durch die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 die den Erlaß dieser Entscheidung vorbereitenden Rechtsakte rückwirkend gegenüber allen Unternehmen, die die Adressaten gewesen seien, beseitigt. Drittens hätte die Kommission, wenn sie eine neue Entscheidung hätte treffen können, um die Konsequenzen aus dem Urteil vom 15. Juni 1994 zu ziehen, jedenfalls bestimmte Verfahrenserfordernisse beachten müssen.
1. Zur Befugnis der Kommission, nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 eine neue Entscheidung zu erlassen
[71] 67. Die Argumente der Klägerinnen lassen sich in drei Teile gliedern. Mit dem ersten Teil wird geltend gemacht, die Kommission habe nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 keine neue Entscheidung in der "PVC-Sache" treffen können. Der zweite Teil enthält Klagegründe bezüglich des Zeitablaufs: Danach habe die Kommission ihre Befugnis zum Erlaß der Entscheidung nicht mehr ausüben können. Schließlich geht es beim dritten Teil um die Klagegründe, nach denen die Kommission fehlerhaften Gebrauch von ihrem Ermessen gemacht hat.
[72] 68. Jeder Teil ist getrennt zu untersuchen.
a) Zu den Klagegründen, nach denen die Kommission die Entscheidung nicht erlassen konnte
[73] 69. Zur Begründung ihrer Auffassung, daß die Kommission die Entscheidung nicht habe erlassen können, führen die Klägerinnen zwei Klagegründe an.
[74] 70. Der erste Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen die Rechtskraft. Der zweite Klagegrund betrifft einen Verstoß gegen den Grundsatz ne bis in idem.
Zur Rüge eines Verstoßes gegen die Rechtskraft
- Vorbringen der Parteien
[75] 71. LVM, DSM, ICI und Enichem machen geltend, die Kommission habe die Entscheidung nicht erlassen können, ohne gegen die Rechtskraft des Urteils vom 15. Juni 1994 zu verstoßen.
[76] 72. LVM und DSM tragen vor, die Unterscheidung zwischen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Mängeln der angefochtenen Entscheidung habe weder eine rechtliche Grundlage, noch lasse sie sich auf den Wortlaut oder die Rechtsprechung stützen. Weder Artikel 174 EG-Vertrag noch das Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in den verbundenen Rechtssachen T-80/89, T-81/89, T-83/89, T-87/89, T-88/89, T-90/89, T-93/89, T-95/89, T-97/89, T-99/89, T-100/89, T-101/89, T-103/89, T-105/89, T-107/89 und T-112/89 (BASF u. a./Kommission, Slg. 1995, II-729, Randnr. 78) enthielten eine solche Unterscheidung. Da das Urteil vom 15. Juni 1994 zu dieser Frage schweige, sei es dahin zu verstehen, daß die Sache abschließend geregelt worden sei (Urteile des Gerichtshofes vom 29. Oktober 1980 in der Rechtssache 138/79, Roquette Frères/Rat, Slg. 1980, 3333, Randnr. 37, und vom 30. September 1982 in der Rechtssache 108/81, Amylum/Rat, Slg. 1982, 3107, Randnr. 5; Schlußanträge des Generalanwalts Reischl in dieser Rechtssache, Slg. 1982, 3139, 3151 f.). Die Tatsache, daß der Gerichtshof das Urteil des Gerichts aufgehoben und über die zur Entscheidung reife Sache selbst entschieden habe, bestätigte diese Auslegung.
[77] 73. Enichem macht geltend, der Gerichtshof habe mit seinem Urteil vom 15. Juni 1994 das gegen die PVC-Hersteller eingeleitete Verfahren endgültig abschließen wollen, indem er von seiner Befugnis nach Artikel 54 Absatz 1 Satz 2 EG-Satzung des Gerichtshofes Gebrauch gemacht habe. Auch wenn der Gerichtshof nur bestimmte Klagegründe geprüft habe, habe er somit über den Rechtsstreit insgesamt entschieden. Sämtliche Aspekte dieses Streits würden somit von der Rechtskraft erfaßt.
[78] 74. In Wirklichkeit führe die Auffassung der Kommission dazu, daß den materiell-rechtlichen Rügen ein Vorrang vor den verfahrensrechtlichen Rügen eingeräumt werde, die dann nur von untergeordneter Bedeutung seien. Jeder Verfahrensverstoß könnte somit leicht korrigiert werden. Jede Geltendmachung von Verfahrensmängeln vor dem Gemeinschaftsrichter wäre dann nutzlos, und die Bemühungen im vorliegenden Fall vor dem Gericht und anschließend vor dem Gerichtshof wären umsonst gewesen.
[79] 75. Nach Ansicht der Kommission wird von der Rechtskraft nur das erfaßt, worüber der Gerichtshof entschieden habe. Im vorliegenden Fall sei der einzige Grund, den der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 für die Aufhebung der Entscheidung 1988 angeführt habe, das Fehlen der Feststellung in der vorgeschriebenen Form, so daß nur die Beurteilung des Gerichtshofes hinsichtlich der Formmängel in Rechtskraft erwachsen sei. Die anderen verfahrensrechtlichen und materiell-rechtlichen Rügen seien vom Gerichtshof also nicht geprüft worden.
[80] 76. Es gebe keine Vorschrift, nach der der Gerichtshof die Rechtssache nach der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 an das Gericht hätte zurückverweisen können.
- Würdigung durch das Gericht
[81] 77. Die Rechtskraft erstreckt sich lediglich auf diejenigen Tatsachen- und Rechtsfragen, die tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand der betreffenden gerichtlichen Entscheidung waren (Urteil des Gerichtshofes vom 19. Februar 1991 in der Rechtssache C-281/89, Italien/Kommission, Slg. 1991, I-347, Randnr. 14, und Beschluß des Gerichtshofes vom 28. November 1996 in der Rechtssache C-277/95 P, Lenz/Kommission, Slg. 1996, I-6109, Randnr. 50).
[82] 78. Der Gerichtshof hat im Urteil vom 15. Juni 1994 festgestellt, daß dem Gericht ein Rechtsirrtum unterlaufen ist, als es die Entscheidung 89/190 für inexistent erklärte, und daß das angefochtene Urteil daher aufzuheben ist (Randnrn. 53 und 54). Er hat beschlossen, gemäß Artikel 54 Absatz 1 Satz 2 der EG-Satzung des Gerichtshofes über den Rechtsstreit endgültig zu entscheiden, da dieser zur Entscheidung reif war (Randnr. 55).
[83] 79. Der Gerichtshof hat deshalb die Klagegründe, die die Klägerinnen in ihren Nichtigkeitsklagen vor dem Gericht gegen die Entscheidung 1988 vorgetragen haben, wie folgt zusammengefaßt: "Das Vorverfahren sei mit verschiedenen Mängeln behaftet gewesen; die angefochtene Entscheidung sei nicht oder nicht ausreichend begründet; die Verteidigungsrechte seien nicht gewahrt worden; die von der Kommission vorgenommene Beweisführung sei anfechtbar; die angefochtene Entscheidung verstoße gegen Artikel 85 EWG-Vertrag und gegen die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts; die Entscheidung verletzte die Verjährungsvorschriften; sie sei durch Ermessensmißbrauch gekennzeichnet; die verhängten Geldbußen seien rechtswidrig" (Randnr. 56).
[84] 80. Der Gerichtshof hat weiter ausgeführt: "Die Klägerinnen haben die Rüge der fehlenden und unzureichenden Begründung der streitigen Entscheidung im wesentlichen darauf gestützt, daß die Begründung der ihnen zugestellten Entscheidung wahrscheinlich in mehreren, manchmal wesentlichen Punkten von der Entscheidung abweiche, die vom Kommissionskollegium in seiner Sitzung vom 21. Dezember 1988 angenommen worden sei [Randnr. 57]. Einige Klägerinnen haben ferner dem Verteidigungsvorbringen der Kommission entnommen, daß die Entscheidung in zwei verbindlichen Sprachen, nämlich Italienisch und Niederländisch, nicht angenommen worden sei, da dem Kollegium lediglich die auf deutsch, englisch und französisch abgefaßten Entwürfe vorgelegt worden seien [Randnr. 58] … In ihrer abschließenden Stellungnahme haben die Klägerinnen vorgetragen, es liege ein Verstoß gegen Artikel 12 der Geschäftsordnung der Kommission vor [Randnr. 59]." Im Anschluß daran hat der Gerichtshof mit der Prüfung der "Begründetheit dieser Rüge" begonnen (Randnr. 61).
[85] 81. Nach der Feststellung, daß die Kommission gegen Artikel 12 Absatz 1 ihrer Geschäftsordnung verstoßen hat, indem sie die Entscheidung 1988 nicht in der in diesem Artikel vorgesehenen Form ausgefertigt hat, hat der Gerichtshof festgestellt: "Die Entscheidung ist daher wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig zu erklären, ohne daß auf die anderen von den Klägerinnen erhobenen Rügen eingegangen zu werden braucht" (Randnr. 78).
[86] 82. Daraus folgt, daß weder die anderen von den Klägerinnen vor dem Gericht erhobenen verfahrensrechtlichen Klagegründe noch die materiell-rechtlichen, noch die hilfsweise gegenüber den festgesetzten Geldbußen erhobenen Klagegründe tatsächlich oder notwendigerweise Gegenstand des Urteils vom 15. Juni 1994 waren.
[87] 83. Artikel 54 Absatz 1 der Satzung des Gerichtshofes lautet: "Ist das Rechtsmittel begründet, so hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Er kann sodann den Rechtsstreit selbst endgültig entscheiden, wenn dieser zur Entscheidung reif ist, oder die Sache zur Entscheidung an das Gericht zurückverweisen."
[88] 84. Satz 2 dieser Bestimmung bedeutet nicht, daß der Gerichtshof, wenn er endgültig über den Rechtsstreit entscheidet, indem er einen oder mehrere der Klagegründe für begründet hält, ipso jure über alle von den Klägerinnen im Kontext der Rechtssache geltend gemachten tatsächlichen oder rechtlichen Fragen entscheidet. Die Auffassung von Enichem verkennt, daß die entschiedene Rechtssache nur bezüglich der tatsächlichen und rechtlichen Fragen, über die tatsächlich oder notwendigerweise entschieden worden ist, in materieller Rechtskraft erwächst.
[89] 85. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem
- Vorbringen der Parteien
[90] 86. LVM, DSM, Montedison und ICI werfen der Kommission vor, daß sie durch den Erlaß einer neuen Entscheidung nach der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen habe.
[91] 87. LVM, DSM und ICI verweisen darauf, daß der Gemeinschaftsrichter die Beachtung der allgemeinen Rechtsgrundsätze wie des Grundsatzes ne bis in idem, der auch im Protokoll Nr. 7 zur Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und in Artikel 14 Absatz 7 des am 16. März 1966 in New York unterzeichneten Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt sei, sicherstellen müsse (Urteile des Gerichtshofes vom 5. Mai 1966 in den Rechtssachen 18/65 und 35/65, Gutmann/Kommission, Slg. 1966, 154, und vom 15. März 1967 in den Rechtssachen 18/65 und 35/65, Gutmann/Kommission, Slg. 1967, 79).
[92] 88. Nach Ansicht von LVM und DSM hat die Kommission diesen Grundsatz in doppeltem Sinne verletzt: Zum einen habe sie wegen ein und derselben Zuwiderhandlung zweimal eine Sanktion verhängt; zum anderen habe sie zweimal ein Ermittlungsverfahren – selbst wenn sich dieses im zweiten Fall auf den Erlaß und die Zustellung der Entscheidung beschränkt habe – aufgrund ein und desselben Sachverhalts eingeleitet (Urteile vom 5. Mai 1966, Gutmann/Kommission, Slg. 1966, 178, vom 15. März 1967, Gutmann/Kommission, Slg. 1967, 88, sowie Schlußanträge des Generalanwalts Mayras in der durch Urteil des Gerichtshofes vom 14. Dezember 1972 entschiedenen Rechtssache 7/72, Boehringer/Kommission, Slg. 1972, 1293, 1296).
[93] 89. Für die Feststellung eines Verstoßes gegen den Grundsatz ne bis in idem sei allein die Identität der zur Last gelegten Handlungen entscheidend (Urteil Boehringer/Kommission, Randnr. 6), die hier gegeben sei. Die Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung, die zwar die Rechtswirkungen entfallen lasse, nicht aber die Tatsache ungeschehen mache, daß ein Ermittlungsverfahren durchgeführt, eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße verhängt worden sei, sei ebensowenig von Bedeutung wie die Rechtskraft.
[94] 90. Nach Ansicht von ICI ist das Urteil vom 15. Juni 1994 verbindlich und endgültig, was bedeute, daß es rechtskräftig geworden sei (Artikel 65 der Verfahrensordnung des Gerichtshofes). Der Gerichtshof habe die Rechtssache nicht an das Gericht zurückverwiesen. Da die Entscheidung 1988 insgesamt und nicht nur in einigen Punkten für nichtig erklärt worden sei, stelle das Urteil einen endgültigen Freispruch dar. Die Kommission habe daher gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen, indem sie auf der Grundlage der gleichen rechtlichen und tatsächlichen Gegebenheiten die gleiche Entscheidung erlassen habe. Schließlich habe der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 der Kommission nicht den Erlaß einer neuen Entscheidung aufgegeben (vgl. im Umkehrschluß Urteil des Gerichtshofes vom 23. Oktober 1974 in der Rechtssache 17/74, Transocean Marine Paint/Kommission, Slg. 1974, 1063, Randnr. 22).
[95] 91. Die Kommission trägt vor, die Argumente von LVM, DSM und ICI im Rahmen dieses Klagegrundes ständen im Widerspruch zu deren Meinung, die Entscheidung 1988 habe wegen ihrer rückwirkenden Nichtigerklärung niemals bestanden.
[96] 92. Der Gerichtshof habe die Erheblichkeit des Grundsatzes ne bis in idem im Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft anerkannt (Urteil Boehringer/Kommission), so daß die Berufung der Klägerinnen auf die MRK oder den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte überflüssig sei.
[97] 93. Jedenfalls sei das Vorbringen der Klägerinnen nicht begründet, da die Entscheidung nach der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof als die erste Entscheidung anzusehen sei, die das Verhalten der auf dem PVC-Markt tätigen Unternehmen wegen Verstoßes gegen Artikel 85 EG-Vertrag ahnde. Weder in rechtlicher noch in tatsächlicher Hinsicht seien den Unternehmen zwei Geldbußen auferlegt worden.
[98] 94. Der Grundsatz ne bis in idem betreffe nur die Möglichkeit der Verhängung von Sanktionen; er dürfe daher nicht mit dem Grundsatz der Rechtskraft einer Entscheidung verwechselt werden.
- Würdigung durch das Gericht
[99] 95. Die Klägerinnen werfen der Kommission vor, durch den Erlaß der Entscheidung den allgemeinen Rechtsgrundsatz ne bis in idem verletzt zu haben, der zum einen verbiete, für ein und dieselbe Zuwiderhandlung zwei Sanktionen zu verhängen, und zum anderen, auf der Grundlage ein und desselben Sachverhalts zweimal ein Ermittlungsverfahren einzuleiten.
[100] 96. Im vorliegenden Zusammenhang besagt dieser Grundsatz, daß die Kommission gegen ein Unternehmen wegen eines Verhaltens, zu dem das Gericht oder der Gerichtshof bereits festgestellt hat, daß die Kommission dessen Wettbewerbswidrigkeit nachgewiesen oder nicht nachgewiesen hat, keine Ermittlungen nach den Verordnungen Nrn. 17 und 99/63 wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft führen oder eine Geldbuße verhängen darf.
[101] 97. Erstens hat der Gerichtshof im vorliegenden Fall die Entscheidung 1988 mit Urteil vom 15. Juni 1994 für nichtig erklärt. Die Kommission hat mit Erlaß der zweiten Entscheidung nach dieser Nichtigerklärung gegen die Klägerinnen keine zweite Sanktion für ein und dieselbe Zuwiderhandlung verhängt.
[102] 98. Zweitens hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 über keine der von den Klägerinnen angeführten materiell-rechtlichen Klagegründe entschieden, als er die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt hat (vorstehend, Randnr. 81). Daher hat die Kommission mit dem Erlaß der zweiten Entscheidung nur den vom Gerichtshof beanstandeten Formfehler behoben. Die Kommission hat somit nicht zweimal Ermittlungen wegen ein und desselben Sachverhalts gegen die Klägerinnen durchgeführt.
[103] 99. Der Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
b) Zu den auf die Länge des verstrichenen Zeitraums gestützten Klagegründen
[104] 100. Einige Klägerinnen führen zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung der Entscheidung mehrere Klagegründe an, die die Länge des verstrichenen Zeitraums betreffen. Erstens habe die Kommission den Grundsatz der Sachbehandlung innerhalb angemessener Frist verletzt. Zweitens habe sie rechtsmißbräuchlich gehandelt. Schließlich habe sie die Grundsätze eines fairen Verfahrens verletzt. Da die Kommission hierauf eine für alle Verfahren gemeinsame Antwort gegeben hat, werden ihre Argumente gegen diese Klagegründe insgesamt nach denen der Klägerinnen wiedergegeben.
Vorbringen der Parteien
- Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Sachbehandlung innerhalb angemessener Frist
[105] 101. LVM, DSM und ICI machen geltend, die von einem Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag betroffenen Unternehmen hätten Anspruch darauf, daß die Kommission innerhalb einer angemessenen Frist entscheide. Diese Garantie einer Sachbehandlung innerhalb angemessener Frist sei im Gemeinschaftsrecht verankert (vgl. u. a. Urteil des Gerichtshofes vom 24. November 1987 in der Rechtssache 223/85, RSV/Kommission, Slg. 1987, 4617, Randnr. 14) und gelte unabhängig von den Vorschriften über die Verjährung in der Verordnung (EWG) Nr. 2988/74 des Rates vom 26. November 1974 über die Verfolgungs- und Vollstreckungsverjährung im Verkehrs- und Wettbewerbsrecht der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. L 319, S. 1).
[106] 102. Zudem ergebe sich aus Artikel 6 Absatz 1 MRK, daß über die Stichhaltigkeit einer strafrechtlichen Anklage innerhalb einer angemessenen Frist zu entscheiden sei, damit die Betroffenen über ihre Rechtslage nicht zu lange im Ungewissen blieben.
[107] 103. Der Lauf der Frist beginnt nach Ansicht von LVM und DSM mit jeder Ermittlungshandlung im Sinne des Artikels 2 der Verordnung 2988/74 (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil Eckle vom 15. Juli 1982, Serie A, Nr. 51, Randnr. 73, Urteil Foti u. a. vom 10. Dezember 1982, Serie A, Nr. 56, Randnr. 52, und Urteil Corigliano vom 10. Dezember 1982, Serie A, Nr. 57, Randnr. 34). Die Frist ende mit dem Erlaß der ursprünglichen Entscheidung.
[108] 104. Im vorliegenden Fall habe die Frist im Dezember 1983 begonnen, als die Kommission die Nachprüfungen durchgeführt habe, und im Dezember 1988 geendet. In diesen fünf Jahren sei die Kommission von April 1984 bis Januar 1987 untätig geblieben.
[109] 105. Im Rahmen der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte dürfe eine angemessene Frist zwei Jahre nicht überschreiten, es sei denn, daß besondere Umstände vorlägen (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Urteil König vom 28. Juni 1978, Serie A, Nr. 27, Randnrn. 98 f.). Daß der Sachverhalt unter das Wettbewerbsrecht falle, sei kein besonderer Umstand.
[110] 106. Die Nichteinhaltung einer angemessenen Frist für den Erlaß der Entscheidung 1988 und erst recht für den der zweiten Entscheidung habe zudem ein berechtigtes Vertrauen bei den Unternehmen begründet, daß die Untersuchungen nicht weitergeführt würden.
[111] 107. ICI trägt vor, im vorliegenden Fall sei zweimal eine Verzögerung eingetreten. Im Ermittlungszeitraum sei die Kommission vom 5. Juni 1984, dem Zeitpunkt, zu dem die Klägerin auf eine Entscheidung nach Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 geantwortet habe, bis zum Januar 1987, dem Beginn der Nachforschungen in den Räumlichkeiten anderer PVC-Hersteller, untätig geblieben. Diese Frist sei unangemessen (Urteile RSV/Kommission, und Urteile des Gerichts vom 2. Mai 1995 in den Rechtssachen T-163/94 und T-165/94, NTN Corporation und Koyo Seiko/Rat, Slg. 1995, II-1381, und vom 28. September 1995 in der Rechtssache T-95/94, Sytraval und Brink's France/Kommission, Slg. 1995, II-2651).
[112] 108. Die durch die Rechtsstreitigkeiten verursachte Verzögerung von fast fünf Jahren sei der Kommission wegen der in ihrem Fall festgestellten Verfahrensverstöße zuzurechnen.
[113] 109. LVM, DSM und ICI kommen zu dem Ergebnis, daß die Kommission wegen Überschreitung der angemessenen Frist nicht mehr zum Erlaß der Entscheidung 1988 und erst recht nicht der zweiten Entscheidung befugt gewesen sei. Die zweite Entscheidung sei daher wegen mangelnder Befugnis der Kommission für nichtig zu erklären (Urteile des Gerichtshofes vom 12. November 1987 in der Rechtssache 344/85, Ferriere San Carlo/Kommission, Slg. 1987, 4435, und RSV/Kommission).
- Zum Klagegrund des Rechtsmißbrauchs
[114] 110. Wacker und Hoechst machen geltend, daß, losgelöst von der Beurteilung der Verjährungsfrage, der lange Zeitraum zwischen 1983 und 1987, in dem die Kommission untätig geblieben sei, und der Zeitraum zwischen dem Beginn der angeblichen Zuwiderhandlung und dem Zeitpunkt des Erlasses der zweiten Entscheidung, nämlich vierzehn Jahre, einen Rechtsmißbrauch belegten. Diese Verzögerung sei allein von der Kommission zu vertreten.
- Zum Klagegrund des Verstoßes gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens
[115] 111. Hüls und Enichem werfen der Kommission vor, die Grundsätze eines fairen Verfahren verletzt zu haben.
[116] 112. Nach Ansicht von Enichem ist das Recht auf ein faires Verfahren verletzt worden, da zwischen den ersten Ermittlungen und dem Erlaß der Entscheidung ein sehr langer Zeitraum verstrichen sei. Die Parteien seien dadurch in eine äußerst schwierige und unangenehme Lage versetzt worden, da sie den Sachverhalt nicht genau hätten rekonstruieren können.
[117] 113. Nach Ansicht von Hüls ist das Verhalten der Kommission mit den Grundsätzen eines fairen Verfahrens nicht vereinbar.
[118] 114. Erstens habe die Kommission, obwohl sie von dem angeblichen Verstoß spätestens seit 1983 Kenntnis gehabt habe, erst im September 1987 Nachprüfungen in den Räumlichkeiten von Hüls durchgeführt. Diese Verzögerung der Verfahrenseinleitung habe Hüls in ihren Verteidigungsmöglichkeiten eingeschränkt und tatsächlich zu einer Beweislastumkehr zu ihren Lasten geführt. Dies gelte erst recht für das Jahr 1994. Im übrigen hätte die insgesamt eingetretene Verzögerung sich auf die Bemessung der Geldbuße auswirken müssen (Urteil des Gerichtshofes vom 6. März 1974 in den Rechtssachen 6/73 und 7/73, Istituto Chemioterapico und Commercial Solvents/Kommission, Slg. 1974, 223).
[119] 115. Zweitens beruft sich die Klägerin darauf, daß der Grundsatz der Verwirkung Bestandteil des geltenden Gemeinschaftsrechts sei (Urteile des Gerichtshofes vom 14. Juli 1972 in der Rechtssache 48/69, ICI/Kommission, Slg. 1972, 619, Randnr. 49, vom 18. Oktober 1989 in der Rechtssache 374/87, Orkem/Kommission, Slg. 1989, 3283, Randnr. 30; vgl. auch Artikel 6 MRK und Entscheidung der Europäischen Kommission für Menschenrechte vom 9. Februar 1990 im Fall Melchers & Co./Bundesrepublik Deutschland, Nr. 13258/87). Die Verordnung Nr. 2988/74 könne das Problem nicht erschöpfend geregelt haben; bei einem Konflikt gehe der Grundsatz der Verwirkung als allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts zwangsläufig der Verordnung vor. Aufgrund dieser Verwirkung sei es unzulässig, 1994 eine Entscheidung über einen fast fünfzehn Jahre zurückliegenden Sachverhalt zu erlassen.
[120] 116. Die Kommission bestreitet nicht, daß es im Gemeinschaftsrecht ein auf die Erfordernisse der Rechtssicherheit und einer geordneten Verwaltung gegründetes allgemeines Prinzip gebe, nach dem eine Verwaltungsbehörde ihre Befugnisse innerhalb bestimmter zeitlicher Grenzen ausüben müsse (Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970 in der Rechtssache 45/69, Boehringer/Kommission, Slg. 1970, 769, Randnr. 6).
[121] 117. Die Verordnung Nr. 2988/74 entspreche jedoch gerade diesem Ziel der Rechtssicherheit, da sie die Kommission und die Wirtschaftsteilnehmer in die Lage versetze, im voraus zu wissen, innerhalb welcher zeitlicher Grenzen die Kommission handeln könne, um eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft festzustellen.
[122] 118. Diese Verordnung schließe jedoch eine Bezugnahme auf andere rechtliche Kriterien wie "übermäßige Verzögerung", unangemessene Frist, Rechtsmißbrauch, faires Verfahren oder Verwirkung aus. Im übrigen würden solche Kriterien nur Verwirrung und Rechtsunsicherheit stiften, da sie nicht unter den im voraus schriftlich festgelegten Regeln aufgeführt seien (Urteil vom 15. Juli 1970, Boehringer/Kommission, Randnr. 47) und auf einem unscharfen und subjektiven Begriff beruhten.
[123] 119. Zu den Argumenten von LVM und DSM trägt die Kommission vor, daß aufgrund dieser Verordnung die Anwendung des Artikels 6 MRK für die rechtliche Lage der Unternehmen ebenfalls keine Rolle spiele. Auch wenn die Verweisung auf die MRK erheblich wäre, sei die von den Klägerinnen angeführte Rechtsprechung dies jedenfalls nicht, da es dort um den Begriff der angemessenen Frist in Strafverfahren gegen natürliche Personen gehe, nicht aber in Fällen, in denen Wirtschaftsrecht auf juristische Personen angewandt werde. Für die komplexen tatsächlichen Sachverhalte im letztgenannten Bereich sei die Frist von zwei Jahren, die von LVM und DSM angeführt werde, offensichtlich unzureichend, wie die Dauer derartiger Verfahren vor dem Gericht oder dem Gerichtshof belegten. Immer noch unter der Voraussetzung, daß der Verweis auf Artikel 6 MRK erheblich sei, könne der Lauf der Frist erst mit der Mitteilung der Beschwerdepunkte beginnen; die Untersuchungsmaßnahmen wie z. B. die Nachforschungen und die Auskunftsverlangen dienten lediglich der Klärung des Sachverhalts und stellten keine Beschuldigung dar. Im vorliegenden Fall sei die Entscheidung 1988 einige Monate nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte ergangen. Der Kommission könne daher entgegen der Ansicht von LVM und DSM keine Untätigkeit vorgeworfen werden, die ein berechtigtes Vertrauen hinsichtlich des Ausgangs des Verwaltungsverfahrens begründet hätte.
Würdigung durch das Gericht
[124] 120. Nach ständiger Rechtsprechung gehören die Grundrechte zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen, deren Wahrung der Gemeinschaftsrichter zu sichern hat (vgl. insbesondere Gutachten 2/94 vom 28. März 1996, Slg. 1996, I-1759, Randnr. 33, und Urteil des Gerichtshofes vom 29. Mai 1997 in der Rechtssache C-299/95, Kremzow, Slg. 1997, I-2629, Randnr. 14). Dabei lassen sich der Gerichtshof und das Gericht von den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten sowie von den Hinweisen leiten, die die völkerrechtlichen Verträge über den Schutz der Menschenrechte geben, an deren Abschluß die Mitgliedstaaten beteiligt waren oder denen sie beigetreten sind. Der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte kommt insoweit eine besondere Bedeutung zu (Urteile des Gerichtshofes vom 15. Mai 1986 in der Rechtssache 222/84, Johnston, Slg. 1986, 1651, Randnr. 18, und Kremzow, Randnr. 14). Im übrigen achtet nach Artikel F Absatz 2 des Vertrages über die Europäische Union die "Union … die Grundrechte, wie sie in der … Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind und wie sie sich aus den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten als allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts ergeben".
[125] 121. Daher ist zu prüfen, ob unter Berücksichtigung dieser Erwägungen die Kommission gegen den allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz der Einhaltung einer angemessenen Frist für den Erlaß von Entscheidungen nach Abschluß der Verwaltungsverfahren auf dem Gebiet der Wettbewerbspolitik verstoßen hat (Urteil des Gerichts vom 22. Oktober 1997 in den Rechtssachen T-213/95 und T-18/96, SCK und FNK/Kommission, Slg. 1997, II-1739, Randnr. 56).
[126] 122. Der Verstoß gegen diesen Grundsatz, wenn er denn bewiesen wäre, rechtfertigte jedoch die Nichtigerklärung der Entscheidung nur, wenn damit auch die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen verletzt worden wären. Wenn nämlich nicht bewiesen ist, daß die übermäßig lange Verfahrensdauer die Möglichkeit für die betroffenen Unternehmen, sich wirksam zu verteidigen, beeinträchtigt hat, wirkt sich die Nichtbeachtung des Grundsatzes der Sachbehandlung innerhalb angemessener Frist nicht auf die Rechtsgültigkeit des Verwaltungsverfahrens aus und kann daher nur als Ursache eines Schadens angesehen werden, der vor dem Gemeinschaftsrichter im Rahmen einer Klage nach den Artikeln 178 und 215 Absatz 2 EG-Vertrag geltend gemacht werden kann.
[127] 123. Im vorliegenden Fall betrug die Gesamtdauer des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission etwa 62 Monate. Der Zeitraum, in dem der Gemeinschaftsrichter die Rechtmäßigkeit der Entscheidung 1988 und das Urteil des Gerichts nachgeprüft hat, kann bei der Bestimmung der Dauer des Verfahrens vor der Kommission nicht berücksichtigt werden.
[128] 124. Für die Beurteilung der Angemessenheit des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission ist zwischen dem Verfahrensabschnitt, der durch die Nachprüfungen im PVC-Sektor im November 1983 gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 eingeleitet worden ist, und dem Abschnitt zu unterscheiden, der mit dem Eingang der Mitteilung der Beschwerdepunkte bei den betroffenen Unternehmen begonnen hat. Die Angemessenheit der Dauer dieser beiden Abschnitte ist getrennt zu beurteilen.
[129] 125. Der erste Abschnitt von 52 Monaten reicht von den ersten Nachprüfungen im November 1983 bis zur Einleitung des Verfahrens gemäß Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 durch die Kommission im März 1988 auf der Grundlage des Artikels 9 Absatz 3 dieser Verordnung.
[130] 126. Die Angemessenheit eines solchen Verfahrensabschnitts beurteilt sich nach den besonderen Umständen des jeweiligen Einzelfalls und insbesondere nach dessen Kontext, dem Verhalten der Beteiligten im Laufe des Verfahrens, der Bedeutung der Angelegenheit für die verschiedenen betroffenen Unternehmen und der Komplexität der Sache.
[131] 127. Unter Berücksichtigung des gesamten Aktenmaterials erscheint die Dauer dieses Ermittlungsverfahrens in den einzelnen dem Gericht zur Prüfung vorgelegten Rechtssachen angemessen.
[132] 128. In diesem Zusammenhang ist die Komplexität des von der Kommission aufzuklärenden Sachverhalts hervorzuheben, die auf der Art der beanstandeten Verhaltensweisen und auf ihrer Verbreitung auf dem relevanten geographischen Markt beruht, der das gesamte Tätigkeitsgebiet der wichtigsten PVC-Hersteller innerhalb des Gemeinsamen Marktes umfaßt.
[133] 129. Die Komplexität des aufzuklärenden Sachverhalts rührt auch von der Zahl und der Unübersichtlichkeit der von der Kommission zusammengetragenen Schriftstücke her. Die bei den Nachprüfungen in dem genannten Zeitraum in den Räumlichkeiten mehrerer Hersteller petrochemischer Erzeugnisse aufgefundenen Schriftstücke sowie die Antworten dieser Hersteller auf Fragen der Kommission gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 ergaben eine besonders umfangreiche Akte. Zudem mußte die Kommission bei den sehr zahlreichen im Verwaltungsverfahren zusammengetragenen Schriftstücken solche, die zur PVC-Akte gehörten, und andere, die zu einer für den benachbarten Sektor LDPE angelegten Akte gehörten, voneinander trennen. In dem zuletzt genannten Sektor wurden ebenso wie bei anderen thermoplastischen Erzeugnissen in eben dieser Zeit Ermittlungen und ein Verfahren zur Feststellung von Verstößen durchgeführt, die Unternehmen vorgeworfen wurden, die auch Parteien des vorliegenden Verfahrens sind. Die der Entscheidung zugrunde liegenden Akten enthielten nach einer ersten Numerierung durch die Verwaltung eine Folge von Schriftstücken mit 1 072 Seiten und nach einer anderen Numerierung mehr als 5 000 Seiten ohne die kommissionsinternen Schriftstücke.
[134] 130. Schließlich ergab sich die Komplexität des aufzuklärenden Sachverhalts aus der Schwierigkeit, die Beteiligung der Unternehmen an dem ihnen vorgeworfenen Kartell und deren Zahl nachzuweisen. Dazu heißt es in der Entscheidung, daß "[s] iebzehn Unternehmen … während des … erfaßten Zeitraums an dem Verstoß beteiligt" gewesen seien (Randnr. 2, zweiter Absatz, der Entscheidung) und daß die endgültige Entscheidung an vierzehn Unternehmen gerichtet gewesen sei.
[135] 131. Der zweite Zeitraum reicht von der Mitteilung der Beschwerdepunkte bis zum Erlaß der Entscheidung am 27. Juli 1994.
[136] 132. Ob die Dauer dieses Verfahrensabschnitts angemessen war, ist ebenfalls anhand der vorstehend (Randnr. 126) genannten Kriterien, insbesondere der Bedeutung der Angelegenheit für die betroffenen Unternehmen, zu beurteilen. Diesem letztgenannten Kriterium kommt nämlich ein besonderes Gewicht für die Beurteilung der Frage zu, ob die Dauer dieses Abschnitts in dem Verfahren zur Feststellung von Zuwiderhandlungen gegen die Wettbewerbsregeln angemessen war. Zum einen setzt die Mitteilung der Beschwerdepunkte in einem Verfahren zur Feststellung von Zuwiderhandlungen die Einleitung des Verfahrens nach Artikel 3 der Verordnung Nr. 17 voraus. Mit der Einleitung dieses Verfahrens bringt die Kommission ihren Willen zum Ausdruck, zu einer Entscheidung zur Feststellung einer Zuwiderhandlung zu gelangen (in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 6. Februar 1973 in der Rechtssache 48/72, Brasserie de Haecht, Slg. 1973, 77, Randnr. 16). Zum anderen kann ein Unternehmen erst mit Eingang der Mitteilung der Beschwerdepunkte von dem Gegenstand des gegen es eingeleiteten Verfahrens und den ihm von der Kommission vorgeworfenen Verhaltensweisen Kenntnis erlangen. Die Unternehmen haben daher ein besonderes Interesse daran, daß die Kommission diesen zweiten Verfahrensabschnitt beschleunigt durchführt, ohne dabei jedoch ihre Verteidigungsrechte zu verletzen.
[137] 133. Im vorliegenden Fall hat dieser zweite Verfahrensabschnitt vor der Kommission zehn Monate gedauert. Ein solcher Zeitraum rechtfertigt nicht den Vorwurf übermäßiger Länge. Die Beschwerdepunkte sind den betreffenden Unternehmen Anfang April 1988 mitgeteilt worden. Diese haben dazu im Juni 1988 Stellung genommen. Mit Ausnahme von Shell, die keinen entsprechenden Antrag gestellt hatte, wurden die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 5. bis 8. September 1988 und am 19. September 1988 angehört. Am 1. Dezember 1988 gab der Beratende Ausschuß für Kartell- und Monopolfragen seine Stellungnahme zum Entscheidungsvorschlag der Kommission ab, und 20 Tage später erließ diese die ursprüngliche Entscheidung. Die zweite Entscheidung wurde 42 Tage nach der Verkündung des Urteils vom 15. Juni 1994 erlassen.
[138] 134. Somit sind die ursprüngliche Entscheidung und nach deren Nichtigerklärung durch den Gerichtshof auch die zweite Entscheidung in einer angemessenen Frist nach der Mitteilung der Beschwerdepunkte ergangen.
[139] 135. Nach alledem hat die Kommission im Einklang mit dem Grundsatz der Wahrung einer angemessenen Frist in dem dem Erlaß der Entscheidung vorangehenden Verwaltungsverfahren gehandelt. Die Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen sind daher durch die Länge des verstrichenen Zeitraums nicht verletzt worden.
[140] 136. Somit sind die Klagegründe, die sich auf die Länge des verstrichenen Zeitraums stützen, zurückzuweisen.
c) Zu den Klagegründen, die sich auf einen Ermessensfehlgebrauch der Kommission stützen
Vorbringen der Parteien
[141] 137. Enichem macht geltend, die Kommission habe dadurch, daß sie sich nach der Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung durch den Gerichtshof zum Erlaß einer neuen Entscheidung für verpflichtet gehalten habe, den Umfang ihrer eigenen Befugnisse verkannt, deren Ausübung in dem einschlägigen Bereich allein in ihrem Ermessen stehe (Urteil Transocean Marine Paint/Kommission, und Urteile des Gerichtshofes vom 26. April 1988 in den Rechtssachen 97/86, 193/86, 99/86 und 215/86, Asteris u. a./Kommission, Slg. 1988, 2181, und vom 4. Februar 1992 in der Rechtssache C-294/90, British Aerospace und Rover/Kommission, Slg. 1992, I-493). Weder Artikel 176 EG-Vertrag noch die Verordnung Nr. 2988/74 könnten daher die Rechtsgrundlage für eine Verpflichtung zum Neuerlaß der für nichtig erklärten Entscheidung sein.
[142] 138. LVM und DSM tragen vor, daß die Ermittlung und Verfolgung von Verstößen gegen die Wettbewerbsregeln zwar im Ermessen der Kommission stehe, daß diese aber ihr Ermessen in den Grenzen des Gemeinschaftsrechts und insbesondere des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausüben müsse. An diesem Grundsatz seien sowohl das mit dem Erlaß des Rechtsakts verfolgte Ziel als auch die zur Durchsetzung dieses Zieles eingesetzten Mittel zu messen.
[143] 139. Zunächst sei das mit dem Erlaß der Entscheidung verfolgte Ziel nicht, den Wettbewerb im PVC-Sektor zu schützen, sondern, wie das Fehlen eines Vorverfahrens zeige, dem Urteil vom 15. Juni 1994, mit dem die Praxis der Kommission verurteilt worden sei, die Wirkung zu nehmen. Die Notwendigkeit und die Zweckmäßigkeit des durch dieses Urteil nicht gebotenen Erlasses der Entscheidung sei daher nicht bewiesen. Das tatsächlich verfolgte Ziel rechtfertige nicht die Verhängung einer Geldbuße oder zumindest nicht einer so hohen Geldbuße.
[144] 140. Sodann sei die Entscheidung, selbst wenn sie den Schutz des Wettbewerbs bezweckt hätte, auch deshalb rechtswidrig, weil sie ohne ein vorheriges Untersuchungsverfahren ein zur Erreichung dieses Ziels unverhältnismäßiges Mittel darstelle.
[145] 141. Somit obliege es der Kommission, die Notwendigkeit und die Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahme nachzuweisen. Im vorliegenden Fall habe die Entscheidung diese Frage unter Verstoß gegen Artikel 190 EG-Vertrag nicht behandelt.
[146] 142. Nach Ansicht von Montedison ist die Entscheidung ermessensfehlerhaft, da ihr Erlaß auf der Verfolgungswut und der Verbissenheit von Beamten der Kommission beruhe.
[147] 143. Zu dem Vorwurf von Enichem vertritt die Kommission die Auffassung, daß sie im Rahmen ihres Ermessens von einem Tätigwerden absehen könne (Urteil des Gerichts vom 18. September 1992 in der Rechtssache T-24/90, Automec/Kommission, Slg. 1992, II-2223). Ein Unternehmen könne ihr dagegen nicht vorwerfen, von ihren Befugnissen Gebrauch gemacht zu haben (Urteil des Gerichts vom 14. Juli 1994 in der Rechtssache T-77/92, Parker Pen/Kommission, Slg. 1994, II-549, Randnrn. 64 und 65).
[148] 144. Im vorliegenden Fall wäre es nicht logisch gewesen, daß die Kommission, die ihr Ermessen dahin gehend ausgeübt habe, daß sie die Entscheidung 1988 erlassen habe, darauf verzichtet hätte, von ihren Befugnissen Gebrauch zu machen, obwohl die im Urteil vom 15. Juni 1994 beanstandeten Fehler aus dem letzten Abschnitt des Verfahrens zum Erlaß der Entscheidung stammten (Urteil Asteris u. a./Kommission, Randnr. 28). Zudem sei die Verhängung einer Geldbuße schon an sich ein Rechtfertigungsgrund für den Erlaß einer Entscheidung, selbst wenn die Parteien die Zuwiderhandlung abgestellt hätten. Artikel 176 des Vertrages sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig.
[149] 145. Zu dem von LVM und DSM geltend gemachten Klagegrund trägt die Kommission vor, sie habe mit dem Erlaß der Entscheidung ihr Bemühen gezeigt, die Wettbewerbsregeln unter Beachtung des Urteils vom 15. Juni 1994 und der Verordnung Nr. 2988/74 anzuwenden. Da die verhängten Geldbußen denen in der Entscheidung 1988 entsprächen, könne ihr nicht vorgeworfen werden, den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verletzt zu haben.
[150] 146. Zur Begründung der Entscheidung trägt die Kommission vor, daß sie angesichts der ihr nach Artikel 155 EG-Vertrag obliegenden Aufgabe nicht verpflichtet sei, die Zweckmäßigkeit ihrer Maßnahme zu rechtfertigen.
[151] 147. Schließlich habe Montedison keine objektiven, genauen und schlüssigen Indizien zum Nachweis eines Ermessensmißbrauchs vorgetragen (Urteile des Gerichts in der Rechtssache Automec/Kommission, Randnr. 105, und vom 19. Mai 1994 in der Rechtssache T-465/93, Consorzio gruppo di azione locale "Murgia Messapica"/Kommission, Slg. 1994, II-361, Randnr. 66).
Würdigung durch das Gericht
[152] 148. Wie weit die Verpflichtungen der Kommission im Wettbewerbsrecht reichen, ist anhand des Artikels 89 Absatz 1 EG-Vertrag zu prüfen, der auf diesem Gebiet besonderer Ausdruck des allgemeinen Überwachungsauftrags ist, der der Kommission in Artikel 155 EG-Vertrag erteilt worden ist.
[153] 149. Der der Kommission im Wettbewerbsrecht erteilte Überwachungsauftrag umfaßt die Aufgabe, einzelne Zuwiderhandlungen zu ermitteln und zu ahnden, beinhaltet aber auch die Pflicht, eine allgemeine Politik mit dem Ziel zu verfolgen, die im Vertrag niedergelegten Grundsätze im Wettbewerbsrecht anzuwenden und das Verhalten der Unternehmen in diesem Sinne zu lenken (Urteil des Gerichtshofes vom 7. Juni 1983 in den Rechtssachen 100/80, 101/80, 102/80 und 103/80, Musique Diffusion française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1825, Randnr. 105).
[154] 150. Artikel 85 EG-Vertrag ist zudem ein Ausfluß des allgemeinen, der Tätigkeit der Gemeinschaft in Artikel 3 Buchstabe g gesetzten Zieles, ein System zu errichten, das den Wettbewerb innerhalb des Gemeinsamen Marktes vor Verfälschungen schützt (in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 13. Februar 1979 in der Rechtssache 85/76, Hoffmann-La Roche/Kommission, Slg. 1979, 461, Randnr. 38).
[155] 151. Angesichts dieses allgemeinen Zieles und des der Kommission erteilten Auftrags war diese zwar nach dem Urteil vom 15. Juni 1994, mit dem die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt worden ist, nicht zum Erlaß der zweiten Entscheidung verpflichtet, um die beanstandeten wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen festzustellen, jedoch auch nicht daran gehindert, da sie bei der Ausübung des ihr eingeräumten Ermessens weder die Rechtskraft verletzt (vorstehend, Randnrn. 77 bis 85) noch die betroffenen Unternehmen wegen Verhaltensweisen, zu denen das Gericht oder der Gerichtshof bereits festgestellt hätte, daß die Kommission deren Wettbewerbswidrigkeit nachgewiesen hat, verfolgt oder eine Sanktion gegen sie verhängt hat (vorstehend, Randnrn. 95 bis 99).
[156] 152. Somit war es Sache der Kommission, nach Maßgabe des ihr durch den Vertrag erteilten Auftrags zu beurteilen, ob die Entscheidung zu erlassen war.
[157] 153. Was das Vorbringen von LVM und DSM (vorstehend, Randnrn. 138 und 139) zur Stützung des Klagegrundes eines Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz betrifft, so ist dies in dem Sinne zu verstehen, daß die Kommission ermessensmißbräuchlich gehandelt habe, indem sie die zweite Entscheidung erlassen habe, wie auch von Montedison ausdrücklich geltend gemacht wird.
[158] 154. Eine Entscheidung ist nur dann ermessensmißbräuchlich, wenn aufgrund objektiver, schlüssiger und übereinstimmender Indizien anzunehmen ist, daß sie ausschließlich oder zumindest überwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken oder mit dem Ziel erlassen worden ist, ein Verfahren zu umgehen, das der Vertrag speziell vorsieht, um die konkrete Sachlage zu bewältigen (Urteile des Gerichtshofes vom 12. November 1996 in der Rechtssache C-84/94, Vereinigtes Königreich/Rat, Slg. 1996, I-5755, Randnr. 69, und vom 25. Juni 1997 in der Rechtssache C-285/94, Italien/Kommission, Slg. 1997, I-3519, Randnr. 52).
[159] 155. Da LVM, DSM und Montedison entsprechende Indizien nicht aufgezeigt haben, ist diese Rüge zurückzuweisen.
[160] 156. Das Vorbringen von LVM und DSM, die Entscheidung stelle ohne eine vorherige Untersuchung ein zur Erreichung des angestrebten Zieles des Wettbewerbsschutzes unverhältnismäßiges Mittel dar, betrifft eine Frage, die bei der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Art und Weise des Erlasses der Entscheidung zu prüfen sein wird (nachstehend, Randnr. 269).
[161] 157. Zu der Rüge, die Entscheidung sei hinsichtlich der Notwendigkeit und der Verhältnismäßigkeit der Maßnahme der Kommission mangelhaft begründet, genügt die Feststellung, daß der erste Bezugsvermerk der Entscheidung der Kommission den "Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft" anführt, was implizit, aber zwangsläufig eine förmliche Bezugnahme auf den der Kommission erteilten Auftrag darstellt.
[162] 158. Nach alledem sind die auf einen angeblichen Ermessensfehlgebrauch der Kommission gestützten Klagegründe zurückzuweisen.
2. Zur Tragweite des Urteils vom 15. Juni 1994
a) Zu den Rügen, die sich auf die Wirkung "erga omnes" des Urteils vom 15. Juni 1994 stützen
Vorbringen der Parteien
[163] 159. Nach Ansicht von Atochem, BASF und SAV wirkt die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988, die der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 ausgesprochen habe, erga omnes und schaffe daher eine für alle Beteiligten neue Rechtslage (Urteil des Gerichtshofes vom 11. Februar 1955 in der Rechtssache 3/54, Assider/Hohe Behörde, Slg. 1955, 131), und zwar auch für diejenigen, die nicht rechtzeitig Klage erhoben hätten.
[164] 160. SAV trägt hierzu vor, sie sei gegenüber Solvay und Norsk Hydro diskriminiert worden, da die Entscheidung sich nicht an die Letztgenannten richte und die Entscheidung 1988 diesen gegenüber aufgrund des Urteils vom 15. Juni 1994 keine Wirkung mehr entfalte.
[165] 161. Für LVM und DSM hat die Kommission gegen den Grundsatz der Nichtdiskriminierung verstoßen, da in Artikel 1 der Entscheidung eine Zuwiderhandlung sämtlicher PVC-Hersteller festgestellt werde und diese damit in eine vergleichbare Lage versetzt würden, während sie in den Artikeln 2 bis 4 der Entscheidung, in denen die Geldbußen festgesetzt würden, ausdrücklich hiervon ausgenommen würden.
[166] 162. Die Kommission könne sich zur Rechtfertigung nicht darauf berufen, daß die Entscheidung 1988 gegenüber diesen beiden Unternehmen gültig geblieben sei, da nach Artikel 174 EG-Vertrag die für nichtig erklärte Handlung als "inexistent" anzusehen und die Parteien in die frühere Lage zurückzuversetzen seien (Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1971 in der Rechtssache 22/70, Kommission/Rat, Slg. 1971, 263, Randnr. 60). Die Nichtigerklärung wirke auch erga omnes; Artikel 174 EG-Vertrag beschränke die Wirkung der Nichtigerklärung keineswegs auf die Unternehmen, die gegen die Handlung rechtswirksam Klage erhoben hätten. Im übrigen könne, wenn eine Entscheidung für alle Adressaten nach Artikel 189 EG-Vertrag verbindlich sei, die Nichtigkeit auch nur für alle gelten.
[167] 163. Würde man den Argumenten der Kommission folgen, so würde sich die gerügte Diskriminierung auch bei der Vollstreckung zeigen; während die zweite Entscheidung gegenüber ihren Adressaten vollstreckbar wäre, wäre die Entscheidung 1988 dies nicht gegenüber Solvay und Norsk Hydro. Diese entgingen jeder Sanktion, obwohl sie sich in einer Lage befänden, die der der anderen Unternehmen vergleichbar sei.
[168] 164. Die Kommission trägt vor, daß die Entscheidung 1988 ein Bündel individueller Entscheidungen sei. Da Solvay gegen diese Entscheidung keine und Norsk Hydro nicht rechtzeitig Klage erhoben hätten, sei die Entscheidung 1988 ihnen gegenüber bestandskräftig geworden (namentlich Urteile des Gerichtshofes vom 17. November 1965 in der Rechtssache 20/65, Collotti/Gerichtshof, Slg. 1965, 1112, vom 14. Dezember 1965 in der Rechtssache 52/64, Pfloeschner/Kommission, Slg. 1965, 1288, und vom 14. Juni 1988 in der Rechtssache 161/87, Muysers und Tülp/Rechnungshof, Slg. 1988, 3037, Randnrn. 9 und 10).
[169] 165. Die Frage der Wirkung erga omnes von Nichtigkeitsurteilen, die die Nichtigerklärung normativer Rechtsakte mit Auswirkungen auf die Rechtsordnung im allgemeinen betreffe, stelle sich im vorliegenden Fall nicht; ein Urteil, das eine individuelle Entscheidung für nichtig erkläre, könne nur eine relative Wirkung haben.
[170] 166. Der von LVM und DSM geltend gemachte Klagegrund eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot sei unzulässig, da die Stellung von Solvay und Norsk Hydro die Interessen der beiden Klägerinnen nicht verletzen könne. Im übrigen sei der Klagegrund nicht begründet, da für Solvay und Norsk Hydro weiterhin die Entscheidung 1988 gelte.
Würdigung durch das Gericht
[171] 167. Die Entscheidung 1988 ist zwar nur als eine einzige Entscheidung abgefaßt und veröffentlicht, sie stellt aber ein Bündel von Einzelfallentscheidungen dar, mit denen festgestellt wird, welcher Verstoß gegen Artikel 85 EG-Vertrag den jeweiligen Adressaten zur Last gelegt wird, und mit denen diesen eine Geldbuße auferlegt wird. Die Kommission hätte nämlich, wenn sie es gewollt hätte, formal auch mehrere getrennte Einzelfallentscheidungen erlassen können, mit denen sie die Verstöße gegen Artikel 85 EG-Vertrag festgestellt hätte.
[172] 168. Nach Artikel 189 EG-Vertrag ist jede dieser Einzelfallentscheidungen, die Teil der Entscheidung 1988 ist, in allen Teilen für diejenigen verbindlich, die sie bezeichnet. Wenn ein Adressat gegen die Entscheidung 1988 keine Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EG-Vertrag eingereicht hat, hat diese Entscheidung somit ihm gegenüber Bestand und bleibt bindend (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofes vom 9. März 1994 in der Rechtssache C-188/92, TWD Textilwerke Deggendorf, Slg. 1994, I-833, Randnr. 13).
[173] 169. Wenn also ein Adressat Nichtigkeitsklage erhebt, ist der Gemeinschaftsrichter nur mit den Teilen der Entscheidung befaßt, die diesen Adressaten betreffen. Die die anderen Adressaten betreffenden Teile der Entscheidung, die nicht angefochten worden sind, werden dagegen nicht Gegenstand des Rechtsstreits, über den der Gemeinschaftsrichter zu befinden hat.
[174] 170. Der Gemeinschaftsrichter kann im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nur über den Streitgegenstand entscheiden, der ihm von den Parteien unterbreitet wird. Die Entscheidung 1988 konnte daher nur in bezug auf die Adressaten, die vor dem Gemeinschaftsrichter mit ihrer Klage obsiegt haben, für nichtig erklärt werden.
[175] 171. Nummer 2 des Tenors des Urteils vom 15. Juni 1994 führt daher nur insoweit zur Nichtigkeit der Entscheidung 1988, als diese die Parteien betrifft, die vor dem Gerichtshof obsiegt haben.
[176] 172. Die Rechtsprechung, auf die sich die Klägerinnen zur Stützung ihrer These einer Wirkung erga omnes berufen, ist im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da das angeführte Urteil Assider/Hohe Behörde die Wirkung eines Urteils betrifft, mit dem eine im Rahmen des EGKS-Vertrags ergangene allgemeine Entscheidung und nicht wie im vorliegenden Fall ein Bündel individueller Entscheidungen für nichtig erklärt worden war.
[177] 173. Nach alledem hat die Kommission die Klägerinnen nicht diskriminiert, indem sie Solvay und Norsk Hydro in die Artikel des verfügenden Teils der Entscheidung nicht aufgenommen hat. Der Kommission kann eine Diskriminierung nämlich nur vorgeworfen werden, wenn sie vergleichbare Sachverhalte in unterschiedlicher Weise behandelt und dadurch bestimmte Betroffene gegenüber anderen benachteiligt, ohne daß diese Ungleichbehandlung durch das Vorliegen objektiver Unterschiede von einigem Gewicht gerechtfertigt wäre (Urteil des Gerichtshofes vom 15. Januar 1985 in der Rechtssache 250/83, Finsider/Kommission, Slg. 1985, 131, Randnr. 8). Im vorliegenden Fall genügt die Feststellung, daß entgegen der Behauptung der Klägerinnen deren Lage und die von Norsk Hydro und Solvay nicht vergleichbar waren, da die Entscheidung 1988 nicht gegenüber den beiden Letztgenannten für nichtig erklärt worden war. Zudem hat die Kommission auf eine Frage des Gerichts erklärt, daß Norsk Hydro und Solvay die ihnen auferlegten Geldbußen gezahlt hätten, so daß die Klägerinnen nicht behaupten können, sich gegenüber diesen beiden Unternehmen in einer schlechteren Lage zu befinden.
[178] 174. Nach alledem kommt das Gericht zu dem Ergebnis, daß die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof entgegen der Auffassung der Klägerinnen keine Wirkung erga omnes hatte und der Klagegrund eines Verstoßes gegen das Diskriminierungsverbot daher als unbegründet zurückzuweisen ist.
b) Zu den Rügen, die die Ungültigkeit der Verfahrenshandlungen vor dem Erlaß der Entscheidung betreffen
Vorbringen der Parteien
[179] 175. Elf Atochem und BASF tragen vor, die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 habe ex tunc gewirkt. Daher hätte die von der Entscheidung 1988 verschiedene zweite Entscheidung jedenfalls erst nach Abschluß eines neuen Verwaltungsverfahren ergehen dürfen.
[180] 176. Nach Ansicht von Wacker, Hoechst und Hüls hat die Nichtigerklärung der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof ipso jure die Rechtswidrigkeit des gesamten kontradiktorischen Verwaltungsverfahrens, d. h. des Verfahrens seit der Mitteilung der Beschwerdepunkte, nach sich gezogen (Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970 in der Rechtssache 41/69, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 661, Randnrn. 48 bis 52, und vom 25. Oktober 1983 in der Rechtssache 107/82, AEG/Kommission, Slg. 1983, 3151, Randnr. 30; Urteile des Gerichts vom 18. Dezember 1992 in den Rechtssachen T-10/92, T-11/92, T-12/92 und T-15/92, Cimenteries CBR u. a./Kommission, Slg. 1992, II-2667, Randnr. 47, und SIV u. a./Kommission, Randnr. 83). Das streitige Verfahren vor der Kommission und die abschließende Entscheidung bildeten ein einheitliches Verwaltungsverfahren. Infolgedessen sei die zweite Entscheidung rechtswidrig, da die Kommission vor Erlaß dieser Entscheidung kein neues Verwaltungsverfahren durchgeführt habe. Zur Begründung dieser Ansicht tragen Wacker und Hoechst vor, daß die Handlungen in einem Verwaltungsverfahren nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 nur vorbereitende Handlungen seien, deren Rechtmäßigkeit nur zusammen mit der verfahrensabschließenden Entscheidung überprüft werden könne (Urteil des Gerichtshofes vom 11. November 1981 in der Rechtssache 60/81, IBM/Kommission, Slg. 1981, 2639, Randnrn. 9 ff., und Beschluß des Gerichtshofes vom 18. Juni 1986 in den Rechtssachen 142/84 und 156/84, Reynolds/Kommission, Slg. 1986, 1899, Randnrn. 13 ff.).
[181] 177. Infolgedessen hätte die Kommission nach Ansicht von Wacker, Hoechst und Hüls nach der Nichtigerklärung für den Erlaß einer neuen Entscheidung ein neues streitiges Verwaltungsverfahren (Urteil Cimenteries CBR u. a./Kommission) unter Beachtung sämtlicher wesentlichen hierfür vorgeschriebenen Formvorschriften einleiten müssen.
[182] 178. Nach Ansicht von Wacker und Hoechst läßt sich zudem weder dem Tenor noch der Begründung des Urteils vom 15. Juni 1994 entnehmen, daß der Gerichtshof das Verwaltungsverfahren, das zum Erlaß der Entscheidung 1988 geführt habe, entgegen diesen Grundsätzen bis zum Zeitpunkt des festgestellten Verstoßes habe fortbestehen lassen wollen (Urteil des Gerichtshofes vom 6. März 1979 in der Rechtssache 92/78, Simmenthal/Kommission, Slg. 1979, 777, Randnrn. 106 bis 109). Schließlich habe die Kommission kein Recht zur Nachbesserung bei Verletzung wesentlicher Formvorschriften (Urteil des Gerichtshofes vom 7. Februar 1979 in den Rechtssachen 15/76 und 16/76, Frankreich/Kommission, Slg. 1979, 321, Randnrn. 7 bis 11; Schlußanträge des Generalanwalts Warner in der Rechtssache 30/78, Distillers Company/Kommission, Urteil des Gerichtshofes vom 10. Juli 1980, Slg. 1980, 2229, 2267, 2297 ff.).
[183] 179. Enichem trägt vor, die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 habe die Verfahrenshandlungen beseitigt, die dieser Entscheidung vorausgegangen und dieser untergeordnet seien. Diesen Handlungen komme nämlich eine eigenständige Bedeutung zu; sie könnten im übrigen für sich genommen nicht Gegenstand einer Nichtigkeitsklage sein (Urteile IBM/Kommission und Cimenteries CBR u. a./Kommission).
[184] 180. Nach Ansicht von Montedison hat ein zu einer Geldbuße verurteiltes Unternehmen Anspruch auf ein Vorverfahren. Es treffe daher nicht zu, daß die dem fehlerhaften Abschnitt vorausgegangenen Verfahrensabschnitte für den Erlaß einer neuen Handlung rechtsgültig blieben, insbesondere wenn das Verwaltungsverfahren das Recht auf eine streitige Erörterung und die Verteidigungsrechte der betroffenen Partei schützen solle. Die verschiedenen Verfahrensabschnitte seien nämlich notwendige Etappen, die die Kommission zurücklegen müsse, bevor sie eine Geldbuße verhängen könne (Urteil IBM/Kommission, Randnr. 17).
[185] 181. Die Kommission macht geltend, daß das betroffene Organ einem Nichtigkeitsurteil nur dann nachkomme, wenn es nicht nur den Tenor des Urteils beachte, sondern auch die Gründe, die zu diesem geführt hätten und die dessen notwendige Grundlage bildeten (Urteil Asteris u. a./Kommission, Randnr. 27). Im vorliegenden Fall sei der einzige Grund für die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 der Verstoß gegen den die Ausfertigung von Rechtsakten betreffenden Artikel 12 Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung der Kommission (Urteil vom 15. Juni 1994, Randnrn. 76 bis 78). Infolgedessen sei das vorangegangene Verwaltungsverfahren durch das Urteil des Gerichtshofes weder betroffen noch in Frage gestellt worden.
[186] 182. Nach Artikel 176 EG-Vertrag sei zur Durchführung eines Urteils die Lage wiederherzustellen, wie sie vor Eintritt der vom Gerichtshof beanstandeten Umstände bestanden habe (Urteil des Gerichts vom 15. Juli 1993 in den Rechtssachen T-17/90, T-28/91 und T-17/92, Camara Alloisio u. a./Kommission, Slg. 1993, II-841, Randnr. 79). Die Kommission habe daher unter Beachtung der verletzten Formvorschriften eine neue Entscheidung erlassen können (Urteil des Gerichtshofes vom 13. November 1990 in der Rechtssache C-331/88, Fedesa u. a., Slg. 1990, I-4023, Randnr. 34; Schlußanträge des Generalanwalts Mischo, Urteil Fedesa u. a., Slg. 1990, 4042, Nr. 57, und Urteil Cimenteries CBR u. a./Kommission, Randnr. 47).
Würdigung durch das Gericht
[187] 183. Nummer 2 des Tenors des Urteils vom 15. Juni 1994 lautet: "Die Entscheidung 89/190/EWG der Kommission vom 21. Dezember 1988 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/31. 865, PVC) wird für nichtig erklärt."
[188] 184. Um die Tragweite des Urteils, mit der die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt worden ist, zu bestimmen, sind die Gründe dieses Urteils heranzuziehen. Diese Gründe benennen nämlich zum einen die Bestimmung, die als rechtswidrig angesehen wird, und lassen zum anderen die spezifischen Gründe der im Tenor festgestellten Rechtswidrigkeit erkennen (Urteil Asteris u. a./Kommission, Randnr. 27, und Urteile des Gerichts vom 5. Juni 1992 in der Rechtssache T-26/90, Finsider/Kommission, Slg. 1992, II-1789, Randnr. 53 und des Gerichtshofes vom 12. November 1998 in der Rechtssache C-415/96, Spanien/Kommission, Slg. 1998, I-6993, Randnr. 31).
[189] 185. Aus der Begründung des Urteils vom 15. Juni 1994 ergibt sich, daß die Entscheidung 1988 für nichtig erklärt worden ist, weil sie nicht nach Artikel 12 Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung der Kommission festgestellt worden ist.
[190] 186. Nach der Feststellung, daß die Kommission u. a. verpflichtet ist, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit der vollständige Wortlaut der vom Kollegium angenommenen Rechtsakte eindeutig bestimmt werden kann (Randnr. 73), hat der Gerichtshof auf Artikel 12 Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung verwiesen, der lautet: "Die von der Kommission in einer Sitzung oder im schriftlichen Verfahren gefaßten formellen Beschlüsse werden in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt" (Randnr. 74).
[191] 187. Weiter heißt es in dem Urteil: "Anders als die Kommission meint, ist die in diesem Artikel 12 Absatz 1 vorgesehene Ausfertigung der Rechtsakte keine bloße Formalie, die ihr Erinnerungsvermögen stützen soll; sie soll vielmehr die Rechtssicherheit gewährleisten, indem sie den vom Kollegium angenommenen Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt. Damit ermöglicht sie es, im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle zu prüfen" (Randnr. 75). "Artikel 12 Absatz 1 der Geschäftsordnung der Kommission, der die Ausfertigung der Rechtsakte vorsieht, stellt somit eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 [des Vertrages] dar, wegen deren Verletzung die Nichtigkeitsklage gegeben ist" (Randnr. 76).
[192] 188. Nach dem Hinweis, daß die Kommission nicht bestritten hat, die streitige Entscheidung nicht gemäß den Bestimmungen ihrer Geschäftsordnung festgestellt zu haben, ist der Gerichtshof zu dem Ergebnis gelangt, daß die Entscheidung 1988 "wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig zu erklären [ist], ohne daß auf die anderen von den Klägerinnen erhobenen Rügen eingegangen zu werden braucht" (Randnr. 78).
[193] 189. Aus den wiedergegebenen Randnummern folgt, daß der Gerichtshof die Entscheidung 1988 wegen eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt hat, der ausschließlich die Art und Weise betraf, in der diese Entscheidung schließlich von der Kommission erlassen wurde. Da der festgestellte Verfahrensfehler im letzten Abschnitt des Verfahrens zum Erlaß der Entscheidung 1988 aufgetreten ist, berührt die Nichtigerklärung nicht die Gültigkeit der Maßnahmen, die zur Vorbereitung dieser Entscheidung vor dem Abschnitt getroffen worden sind, in dem dieser Fehler aufgetreten ist (in diesem Sinne Urteile Fedesa u. a., Randnr. 34, und Spanien/Kommission, Randnr. 32).
[194] 190. Diese Feststellung wird auch nicht durch die Argumentation einiger Klägerinnen entkräftet, wonach die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 zwangsläufig die Verfahrenshandlungen vor dieser Entscheidung beseitigt habe, da diese sich nicht von der abschließenden Entscheidung trennen ließen. Daß rein vorbereitende Maßnahmen nicht mit einer Nichtigkeitsklage angegriffen werden können (Urteil IBM/Kommission, Randnr. 12), erklärt sich daraus, daß die Kommission ihren Standpunkt noch nicht endgültig festgelegt hat. Daraus ergibt sich aber nicht, daß die Gültigkeit dieser Maßnahmen in Frage gestellt wird, wenn die abschließende Entscheidung aufgrund eines Verfahrensfehlers für nichtig erklärt wird, der wie im vorliegenden Fall in einem auf diese Maßnahmen folgenden Abschnitt aufgetreten ist.
[195] 191. Diese Feststellung wird auch nicht durch die Argumente entkräftet, die auf das Urteil Cimenteries CBR u. a./Kommission gestützt werden. In den Verfahren, die zu diesem Urteil geführt haben, hat das Gericht die Klagen, die von den Klägerinnen namentlich gegen die Entscheidung der Kommission, ihnen keine Einsicht in sämtliche zu ihrer Akte gehörenden Schriftstücke zu gewähren, erhoben worden waren, mangels einer anfechtbaren Handlung als unzulässig abgewiesen. Das Gericht hat dazu im Rahmen der rechtlichen Würdigung festgestellt: "Wenn nun aber das Gericht bei einer Klage gegen eine das Verwaltungsverfahren abschließende Entscheidung ein – in diesem Verfahren mißachtetes – Recht auf vollständige Akteneinsicht bestätigen und daher die endgültige Entscheidung der Kommission wegen Verletzung des Rechts auf Anhörung aufheben würde, so wäre das gesamte Verfahren rechtswidrig gewesen" (Randnr. 47).
[196] 192. Diese Verweisung auf "das gesamte Verfahren" kann nicht losgelöst vom folgenden Satz der Urteilsbegründung ausgelegt werden, wonach die Kommission dann das Verfahren erneut beginnen und "den betroffenen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Gelegenheit … geben [könnte], ihren Standpunkt zu den gegen sie erhobenen Beanstandungen im Lichte sämtlicher neuer Gesichtspunkte, zu denen ihnen von Anfang an Zugang hätte gewährt werden müssen, zu äußern" (Randnr. 47). Der Wortlaut dieser Würdigung läßt erkennen, daß das Gericht nicht der Auffassung gewesen ist, daß die Gültigkeit der Mitteilung der Beschwerdepunkte in Frage gestellt werden könnte.
[197] 193. Nach alledem ist festzustellen, daß die Gültigkeit der Handlungen, die den Erlaß der Entscheidung 1988 vorbereitet haben, durch die Nichtigerklärung dieser Entscheidung durch den Gerichtshof nicht in Frage gestellt worden ist. Infolgedessen sind die Rügen betreffend die Ungültigkeit dieser Handlungen als unbegründet zurückzuweisen.
3. Zur Art und Weise des Erlasses der zweiten Entscheidung nach der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988
Zusammenfassung des Vorbringens der Klägerinnen
[198] 194. Die Klägerinnen tragen im wesentlichen vor, daß selbst dann, wenn der festgestellte Fehler im letzten Verfahrensabschnitt vor Erlaß der Entscheidung 1988 aufgetreten sei, die Kommission bei seiner Behebung vor Erlaß der zweiten Entscheidung bestimmte Verfahrensgarantien hätte beachten müssen.
[199] 195. Es handele sich gegenüber der Entscheidung 1988 um eine neue Entscheidung, da die erstere für nichtig erklärt worden sei. Allein aufgrund dieses Umstands hätte vor Erlaß der zweiten Entscheidung ein neues Verwaltungsverfahren eingeleitet werden müssen. Nach Ansicht einiger Klägerinnen hätte das Verwaltungsverfahren vollständig wiederholt werden müssen, während andere der Meinung sind, daß einige Abschnitte dieses Verfahrens hätten durchgeführt werden müssen. Ganz allgemein habe die Kommission den Anspruch der Klägerinnen auf rechtliches Gehör verletzt.
- Zu den nach dem Sekundärrecht vorgeschriebenen Verfahrensabschnitten
[200] 196. LVM, Elf Atochem, BASF, Shell, DSM, SAV, Montedison, ICI und Hüls machen geltend, daß sie sich nicht gemäß den Bestimmungen der Verordnungen Nrn. 17 und 99/63 hätten äußern können, die Ausdruck des grundlegenden gemeinschaftsrechtlichen Prinzips des rechtlichen Gehörs seien, das auch gelte, wenn besondere Rechtsvorschriften fehlten (Urteile des Gerichtshofes in den Rechtssachen Transocean Marine Paint/Kommission, British Aerospace und Rover/Kommission, Hoffmann-La Roche/Kommission, Randnr. 9, vom 29. Oktober 1980 in den Rechtssachen 209/78 bis 215/78 und 218/78, Van Landewyck u. a./Kommission, Slg. 1980, 3125, Randnr. 81, Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnrn. 9 und 10, und vom 9. November 1983 in der Rechtssache 322/81, Michelin/Kommission, Slg. 1983, 3461, Randnr. 7; Urteile des Gerichts vom 10. Juli 1990 in der Rechtssache T-64/89, Automec/Kommission, Slg. 1990, II-367, Randnr. 46, und vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-36/91, ICI/Kommission, Slg. 1995, II-1847, Randnr. 69). Nach Ansicht von SAV ist die Entscheidung 1988 so anzusehen, als ob sie niemals bestanden hätte, so daß die Kommission das gesamte Verwaltungsverfahren hätte wiederholen müssen, wozu sie sich im übrigen im Vierten Bericht über die Wettbewerbspolitik (Nr. 49) verpflichtet habe. Zudem beruhe, so SAV und ICI, die von der Kommission vertretene Auffassung, daß nur wesentliche Änderungen des Inhalts der für nichtig erklärten Entscheidung bei ihrer Berichtigung ein neues Verfahren rechtfertigen könnten, auf der Rechtsprechung des Gerichtshofes zum institutionellen Gleichgewicht, um das es im vorliegenden Fall nicht gehe (Urteil Fedesa u. a.).
[201] 197. ICI widerspricht dem Argument der Kommission, daß sie sich auf die Berichtigung des vom Gerichtshof festgestellten Fehlers habe beschränken dürfen, ohne die Parteien anzuhören, denn die Entscheidung 1988 und die zweite Entscheidung seien bezüglich der Beteiligten, der wirtschaftlichen Lage des Marktes und der Entwicklung der Rechtsprechung in den Jahren vor Erlaß der zweiten Entscheidung unter unterschiedlichen tatsächlichen und rechtlichen Bedingungen ergangen.
[202] 198. SAV und Montedison machen in diesem Zusammenhang geltend, daß der für nichtig erklärte Rechtsakt in Ausübung eines Ermessens erlassen worden sei und das Organ deshalb den wegen eines Formfehlers für nichtig erklärten Rechtsakt nur unter Beachtung der erforderlichen Formvorschriften und der Rechte der Verteidigung neu erlassen könne, selbst wenn eine besondere Vorschrift fehle (Urteil Transocean Marine Paint/Kommission, Randnr. 16).
[203] 199. LVM, Elf Atochem, BASF, Shell, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, ICI, Hüls und Enichem machen im einzelnen geltend, daß die Kommission gegen ihre Verpflichtungen, die sie sich selbst im Hinblick auf die Aufgabe des Anhörungsbeauftragten auferlegt habe, verstoßen habe, indem sie nicht vorher ein Verwaltungsverfahren durchgeführt habe. Elf Atochem, Shell, SAV, ICI und Enichem verweisen auf den Beschluß der Kommission vom 23. November 1990 über die Durchführung von Anhörungen im Verfahren zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag sowie der Artikel 65 und 66 EGKS-Vertrag (Zwanzigster Bericht über die Wettbewerbspolitik, S. 360). Nach Ansicht von BASF und Hüls hat die Kommission gegen die Artikel 5, 6 und 7 des Beschlusses der Kommission vom 8. September 1982 über das Mandat des Anhörungsbeauftragten (Dreizehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, S. 284) verstoßen.
[204] 200. ICI trägt vor, die Entscheidung wäre wesentlich anders ausgefallen, wenn der Anhörungsbeauftragte beteiligt worden wäre, da ICI bei dieser Gelegenheit namentlich die Verjährung der Handlungen, die Verzögerung beim Erlaß der Entscheidung, die Weigerung der Kommission, ihr Akteneinsicht zu gewähren, die Frage der Selbstbezichtigung, die Tragweite des Artikels 20 der Verordnung Nr. 17 und den Begriff der abgestimmten Verhaltensweise hätte geltend machen können.
[205] 201. Nach Ansicht von Hüls war die Beteiligung des Anhörungsbeauftragten im Jahr 1988 nicht geeignet, diesem die Wahrnehmung seiner Aufgaben im Jahr 1994 zu ermöglichen; tatsächlich müsse ein enger zeitlicher Zusammenhang zwischen der Beteiligung des Anhörungsbeauftragten und dem Erlaß der entsprechenden Entscheidung bestehen. Die Haltung der Kommission im vorliegenden Fall sei um so befremdlicher, als die Rolle des Anhörungsbeauftragten erweitert worden sei (Dreiundzwanzigster Bericht über die Wettbewerbspolitik, Nr. 203 ff; Beschluß 94/810/EGKS, EG der Kommission vom 12. Dezember 1994 über das Mandat des Anhörungsbeauftragten in Wettbewerbsverfahren vor der Kommission, ABl. L 330, S. 67).
[206] 202. Enichem trägt ergänzend vor, das von der Kommission angeführte Urteil des Gerichts vom 10. März 1992 in der Rechtssache T-9/89 (Hüls/Kommission, Slg. 1992, II-499) lasse nicht den Schluß zu, daß die Anhörung des Anhörungsbeauftragten nicht in jedem Verfahren ein verbindlich vorgeschriebener Abschnitt sei. Wäre der Anhörungsbeauftragte gehört worden, hätte er sich zur Zweckmäßigkeit des Erlasses einer neuen Entscheidung, zu den Nummern 55 bis 59 der Entscheidungsbegründung, die gegenüber der Begründung der ursprünglichen Entscheidung neu gewesen seien (Urteil des Gerichtshofes vom 29. Juni 1994 in der Rechtssache C-135/92, Fiskano/Kommission, Slg. 1994, I-2885, Randnr. 40) und in die ausschließliche Zuständigkeit des Kollegiums der Kommissionsmitglieder fielen, zur Höhe der Geldbuße, die in diskriminierender Weise und unzutreffend nach dem Umsatz 1987 statt dem des Jahres 1993 festgesetzt worden sei, zur Frage der Verjährung, die entgegen der Ansicht der Kommission ein materieller Klagegrund sei, zur Regelung der Akteneinsicht, zur Wirkung erga omnes des Urteils des Gerichtshofes, zur Anwendung des Grundsatzes der Rechtskraft, nach dem die Kommission zum Erlaß der zweiten Entscheidung, die den gleichen Sachverhalt betroffen habe, nicht befugt gewesen sei und mit deren Erlaß gegen den Grundsatz ne bis in idem verstoßen habe, sowie zur Entwicklung des PVC-Marktes, von dem sich die Klägerin 1986 zurückgezogen habe, indem sie ihre Geschäftstätigkeiten auf ein Unternehmen übertragen habe, das sie zu 50 % gemeinsam mit ICI gegründet habe und an dem sie nur noch eine Minderheitsbeteiligung halte, äußern können. Die zweite Entscheidung hätte dadurch im Kern berührt werden können. Aufgrund der von der Kommission getroffenen Entscheidung habe die Klägerin sich gezwungen gesehen, Klage zu erheben, um eine solche Stellungnahme abgeben zu können.
[207] 203. LVM, Elf Atochem, BASF, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, ICI, Hüls und Enichem sind der Ansicht, daß die Kommission gegen ihre Verpflichtung zur Anhörung des Beratenden Ausschusses für Kartell- und Monopolfragen (nachstehend: Beratender Ausschuß) vor Erlaß der Entscheidung verstoßen habe; die Anhörung sei in Artikel 10 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 vorgeschrieben. Der Beratende Ausschuß müsse nämlich vor Erlaß jeder Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln gemäß Artikel 10 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 festgestellt werde, und vor jeder Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße gemäß Artikel 15 Absatz 3 dieser Verordnung beteiligt werden. Da die zweite Entscheidung gegenüber der ursprünglichen neu gewesen sei, sei die Anhörung des Beratenden Ausschusses, die 1988 stattgefunden habe, entweder unwirksam oder unzureichend. Die zweite Entscheidung müsse daher wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften für nichtig erklärt werden (Schlußanträge des Generalanwalts Gand, ACF Chemiefarma/Kommission, Slg. 1970, 707, 709 bis 711, des Generalanwalts Warner, Distillers Company/Kommission, Slg. 1980, 2267, 2293, und des Generalanwalts Sir Gordon Slynn in den Rechtssachen 228/82 und 229/82, Ford/Kommission, Urteil des Gerichtshofes vom 28. Februar 1984, Slg. 1984, 1129, 1147, 1173; einige Klägerinnen verweisen auch auf die Rechtsprechung zur Verletzung der Anhörungspflicht: Urteil des Gerichtshofes vom 21. Dezember 1954 in der Rechtssache 2/54, Italien/Hohe Behörde, Slg. 1954, 78, Urteil Roquette Frères/Rat sowie Urteile vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-65/90, Parlament/Rat, Slg. 1992, I-4593, vom 5. Oktober 1993 in den Rechtssachen C-13/92, C-14/92, C-15/92 und C-16/92, Driessen u. a., Slg. 1993, I-4751, und vom 1. Juni 1994 in der Rechtssache C-388/92, Parlament/Rat, Slg. 1994, I-2067). Das von der Kommission angeführte Urteil des Gerichtshofes vom 15. Mai 1975 in der Rechtssache 71/74 (Frubo/Kommission, Slg. 1975, 563) sei dagegen nicht einschlägig, da sich die allgemeine Anhörung der Mitgliedstaaten im Rahmen der Verordnung Nr. 26/62 des Rates vom 4. April 1962 zur Anwendung bestimmter Wettbewerbsregeln auf die Produktion landwirtschaftlicher Erzeugnisse und auf den Handel mit diesen Erzeugnissen (ABl. 1962, Nr. 30, S. 993) in einer Situation, in der die Kommission keine Zweifel habe, nicht mit der Anhörung des Beratenden Ausschusses vergleichen lasse, wie sie im einzelnen in der Verordnung Nr. 17 geregelt sei.
[208] 204. Die Anhörung des Beratenden Ausschusses sei um so mehr aus den beiden folgenden Gründen geboten gewesen. Erstens sei, so tragen BASF, Wacker, Hoechst, SAV, Hüls und Enichem vor, die Entscheidung die erste nach der vom Gemeinschaftsrichter ausgesprochenen Nichtigerklärung einer gegenüber denselben Unternehmen ergangenen früheren Entscheidung gewesen. Wie von SAV und ICI vorgetragen wird, hätte der Beratende Ausschuß, der eng an der abgestimmten Entwicklung der Wettbewerbspolitik zu beteiligen sei (Dreizehnter Bericht über die Wettbewerbspolitik, Nr. 79), aufgrund der ihm übertragenen Aufgabe zur Zweckmäßigkeit des Erlasses einer neuen Entscheidung gehört werden müssen, wenn die frühere für nichtig erklärt worden sei, was offenkundig – Präzedenzfälle in der Rechtsprechung fehlten – unter die Wettbewerbspolitik falle. Da der Erlaß einer neuen Entscheidung nach der Nichtigerklärung der früheren in das Ermessen der Kommission falle, wäre eine Anhörung des Beratenden Ausschusses über die Zweckmäßigkeit eines solchen Vorgehens um so notwendiger gewesen. Im übrigen sei die Kommission in der Vergangenheit in dieser Weise vorgegangen (Entscheidung 75/649/EWG der Kommission vom 23. Oktober 1975 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des Vertrages (IV/223 – Transocean Marine Paint Association) (ABl. L 286, S. 24).
[209] 205. Zweitens, so BASF, Wacker, Hoechst, ICI, Hüls und Enichem, hätte der Beratende Ausschuß auch wegen der textlichen Änderungen, die die Entscheidung gegenüber der ursprünglichen Entscheidung aufweise, aber – nach Ansicht einiger Klägerinnen – auch wegen der Länge des Verfahrens, der besonderen Umstände, die zur Nichtigerklärung der ursprünglichen Entscheidung geführt hätten, der bei der Sachverhaltsaufklärung vor dem Gericht festgestellten Fehler der Kommission, der gegen diese Entscheidung erhobenen Klagen und der Marktentwicklung für dieses Erzeugnis seit 1988 gehört werden müssen. ICI verweist in diesem Zusammenhang darauf, daß die Änderung der Zusammensetzung des Beratenden Ausschusses ebenfalls eine erneute Anhörung dieses Organs rechtfertige. In demselben Zusammenhang macht BASF geltend, daß die Anhörung des Beratenden Ausschusses den betroffenen Unternehmen auch ein faires Verfahren und den Anspruch auf rechtliches Gehör gewährleisten solle, wie sich aus den Artikeln 1, 7 Absatz 1 und 8 Absatz 2 der Verordnung Nr. 99/63 ergebe.
[210] 206. Nach Ansicht von BASF, Wacker, Hoechst und ICI hätte diese Anhörung die Kommission dazu bringen können, eine andere Entscheidung, insbesondere hinsichtlich der Geldbußen, zu erlassen oder sogar auf den Erlaß der zweiten Entscheidung zu verzichten. Durch die Streichung zweier Sätze in Randnummer 37 der ursprünglichen Entscheidung über die schädlichen Wirkungen des Kartells hat die Kommission nach Meinung von BASF einen Gesichtspunkt fallengelassen, der zwangsläufig Einfluß auf die Entscheidung über die Verhängung einer Geldbuße und deren Bemessung gehabt habe.
[211] 207. BASF und ICI sind darüber hinaus der Ansicht, wenn der Beratende Ausschuß vor der Erneuerung einer Freistellung gehört werden müsse, müsse er auch gehört werden, wenn die Kommission anstelle einer für nichtig erklärten Entscheidung eine neue Entscheidung erlasse.
[212] 208. LVM und DSM machen im einzelnen geltend, daß die Kommission dadurch, daß sie den Beratenden Ausschuß nicht vor Erlaß der Entscheidung angehört habe, den Mitgliedstaaten die Möglichkeit genommen habe, bei der Festlegung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik mitzuwirken. Die obligatorische Anhörung des Beratenden Ausschusses fördere die Bemühungen um das institutionelle Gleichgewicht auf diesem Gebiet. Der Verstoß gegen diese Verpflichtung müsse daher zur Nichtigerklärung der zweiten Entscheidung wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften und sogar wegen Unzuständigkeit führen, wenn diese Verpflichtung dahin verstanden werde, daß sie die Zustimmung der zuständigen Behörden der Mitgliedstaaten verlange.
[213] 209. Nach Ansicht von SAV kann die Rechtsprechung zum institutionellen Gleichgewicht, die die Verpflichtung der Anhörung des Parlaments zu einem Richtlinienvorschlag betreffe, der anschließend geändert worden sei (insbesondere Urteil vom 16. Juli 1992, Parlament/Rat), nicht auf den Fall übertragen werden, daß der Beratende Ausschuß zu einer den Adressaten beschwerenden neuen Entscheidung nicht gehört worden sei.
[214] 210. Schließlich rügen SAV und ICI einen Verstoß der Kommission gegen Artikel 190 des Vertrages, da die Bezugsvermerke der Entscheidung sich nur auf die Anhörung des Beratenden Ausschusses vor Erlaß der Entscheidung 1988 bezögen.
[215] 211. Auch SAV trägt im einzelnen vor, daß die Kommission gegen ihre Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der EFTA-Überwachungsbehörde verstoßen habe. Insbesondere die Artikel 53, 56 und 58 des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, das am 2. Mai 1992 in Porto unterzeichnet und am 1. Januar 1994 in Kraft getreten sei, sowie dessen Protokolle 21 und 23, verpflichteten die Kommission zur Zusammenarbeit mit der EFTA-Überwachungsbehörde bei der Festlegung der Wettbewerbspolitik und beim Erlaß individueller Entscheidungen auf diesem Gebiet. Durch das Versäumnis, den Beratenden Ausschuß anzuhören, habe die Kommission der EFTA-Überwachungsbehörde die Möglichkeit genommen, ihren Standpunkt darzulegen. Die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit dieser Behörde bestehe allein aufgrund der Tatsache des Erlasses einer Entscheidung, unabhängig davon, ob diese Entscheidung mit einer früheren, für nichtig erklärten Entscheidung identisch sei. Zudem hätte die Überwachungsbehörde zur Zusammenarbeit mit der Kommission aufgerufen werden müssen, da es sich um eine Sache handele, die die Wettbewerbspolitik in Frage stelle.
- Zu dem von den Klägerinnen geltend gemachten Anspruch auf rechtliches Gehör
[216] 212. Die Kommission habe in mehrfacher Hinsicht das Recht der Unternehmen auf Mitteilung ihres Standpunkts verletzt.
[217] 213. Erstens tragen LVM und DSM vor, schon die Absicht, einen neuen beschwerenden Rechtsakt zu erlassen, begründe die Verpflichtung, die Parteien hierzu zu hören (Urteil des Gerichtshofes vom 12. Februar 1992 in den Rechtssachen C-48/90 und C-66/90, Niederlande u. a./Kommission, Slg. 1992, I-565, Randnr. 44). ICI meint, sie hätte jedenfalls zu der Frage gehört werden müssen, ob eine neue Entscheidung in dem konkreten Fall wünschenswert oder ratsam sei.
[218] 214. Zweitens tragen SAV, Hüls und Enichem vor, die Vorentscheidung, vom normalen Verfahren für den Erlaß einer Entscheidung abzuweichen, hätte eine Anhörung der Parteien zu dieser Vorentscheidung gerechtfertigt.
[219] 215. Nach Ansicht von SAV hat die Kommission eine Wahl getroffen, als sie sich dafür entschieden habe, nicht das gesamte Verwaltungsverfahren für den Erlaß der zweiten Entscheidung erneut durchzuführen. Das Recht des Adressaten eines Rechtsakts, über die Bedingungen informiert zu werden, unter denen die Kommission eine Entscheidung erlassen wolle, erlege der Verwaltung auch ohne eine besondere Regelung eine dem entsprechende Verpflichtung auf (Urteile des Gerichtshofes vom 27. Juni 1991 in den Rechtssachen C-49/88, Al-Jubail Fertilizer und Saudi Arabian Fertilizer/Rat, Slg. 1991, I-3187, Randnr. 16, Niederlande u. a./Kommission). Die Kommission hätte daher die Unternehmen zu der beabsichtigten Verfahrensentscheidung hören müssen.
[220] 216. Hüls trägt vor, sie hätte Gelegenheit erhalten müssen, zu der Rechtmäßigkeit des von der Kommission nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 beabsichtigten Verfahrens, insbesondere zu der Frage, ob eine neue Entscheidung ohne erneute Anhörung habe erlassen werden können, Stellung zu nehmen.
[221] 217. BASF, Wacker, Hoechst und Hüls weisen darauf hin, daß die Kommission, die hinsichtlich des Vorgehens für den Erlaß der zweiten Entscheidung unsicher gewesen sei, ihren Juristischen Dienst um ein Gutachten hierzu gebeten habe. BASF, Hüls und Wacker beantragen, der Kommission aufzugeben, dieses Gutachten zu den Akten zu reichen, oder, so der Antrag von BASF, wenn nur eine mündliche Stellungnahme abgegeben worden sei, den Bediensteten zu hören, der diese abgegeben habe.
[222] 218. Drittens tragen LVM, BASF, Shell, DSM, SAV, ICI und Enichem vor, der Erlaß einer neuen Entscheidung beinhalte die Verpflichtung der Kommission, vor Erlaß eines beschwerenden Rechtsakts die betroffenen Unternehmen zu hören (Urteile des Gerichtshofes vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 234/84, Belgien/Kommission, Slg. 1986, 2263, Randnr. 27, vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 40/85, Belgien/Kommission, Slg. 1986, 2321, Randnr. 28, vom 11. November 1987 in der Rechtssache 259/85, Frankreich/Kommission, Slg. 1987, 4393, Randnr. 12, vom 14. Februar 1990 in der Rechtssache C-301/87, Frankreich/Kommission, Slg. 1990, I-307, Randnr. 29, und Niederlande u. a./Kommission, Randnr. 44). Die Unternehmen hätten sich dann insbesondere zu der Entwicklung der Rechtsprechung zum Begriff der abgestimmten Verhaltensweise und der Art und Weise, den Nachweis für eine solche zu führen, äußern können. Ebenso hätten sie zu der Entwicklung der Rechtsprechung zu den Bedingungen der Einsicht in die Akten der Kommission, der Auslegung der Verjährungsvorschriften, der Verzögerung, mit der die Kommission entschieden habe, der Diskriminierung im Verhältnis zu Norsk Hydro und Solvay und dem Grundsatz ne bis in idem Stellung nehmen können.
[223] 219. Wacker, Hoechst und ICI vertreten in diesem Zusammenhang die Ansicht, daß die Kommission den Anspruch auf rechtliches Gehör nicht allein auf die gegenüber einem Unternehmen erhobenen Vorwürfe beschränken könne. Ein Unternehmen müsse seinen Standpunkt darlegen können, wenn die Kommission neue, bisher noch nicht mitgeteilte Gesichtspunkte tatsächlicher oder rechtlicher Art einbringe.
[224] 220. Nach Meinung von LVM und DSM entbindet auch die Möglichkeit für die Unternehmen, die Streitigkeit dem Gericht zu unterbreiten, die Kommission nicht davon, die Unternehmen vor Erlaß einer Entscheidung zu hören (Urteil vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 108). Der Verstoß gegen ein grundlegendes Recht könne auf diese Weise nicht geheilt werden, ohne daß gegen das institutionelle Gleichgewicht verstoßen werde.
[225] 221. Nach Ansicht von SAV hätte das frühere Verfahren nur dann in dem Abschnitt wiederaufgenommen werden dürfen, in dem der Fehler aufgetreten sei, wenn es auf den neuesten Stand gebracht worden wäre, was bedeute, daß die Kommission die zwischenzeitlich eingetretenen tatsächlichen und rechtlichen Änderungen hätte berücksichtigen müssen (Urteile des Gerichtshofes vom 3. Oktober 1991 in der Rechtssache C-261/89, Italien/Kommission, Slg. 1991, I-4437, British Aerospace und Rover/Kommission, Schlußanträge des Generalanwalts Van Gerven in dieser Rechtssache, Slg. 1992, I-504, Nrn. 10 und 12). SAV meint, daß sie hätte angehört werden müssen, um sich auf die Entwicklung der Rechtsprechung (vorstehend, Randnr. 218) berufen zu können, was zum besonderen Zweck des Verwaltungsverfahrens gehöre. Im übrigen ändere die Tatsache allein, daß SAV sich im Rahmen der vorliegenden Klage auf diese Rechtsprechung berufen könne, nichts an der Verpflichtung der Kommission, sie hierzu vorher anzuhören, was zu einer anderen Entscheidung hätte führen können.
[226] 222. Viertens vertreten LVM, Elf Atochem, BASF, Shell, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, ICI, Hüls und Enichem die Ansicht, daß die Unternehmen hätten angehört werden müssen, weil die Entscheidung in wesentlichen Punkten textliche Abweichungen gegenüber der ursprünglichen Entscheidung aufweise (Urteile des Gerichtshofes vom 14. Juli 1972 in der Rechtssache 51/69, Bayer/Kommission, Slg. 1972, 745, Randnr. 11, und in der Rechtssache 55/69, Cassella/Kommission, Slg. 1972, 887, Randnr. 11). Dies gelte für die Beurteilung der Verjährungsvorschriften, die Streichung zweier Sätze zu den Kartellwirkungen (Randnr. 37 der Entscheidung), die Hinzufügung eines Teils, der das Verfahren seit 1988 betreffe, sowie die Auslassung von Solvay und Norsk Hydro. Shell meint darüber hinaus, daß die Aufrechterhaltung der Abstellungsverfügung (Artikel 2 der Entscheidung) ein Beleg dafür sei, daß die Kommission über Informationen bezüglich des Zeitraums 1988—1994 verfügt haben müsse, zu denen Shell nicht gehört worden sei.
[227] 223. Fünftens trägt BASF vor, daß das frühere Verwaltungsverfahren mit der Entscheidung 1988 abgeschlossen worden sei, so daß eine erneute Anhörung der Unternehmen erforderlich gewesen wäre.
[228] 224. Sechstens tragen BASF, Wacker, Hoechst, ICI und Hüls vor, daß sie hätten angehört werden müssen, weil ein Zeitraum von sechs Jahren zwischen der Anhörung und dem Erlaß der zweiten Entscheidung vergangen sei. In diesem Sinne macht auch Shell geltend, daß der Zeitraum zwischen der angeblichen Zuwiderhandlung und dem Erlaß der Entscheidung übermäßig lang gewesen sei; es stelle sich somit die Frage, ob das Verfahren nicht unbillig sei und sich ungerecht zum Nachteil der Klägerin auswirke. BASF, Wacker, Hoechst und Hüls machen geltend, das Verfahren zur Feststellung einer Zuwiderhandlung, das zu einer Festsetzung von Geldbußen führe, habe eine abschreckende Funktion (Urteil Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnr. 106) und einen quasi-strafrechtlichen Charakter. Daher müßten gleiche Garantien wie in einem Strafverfahren gelten. Unter diesen Garantien sei insbesondere das Erfordernis eines angemessenen zeitlichen Zusammenhangs zwischen Anhörung und Entscheidung zu nennen (Urteil des Gerichts vom 7. Juli 1994 in der Rechtssache T-43/92, Dunlop Slazenger/Kommission, Slg. 1994, II-441, Randnr. 167). Der Zeitraum von sechs Jahren, der im vorliegenden Fall zwischen diesen beiden Zeitpunkten verstrichen sei und nicht den Unternehmen angelastet werden könne, da die Entscheidung 1988 mit schweren Mängeln behaftet gewesen sei, könne nicht als angemessen angesehen werden. Angesichts der Veränderungen des PVC-Marktes, der Lage von BASF und der wesentlichen Änderungen am Text der Entscheidung wäre für den Erlaß der Entscheidung eine erneute Anhörung der Unternehmen unter Berücksichtigung sämtlicher zum Zeitpunkt ihres Erlasses bestehender tatsächlicher und rechtlicher Umstände erforderlich gewesen.
[229] 225. ICI macht schließlich geltend, sie sei nicht in der Lage gewesen, ihre Interessen wirksam zu verteidigen, da zwischen ihrer schriftlichen und mündlichen Stellungnahme und dem Erlaß der Entscheidung sechs Jahre verstrichen seien; das Recht, seinen Standpunkt gebührend darzulegen, setze nämlich voraus, in dem rechtlichen und tatsächlichen Kontext gehört zu werden, wie er unmittelbar vor Erlaß einer Entscheidung bestehe.
Vorbringen der Kommission
[230] 226. Zu dem Vorbringen der Klägerinnen führt die Kommission aus, daß die Entscheidung 1988 durch das Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 gegenüber den Klägerinnen für nichtig erklärt worden sei, weil diese Entscheidung unter Verstoß gegen Artikel 12 Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung der Kommission nicht festgestellt worden sei (Urteil vom 15. Juni 1994, Randnrn. 76 bis 78).
[231] 227. Daher sei die Gültigkeit des Verfahrens, das bis zu dem Abschnitt durchgeführt worden sei, in dem der Fehler aufgetreten sei, nicht in Frage gestellt. Somit sei die Kommission berechtigt gewesen, dem Urteil des Gerichtshofes in der Weise nachzukommen, daß sie sich auf den Erlaß einer ordnungsgemäß festgestellten Entscheidung beschränkt habe, da zum einen nach der Nichtigerklärung der Entscheidung keine neue Vorschrift über das Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag erlassen worden sei und es zum anderen keine neuen Tatsachen gebe, weil die zur Last gelegten Handlungen lange zurücklägen. Dies entspreche im übrigen dem besonderen Zweck des vorherigen Verwaltungsverfahrens (Urteil des Gerichtshofes vom 17. Januar 1984 in den Rechtssachen 43/82 und 63/82, VBVB und VBBB/Kommission, Slg. 1984, 19, Randnr. 52). Jede andere Lösung wäre ein übertriebener Formalismus (Urteil Frubo/Kommission, Randnr. 11).
[232] 228. Die textlichen Unterschiede zwischen der Entscheidung 1988 und der zweiten Entscheidung seien nicht wesentlich (Urteile des Gerichtshofes in der Rechtssache ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 178, vom 4. Februar 1982 in der Rechtssache 817/79, Buyl u. a./Kommission, Slg. 1982, 245, Randnr. 23, Fedesa u. a., vom 16. Juli 1992, Parlament/Rat, und vom 1. Juni 1994, Parlament/Rat), so daß die von einigen Klägerinnen angeführte Rechtsprechung (namentlich die Urteile Transocean Marine Paint/Kommission und British Aerospace und Rover/Kommission) nicht einschlägig sei.
[233] 229. In Wirklichkeit seien die Änderungen am Text rein redaktioneller Art und rechtfertigten nicht die Eröffnung einer Anhörung, da diese Zusätze keine beschwerenden Punkte enthielten. Wenn zwei Sätze der Randnummer 37 der deutschen Fassung der Entscheidung 1988 in derselben Randnummer der zweiten Entscheidung nicht mehr auftauchten, so allein aus Gründen der Abstimmung mit den anderen ebenfalls verbindlichen Sprachfassungen. Da die Anpassung des Textes keine Beschwer enthalte, sei eine Anhörung dieser Klägerinnen hierzu nicht notwendig gewesen.
[234] 230. Da der Fehler, der zur Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 geführt habe, klar auf den letzten Abschnitt des Erlasses der Entscheidung begrenzt gewesen sei und die zweite Entscheidung sich in nichts wesentlich von der früheren unterscheide, seien sämtliche Verfahrensabschnitte vor Erlaß der Entscheidung 1988 rechtsgültig geblieben.
[235] 231. Da es somit keine neuen Beschwerdepunkte gegen die Klägerinnen gegeben habe, sei die Kommission nicht verpflichtet gewesen, eine neue Mitteilung der Beschwerdepunkte an die Unternehmen zu richten oder diesen Gelegenheit zu geben, sich mündlich oder schriftlich zu äußern, oder den Anhörungsbeauftragten mit der Sache zu befassen, was sich von den ersten beiden Verfahrensabschnitten nicht abtrennen lasse.
[236] 232. Die Kommission sei auch nicht verpflichtet gewesen, den Beratenden Ausschuß anzuhören. Aufgrund der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 sei die Anhörung des Beratenden Ausschusses am 30. November 1988 als Anhörung vor Erlaß der zweiten Entscheidung anzusehen, da es keine neuen Beschwerdepunkte gegeben habe. Dem Sinn und Zweck des Artikels 10 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 sei damit genügt. Der Hinweis auf das Äußerungsrecht des Beratenden Ausschusses im Zusammenhang mit der Erneuerung einer Freistellungsentscheidung sei im vorliegenden Fall nicht einschlägig. Eine solche Erneuerung betreffe nämlich einen anderen zeitlichen Bezugsrahmen, so daß die Beurteilungen sich auf verschiedene Parameter stützten.
[237] 233. In den Rechtssachen BASF und ICI trägt die Kommission vor, ihr Standpunkt bezüglich des Beratenden Ausschusses schließe unwesentliche Textanpassungen wie die bezüglich der Verjährung und der Streichung zweier Sätze in der deutschen Fassung der Entscheidung nicht aus. Die Rechtssache Transocean Marine Paint/Kommission, auf die sich SAV beziehe, zeige, daß eine neue Stellungnahme nur erforderlich sei, wenn ein sachlicher Gesichtspunkt dem Beratenden Ausschuß ursprünglich nicht unterbreitet worden sei. Dies sei hier nicht der Fall.
[238] 234. Im übrigen sei die Kommission nicht an die Stellungnahme des Beratenden Ausschusses gebunden, wie sich aus Artikel 10 Absatz 6 Satz 2 der Verordnung Nr. 17 ergebe.
[239] 235. In der Rechtssache SAV sei der Beratende Ausschuß jedenfalls über die Antwort dieses Unternehmens auf die Beschwerdepunkte unterrichtet worden (Urteile Michelin/Kommission, Randnr. 7, und Hüls/Kommission, Randnr. 86); diese Beschwerdepunkte hätten sich seit 1988 nicht geändert. Eine Anhörung des Beratenden Ausschusses zur Zweckmäßigkeit des Erlasses einer neuen Entscheidung sei nirgendwo vorgeschrieben.
[240] 236. Schließlich sei nach Artikel 1 der Verordnung Nr. 99/63 die Anhörung des Beratenden Ausschusses erst nach Anhörung der Parteien vorgeschrieben. Da eine erneute Anhörung der Parteien nicht erforderlich gewesen sei, sei aus den gleichen Gründen eine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses nicht geboten gewesen (Urteil des Gerichtshofes vom 21. September 1989 in den Rechtssachen 46/87 und 227/88, Hoechst/Kommission, Slg. 1989, 2859, Randnr. 54).
[241] 237. Im übrigen habe allein die Kommission zu beurteilen, ob der Erlaß einer Entscheidung oder einer neuen Entscheidung zweckmäßig sei (Urteil Parker Pen/Kommission, Randnr. 65), so daß sie die Parteien über eine beabsichtigte Verfahrensentscheidung nicht anzuhören brauche. Im übrigen gebe es keine eigenständige Entscheidung der Kommission, ein anderes als das gesetzlich vorgesehene Verfahren zu wählen.
[242] 238. Schließlich sei die angebliche Weiterentwicklung der Rechtsprechung zum Begriff der abgestimmten Verhaltensweise und zur Frage der Akteneinsicht nicht erheblich, da es keinen Bezug zu den den Referenzzeitraum betreffenden Beschwerdepunkten gebe. Diese angebliche Weiterentwicklung der Rechtsprechung habe somit nicht zu einer Änderung der den Klägerinnen zur Last gelegten Beschwerdepunkte geführt. Wenn diese Entwicklung von den Klägerinnen geltend gemacht werden könne, um die Nichtigerklärung des vorherigen Verwaltungsverfahrens zu erreichen, könne sie jedenfalls nicht dazu führen, daß die Entscheidung deshalb für nichtig erklärt werde, weil das Verfahren nicht wiedereröffnet worden sei.
[243] 239. Im übrigen seien die Verfahrensfragen, die in der Rechtsprechung weiterentwickelt worden seien, normalerweise nicht Teil der Mitteilung der Beschwerdepunkte und seien von der Kommission in ihrer Entscheidung nicht geprüft worden (Urteile vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, und Michelin/Kommission). Die Gesichtspunkte zur Akteneinsicht, die in der Entscheidung genannt würden, gehörten nicht zu der den verfügenden Teil tragenden wesentlichen Begründung.
[244] 240. In der Rechtssache Elf Atochem liege das Argument der Klägerin, daß sie zur Anwendung der Grundsätze ne bis in idem und der Verhältnismäßigkeit hätte gehört werden müssen, neben der Sache, da es im vorliegenden Fall um keinen dieser Grundsätze gehe. Zudem sei das Argument, das diese Klägerin aus der Entwicklung des PVC-Marktes zwischen 1988 und 1994 herleite, unerheblich, da diese Entwicklung, selbst wenn man sie als gegeben unterstellte, auf die Beurteilung der Ereignisse zwischen 1980 und 1984 keinen Einfluß habe. In demselben Sinne verweist die Kommission in der Rechtssache T-313/94 darauf, daß die Entscheidung keinen Anhaltspunkt dafür enthalte, daß Vorgänge aus den Jahren 1988—1994 zur Stützung des Artikels 2 des verfügenden Teils herangezogen worden wären.
[245] 241. In den Rechtssachen BASF, Wacker und Hoechst erwidert die Kommission auf den die Länge des Zeitraums zwischen Anhörung und Entscheidung betreffenden Klagegrund, daß das Verwaltungsverfahren in Wettbewerbssachen kein Strafverfahren sei und der Grundsatz der Mündlichkeit ihm fremd sei. Aus diesem Grunde sei nichts dagegen einzuwenden, daß die Mitglieder der Kommission der Anhörung nicht persönlich beiwohnten und sich über deren Ergebnisse durch Personen unterrichten ließen, die die Kommission gemäß Artikel 9 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63 hierzu beauftragt habe (Urteil vom 15. Juli 1970, Boehringer/Kommission, Randnr. 23). Im übrigen sorge der Anhörungsbeauftragte dafür, daß über die Anhörung eine Niederschrift angefertigt und von dem betroffenen Unternehmen durchgelesen und genehmigt werde.
[246] 242. Schließlich begründe der bloße Zeitablauf zwischen der Zuwiderhandlung und der zweiten Entscheidung, zwischen der Entscheidung 1988 und der zweiten Entscheidung sowie zwischen der Anhörung und der zweiten Entscheidung kein Recht auf Anhörung, da die Verfolgungsverjährung nach dem Willen des Gesetzgebers der Gemeinschaft während des Gerichtsverfahrens ruhe (Artikel 3 der Verordnung Nr. 2988/74). Shell, die die Dauer zwischen der Zuwiderhandlung und der zweiten Entscheidung rüge, habe insoweit keinen Schaden erlitten.
[247] 243. Im übrigen sei die Entscheidung nicht überraschend ergangen. Die Kommission habe nämlich ihre Absichten am Tag der Verkündung des Urteils des Gerichtshofes durch ein Pressekommuniqué bekanntgegegben.
[248] 244. Schließlich habe die Kommission nicht gegen Bestimmungen des EWR-Abkommens verstoßen; dieses sei nämlich in zeitlicher Hinsicht nicht anwendbar, da die der Entscheidung zugrunde liegenden Ereignisse vor dem Inkrafttreten dieses Abkommens am 1. Januar 1994 stattgefunden hätten.
[249] 245. In den Rechtssachen BASF, Wacker und Hüls trägt die Kommission vor, daß es ein Gutachten ihres Juristischen Dienstes zu der Frage, ob eine neue Entscheidung gegenüber den PVC-Herstellern auf der Grundlage des vor Erlaß der Entscheidung 1988 durchgeführten Verwaltungsverfahrens möglich sei, nicht existiere. Selbst wenn es ein solches gäbe, wäre es jedenfalls ein rein internes Schriftstück und Dritten nicht zugänglich (Urteil Hüls/Kommission, Randnr. 86).
Würdigung durch das Gericht
[250] 246. Die Wahrung der Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen, namentlich zu Geldbußen oder zu Zwangsgeldern führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der auch in einem Verwaltungsverfahren beachtet werden muß (Urteil Hoffmann-La Roche/Kommission, Randnr. 9).
[251] 247. In Durchführung dieses Grundsatzes verpflichten Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 und Artikel 4 der Verordnung Nr. 99/63 die Kommission, in ihrer Endentscheidung nur die Beschwerdepunkte in Betracht zu ziehen, zu denen die beteiligten Unternehmen und Unternehmensvereinigungen sich äußern konnten.
[252] 248. Das Recht der betroffenen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen, sich im schriftlichen und im mündlichen Teil des Verwaltungsverfahrens zu den von der Kommission in Betracht gezogenen Beschwerdepunkten zu äußern, ist ein wesentlicher Bestandteil der Verteidigungsrechte (Urteil Hoechst/Kommission, Randnr. 52). Die Anhörung ist nämlich erforderlich, damit "die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen nach Abschluß der Untersuchungen das Recht haben, sich zu allen Beschwerdepunkten zu äußern, die die Kommission in ihren Entscheidungen in Betracht ziehen will" (dritte Begründungserwägung der Verordnung Nr. 99/63).
[253] 249. Die Wahrung der Verteidigungsrechte verlangt daher, daß den betroffenen Unternehmen oder Unternehmensvereinigungen die Möglichkeit eingeräumt wird, sich zu den Beschwerdepunkten zu äußern, die die Kommission gegenüber den einzelnen Betroffenen in ihrer endgültigen Entscheidung, mit der sie einen Verstoß gegen die Wettbewerbsregeln feststellt, in Betracht ziehen will.
[254] 250. Im vorliegenden Fall ist bereits festgestellt worden, daß die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 nicht die Gültigkeit der Maßnahmen berührt, die zur Vorbereitung dieser Entscheidung vor dem Abschnitt getroffen worden sind, in dem dieser Fehler aufgetreten ist (vorstehend, Randnr. 189). Die Gültigkeit der jeder Klägerin Anfang April 1988 zugestellten Mitteilung der Beschwerdepunkte ist daher durch das Urteil vom 15. Juni 1994 nicht in Frage gestellt worden. Ebenso ist aus den gleichen Gründen die Gültigkeit des mündlichen Teils des Verwaltungsverfahrens, der im September 1988 vor der Kommission stattgefunden hat, nicht beeinträchtigt.
[255] 251. Daher war eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen vor Erlaß der zweiten Entscheidung nur erforderlich, soweit diese gegenüber der vom Gerichtshof für nichtig erklärten ursprünglichen Entscheidung neue Beschwerdepunkte enthielt.
[256] 252. Die Klägerinnen bestreiten nicht, daß die zweite Entscheidung gegenüber der von 1988 keinen neuen Beschwerdepunkt enthält. Somit war es richtig, daß die Kommission die Entscheidung erließ, ohne eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen durchzuführen. Daß die Entscheidung unter anderen tatsächlichen und rechtlichen Umständen erging, als sie bei Erlaß der ursprünglichen Entscheidung herrschten, bedeutet keineswegs, daß die Entscheidung neue Beschwerdepunkte enthielt.
[257] 253. Da die Kommission nicht verpflichtet war, die betroffenen Unternehmen erneut anzuhören, hat sie nicht gegen ihren Beschluß vom 23. November 1990 über die Durchführung von Anhörungen in Verfahren zur Anwendung der Artikel 85 und 86 EWG-Vertrag sowie der Artikel 65 und 66 EGKS-Vertrag verstoßen. Dieser Beschluß galt nämlich nicht während des dem Erlaß der Entscheidung vorangegangenen mündlichen Teils des Verwaltungsverfahrens.
[258] 254. Was den Beratenden Ausschuß betrifft, dessen Zuständigkeit, Zusammensetzung und Anhörung in Artikel 10 Absätze 3 bis 6 der Verordnung Nr. 17 geregelt sind, so hat dieser seine Stellungnahme zum Entscheidungsvorschlag der Kommission am 1. Dezember 1988 abgegeben.
[259] 255. Der Auffassung der Klägerinnen, daß die Kommission den Beratenden Ausschuß aufgrund der Umstände des vorliegenden Falles vor Erlaß der zweiten Entscheidung erneut hätte anhören müssen, kann nicht gefolgt werden.
[260] 256. Artikel 1 der Verordnung Nr. 99/63 lautet nämlich: "Bevor die Kommission den Beratenden Ausschuß für Kartell- und Monopolfragen anhört, nimmt sie eine Anhörung nach Artikel 19 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 vor." Diese Vorschrift bestätigt, daß die Anhörung der beteiligten Unternehmen und die des Ausschusses in denselben Fällen erforderlich sind (Urteil Hoechst/Kommission, Randnr. 54).
[261] 257. Wie das Gericht bereits festgestellt hat (vorstehend, Randnr. 252), war im vorliegenden Fall eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen vor Erlaß der zweiten Entscheidung nicht erforderlich. Da diese Entscheidung gegenüber der Entscheidung 1988, die auf einen Entscheidungsvorschlag zurückging, zu dem der Ausschuß gemäß Artikel 10 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 gehört worden war, nur redaktionelle Änderungen enthielt, die an den Beschwerdepunkten nichts änderten, war eine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses nicht notwendig.
[262] 258. Die Entscheidung erwähnt in ihrer Einleitung ausdrücklich die Anhörung des Beratenden Ausschusses. Die Rüge von SAV und ICI, die Entscheidung sei insoweit unzureichend begründet, ist daher zurückzuweisen.
[263] 259. Zu der Rüge eines Verstoßes gegen die Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit der EFTA-Überwachungsbehörde genügt die Feststellung, daß eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen und eine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses vor Erlaß der zweiten Entscheidung nicht erforderlich waren und daß die einschlägigen Bestimmungen des EFTA-Abkommens und der Protokolle 21 und 23 auf das laufende Verwaltungsverfahren nicht anwendbar waren. Diese Bestimmungen sind nämlich am 1. Januar 1994 in Kraft getreten, als die Verfahrensabschnitte, die eine Zusammenarbeit zwischen der Kommission und der EFTA-Überwachungsbehörde vorschreiben, nämlich die Anhörung der Unternehmen und die Anhörung des Beratenden Ausschusses, bereits beendet waren.
[264] 260. Die Klägerinnen berufen sich auch auf die Rechtsprechung, nach der die Beachtung der Verteidigungsrechte in allen Verfahren, die zu einer die Betroffenen beschwerenden Maßnahme führen können, ein fundamentaler Grundsatz des Gemeinschaftsrechts ist und auch dann sichergestellt werden muß, wenn eine besondere Regelung fehlt (namentlich Urteil Niederlande u. a./Kommission, Randnr. 44).
[265] 261. Aus dieser Rechtsprechung läßt sich jedoch nicht herleiten, daß die Kommission die Klägerinnen vor Erlaß der sie beschwerenden Maßnahme hätte erneut anhören müssen.
[266] 262. Das Verwaltungsverfahren zur Feststellung eines Verstoßes gegen Artikel 85 EG-Vertrag richtet sich nach den Verordnungen Nrn. 17 und 99/63. Diese Sonderregelung enthält Bestimmungen (vorstehend, Randnr. 247), die den Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte ausdrücklich und wirksam gewährleisten.
[267] 263. Unabhängig davon gebietet nach dieser Rechtsprechung der Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte, daß dem Adressaten der Entscheidung vor Erlaß der ihn beschwerenden endgültigen Entscheidung eine genaue und vollständige Darstellung der Beschwerdepunkte, die die Kommission gegen ihn in Betracht ziehen will, mitgeteilt wird.
[268] 264. Somit läßt sich entgegen der Auffassung der Klägerinnen aus dieser Rechtsprechung nicht herleiten, daß der Kommission, wenn sie gegen mehrere Unternehmen ein Verfahren zur Feststellung eines Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft einleitet, zur Wahrung der Verteidigungsrechte zu mehr verpflichtet ist, als diesen Unternehmen im Laufe dieses Verfahrens Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der behaupteten Tatsachen und Umstände sowie zu den von der Kommission für ihre Behauptung einer Verletzung des Gemeinschaftsrechts herangezogenen Unterlagen gebührend Stellung zu nehmen.
[269] 265. Auch das Urteil Transocean Marine Paint/Kommission, das die Klägerinnen für die angebliche Notwendigkeit einer erneuten Anhörung angeführt haben, ist im vorliegenden Fall nicht einschlägig, da es einen besonderen Fall betrifft, nämlich die Wahrung der Verteidigungsrechte eines Unternehmens, wenn die Kommission eine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag von bestimmten Auflagen abhängig machen will.
[270] 266. Somit war die Kommission nicht verpflichtet, vor Erlaß der zweiten Entscheidung die betroffenen Unternehmen zu dem von ihr beabsichtigten Erlaß einer neuen beschwerenden Maßnahme, zu ihrer Verfahrensentscheidung, zu verschiedenen Ausführungen, die bestimmte tatsächliche und rechtliche Gesichtspunkte betrafen, oder zu den Abweichungen zwischen dem Text der zweiten Entscheidung und dem der für nichtig erklärten ursprünglichen Entscheidung zu hören. Es ist hervorzuheben, daß nicht behauptet worden ist, daß diese Punkte neue Beschwerdepunkte darstellten.
[271] 267. Daran, daß die Kommission zu einer erneuten Anhörung der betroffenen Unternehmen nicht verpflichtet war, ändert auch der Umstand nichts, daß zwischen dem mündlichen Teil des Verwaltungsverfahrens und dem Erlaß der zweiten Entscheidung sechs Jahre vergangen sind. Diese Unternehmen hatten nämlich Gelegenheit, im September 1988 mündlich zu den Beschwerdepunkten Stellung zu nehmen, die sich seither nicht geändert haben und in der zweiten Entscheidung gegen sie verwandt worden sind.
[272] 268. Selbst wenn der Juristische Dienst der Kommission ein Gutachten zu der Frage erstellt hätte, ob gegen die PVC-Hersteller eine neue Entscheidung auf der Grundlage des der Entscheidung 1988 vorangegangenen Verwaltungsverfahrens ergehen könnte, ist zur Wahrung der Verteidigungsrechte nicht erforderlich, daß die an einem Verfahren nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag beteiligten Unternehmen zu einem solchen Gutachten Stellung nehmen können, das ein rein kommissionsinternes Dokument darstellt. Die Kommission ist nicht verpflichtet, dem Gutachten ihres Juristischen Dienstes zu folgen, so daß dieses kein entscheidender Faktor ist, den der Gemeinschaftsrichter bei seiner Prüfung zu berücksichtigen hätte (vgl. in diesem Sinne Urteil Hüls/Kommission, Randnr. 86).
[273] 269. Zurückzuweisen ist auch das Argument von LVM und DSM (vorstehend, Randnr. 140), daß die Entscheidung deshalb rechtswidrig sei, weil sie ohne eine vorherige Untersuchung ein zur Erreichung des angestrebten Zieles des Wettbewerbsschutzes unverhältnismäßiges Mittel darstelle. Dazu genügt die Feststellung, daß die Kommission nicht verpflichtet war, die betroffenen Unternehmen vor Erlaß der zweiten Entscheidung erneut anzuhören. Die von den Klägerinnen vertretene Auffassung, es bestehe ein Mißverhältnis, beruht somit auf einer falschen Prämisse.
[274] 270. Nach alledem sind sämtliche Rügen der Klägerinnen zurückzuweisen.
B – Unregelmäßigkeiten bei Erlaß und Feststellung der Entscheidung
[275] 271. Einige Klägerinnen machen geltend, daß bei Erlaß und Feststellung der Entscheidung der Kommission Unregelmäßigkeiten vorgekommen seien.
[276] 272. Wacker und Hoechst haben in der Sitzung den Klagegrund der mangelhaften Feststellung der Entscheidung fallengelassen, was der Kanzler zu Protokoll genommen hat. Die Rücknahme dieses Klagegrundes umfaßt auch den Klagegrund der mangelnden Übereinstimmung zwischen den Wacker und Hoechst zugestellten Abschriften der Entscheidung und dem Original, da dieser zweite Klagegrund eng mit dem ersten zusammenhängt.
[277] 273. Das Vorbringen der Klägerinnen gliedert sich in mehrere Klagegründe.
1. Zu den Klagegründen, die die Rechtswidrigkeit der Geschäftsordnung der Kommission vom 17. Februar 1993 betreffen
Vorbringen der Parteien
[278] 274. LVM und DSM verweisen darauf, daß die Entscheidung aufgrund der Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission vom 17. Februar 1993 (ABl. L 230, S. 16; nachstehend: Geschäftsordnung) ergangen sei. Nach Artikel 16 dieser Geschäftsordnung würden die gefaßten Beschlüsse dem Protokoll der Sitzung beigefügt, in der sie angenommen worden seien, und durch die Unterschriften des Präsidenten und des Generalsekretärs auf der ersten Seite dieses Protokolls festgestellt.
[279] 275. Nach Ansicht von LVM und DSM kann eine Partei sich auf die Verletzung einer solchen Geschäftsordnung als einer wesentlichen Formvorschrift berufen (Urteil vom 27. Februar 1992, BASF u. a./Kommission, Randnr. 75). Im vorliegenden Fall stehe die Regelung über die Feststellung nicht im Einklang mit den Grundsätzen, die in den Urteilen vom 27. Februar 1992 (BASF u. a./Kommission, Randnrn. 75 und 78) und vom 15. Juni 1994 (Randnrn. 75, 76 und 78) aufgestellt worden seien und nach denen die Verpflichtung zur Feststellung durch die Unterschrift des Präsidenten und des Generalsekretärs der Kommission auf dem Rechtsakt selbst ein grundlegendes Erfordernis des Gemeinschaftsrechts zum Ausdruck bringe, das auf Erwägungen der Rechtssicherheit beruhe. Infolgedessen gebe es keinen verbindlichen, ordnungsgemäß festgestellten Rechtsakt in niederländischer Sprache.
[280] 276. Enichem macht geltend, daß die Kommission mit Erlaß der Entscheidung entweder gegen die im Urteil vom 15. Juni 1994 aufgeführten Grundsätze oder gegen ihre Geschäftsordnung verstoßen habe. Die Artikel 2 und 16 dieser Geschäftsordnung über die Ermächtigung zum Erlaß von Beschlüssen bzw. die Feststellung der nach diesem Verfahren gefaßten Beschlüsse seien nicht mit dem Kollegialprinzip vereinbar.
[281] 277. Die Art und Weise der Feststellung der Beschlüsse nach Artikel 16 der Geschäftsordnung gewährleiste nicht die vom Gerichtshof geforderte Rechtssicherheit, da das Protokoll und nicht die beschlossene Maßnahme festgestellt werde.
[282] 278. Die Kommission entgegnet auf die Klagegründe von LVM und DSM, daß die gegen die Geschäftsordnung erhobene Einrede der Rechtswidrigkeit unzulässig sei. Die Geschäftsordnung eines Organs sei nämlich kein Rechtsakt mit allgemeiner Geltung, der in allen seinen Teilen verbindlich und in allen Mitgliedstaaten für die Zwecke des Artikels 184 EG-Vertrag unmittelbar anwendbar sei. Jedenfalls verwechselten LVM und DSM das Kollegialprinzip nach Artikel 163 EG-Vertrag und die Feststellung der Beschlüsse. Die Behauptung sei falsch, daß Artikel 12 der Geschäftsordnung in der bei Erlaß der Entscheidung 1988 geltenden Fassung der einzige Weg zur Einhaltung des Kollegialprinzips sei (Urteil vom 15. Juni 1994, Randnrn. 72 bis 77).
[283] 279. Enichem habe weder nachgewiesen, inwiefern die Geschäftsordnung nicht im Einklang mit dem Urteil des Gerichtshofes stehe, noch dargetan, inwiefern der Mangel an Übereinstimmung Aspekte des Erlasses der Entscheidung betreffe (Urteil des Gerichts vom 27. Oktober 1994 in der Rechtssache T-35/92, Deere/Kommission, Slg. 1994, II-957).
Würdigung durch das Gericht
[284] 280. Das Vorbringen der Klägerinnen ist dahin zu verstehen, daß sie die Rechtswidrigkeit einiger Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission geltend machen, die zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung galten. Die Klägerinnen stellen nämlich inzidenter gemäß Artikel 184 EG-Vertrag die Gültigkeit einiger Bestimmungen der Geschäftsordnung in Frage, indem sie sich auf einen der Klagegründe im Rahmen der in Artikel 173 EG-Vertrag genannten Rechtmäßigkeitskontrolle berufen, nämlich die Verletzung des Vertrages oder einer bei seiner Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm.
[285] 281. Die Einrede der Rechtswidrigkeit von Bestimmungen der Geschäftsordnung besteht aus zwei Teilen. Erstens machen LVM, DSM und Enichem geltend, Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung über die Art und Weise der Feststellung der gefaßten Beschlüsse laufe dem Grundsatz der Rechtssicherheit zuwider, wie ihn der Gerichtshof im Urteil vom 15. Juni 1994 erläutert habe. Zweitens macht Enichem geltend, daß Artikel 2 Buchstabe c und 16 Absatz 2 der Geschäftsordnung über das Ermächtigungsverfahren dem Kollegialprinzip zuwiderliefen.
- Zur Zulässigkeit der Einrede der Rechtswidrigkeit
[286] 282. Das Gericht hält es für erforderlich, von Amts wegen die Zulässigkeit der Einrede der Rechtswidrigkeit insgesamt zu prüfen, ohne sich nur auf die Entgegnung der Kommission zu beschränken.
[287] 283. Artikel 184 EG-Vertrag lautet: "Ungeachtet des Ablaufs der in Artikel 173 Absatz 5 genannten Frist kann jede Partei in einem Rechtsstreit, bei dem es auf die Geltung einer vom Europäischen Parlament und vom Rat gemeinsam erlassenen Verordnung oder einer Verordnung des Rates, der Kommission oder der [Europäischen Zentralbank] ankommt, vor dem Gerichtshof die Unanwendbarkeit dieser Verordnung aus den in Artikel 173 Absatz 2 genannten Gründen geltend machen."
[288] 284. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes (Urteil Simmenthal/Kommission, Randnrn. 39 bis 41) ist Artikel 184 EG-Vertrag der Ausdruck eines allgemeinen Grundsatzes, der jeder Partei das Recht gewährleistet, zum Zweck der Nichtigerklärung einer sie unmittelbar und individuell betreffenden Entscheidung die Gültigkeit derjenigen früheren Rechtshandlungen der Gemeinschaftsorgane zu bestreiten, die die Rechtsgrundlage für die angegriffene Entscheidung bilden, falls die Partei nicht das Recht hatte, gemäß Artikel 173 EG-Vertrag unmittelbar gegen diese Rechtshandlungen zu klagen, deren Folgen sie nunmehr erleidet, ohne daß sie ihre Nichtigerklärung hätte beantragen können.
[289] 285. Artikel 184 EG-Vertrag ist daher weit auszulegen, damit eine wirksame Rechtmäßigkeitskontrolle der Handlungen der Organe gewährleistet ist. In diesem Sinn hat der Gerichtshof im Urteil Simmenthal/Kommission (Randnr. 40) bereits festgestellt, daß das Anwendungsgebiet dieses Artikels sich auf diejenigen Handlungen der Gemeinschaftsorgane erstrecken muß, die, obwohl nicht in Form einer Verordnung ergangen, gleichartige Wirkungen wie eine solche entfalten.
[290] 286. Artikel 184 EG-Vertrag ist auch auf die Bestimmungen einer Geschäftsordnung eines Organs anzuwenden, die zwar nicht die Rechtsgrundlage der angefochtenen Entscheidung bilden und keine gleichartigen Wirkungen wie die Bestimmungen einer Verordnung im Sinne dieses Artikels entfalten, aber die wesentlichen Formvorschriften festlegen, deren Beachtung für den Erlaß dieser Entscheidung erforderlich ist und die deshalb die Rechtssicherheit für die Adressaten dieser Entscheidung gewährleisten. Jeder Adressat einer Entscheidung kann nämlich inzidenter die Rechtswidrigkeit des Rechtsakts geltend machen, von dem die formelle Gültigkeit dieser Entscheidung abhängt, auch wenn der betreffende Rechtsakt nicht die Rechtsgrundlage der Entscheidung ist, sofern der Betroffene nicht die Möglichkeit hatte, die Nichtigerklärung dieses Rechtsakts vor der Mitteilung der streitigen Entscheidung zu beantragen.
[291] 287. Infolgedessen kann gegenüber den Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission die Einrede der Rechtswidrigkeit erhoben werden, sofern diese dem Schutz des einzelnen dienen.
[292] 288. Die Einrede der Rechtswidrigkeit ist auf das zu beschränken, was für die Entscheidung des Rechtsstreits unerläßlich ist.
[293] 289. Artikel 184 hat nämlich nicht den Zweck, einer Partei zu gestatten, die Unanwendbarkeit eines Rechtsakts allgemeinen Charakters mit jeder beliebigen Klage geltend zu machen. Der allgemeine Rechtsakt, dessen Rechtswidrigkeit geltend gemacht wird, muß unmittelbar oder mittelbar auf den streitgegenständlichen Fall anwendbar sein, und es muß ein unmittelbarer rechtlicher Zusammenhang zwischen der angegriffenen Entscheidung und dem betreffenden allgemeinen Rechtsakt bestehen. (Urteile des Gerichtshofes vom 31. März 1965 in der Rechtssache 21/64, Macchiorlati Dalmas e Figli/Hohe Behörde, Slg. 1965, 241, 259, vom 13. Juli 1966 in der Rechtssache 32/65, Italien/Rat und Kommission, Slg. 1966, 457, 487, und Urteil des Gerichts vom 26. Oktober 1993 in den Rechtssachen T-6/92 und T-52/92, Reinarz/Kommission, Slg. 1993, II-1047, Randnr. 57).
[294] 290. Im vorliegenden Fall zielt der zweite Teil der Einrede der Rechtswidrigkeit auf die Feststellung, daß die Bestimmungen der Geschäftsordnung der Kommission über die Ermächtigung gegen das Kollegialprinzip verstießen. Enichem behauptet aber nicht einmal, daß die Entscheidung im Rahmen einer übertragenen Zuständigkeit erlassen worden sei, und trägt auch nichts vor, was dies nahelegen könnte. Da Enichem einen unmittelbaren rechtlichen Zusammenhang zwischen der Entscheidung und den Bestimmungen der Geschäftsordnung, deren Rechtswidrigkeit sie geltend macht, nicht dargetan hat, ist der zweite Teil der Einrede der Rechtswidrigkeit als unzulässig zurückzuweisen.
[295] 291. Zum ersten Teil der Einrede der Rechtswidrigkeit ist festzustellen, daß die Entscheidung nach Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung festgestellt worden ist. Somit besteht ein unmittelbarer rechtlicher Zusammenhang zwischen der Entscheidung und diesem Artikel der Geschäftsordnung, dessen Rechtswidrigkeit die Klägerinnen geltend machen.
[296] 292. Artikel 16 der Geschäftsordnung regelt die Art und Weise der Feststellung des Rechtsakts, der die Klägerinnen beschwert. Die Feststellung der Rechtsakte in der in der Geschäftsordnung der Kommission vorgesehenen Art und Weise soll die Rechtssicherheit gewährleisten, indem sie den vom Kollegium angenommenen Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen feststellt (Urteil vom 15. Juni 1994, Randnr. 75). Diese Bestimmung soll somit dem Schutz der Adressaten des Rechtsakts dienen und kann daher mit einer Einrede der Rechtswidrigkeit angegriffen werden.
[297] 293. Daraus folgt, daß der erste Teil der Einrede der Rechtswidrigkeit, die LVM, DSM und Enichem gegen Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung erhoben haben, zulässig ist. Daher ist die Begründetheit dieser Einrede hinsichtlich des angeblichen Verstoßes gegen das Erfordernis der Rechtssicherheit zu prüfen.
- Rechtswidrigkeit des Artikels 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung wegen Verstoßes gegen das Erfordernis der Rechtssicherheit
[298] 294. Nach Ansicht der Klägerinnen ist die Entscheidung rechtswidrig, da die in Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung vorgesehene Art und Weise der Feststellung von Rechtsakten mit dem vom Gerichtshof im Urteil vom 15. Juni 1994 angeführten Erfordernis der Rechtssicherheit unvereinbar sei.
[299] 295. Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung lautet in der bei Erlaß der Entscheidung geltenden Fassung: "Die von der Kommission in einer Sitzung oder im schriftlichen Verfahren gefaßten Beschlüsse werden in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, dem Protokoll der Kommissionssitzung beigefügt, in der diese Beschlüsse angenommen wurden oder in der ihre Annahme vermerkt wurde. Diese Beschlüsse werden durch die Unterschriften des Präsidenten und des Generalsekretärs auf der ersten Seite dieses Protokolls festgestellt."
[300] 296. Der Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 festgestellt, daß die Kommission nach Artikel 162 Absatz 2 EG-Vertrag u. a. verpflichtet ist, geeignete Maßnahmen zu treffen, damit der vollständige Wortlaut der vom Kollegium angenommenen Rechtsakte eindeutig bestimmt werden kann (Randnrn. 72 und 73).
[301] 297. Nach den Ausführungen des Gerichtshofes soll die Feststellung der Rechtsakte gemäß Artikel 12 Absatz 1 der zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 1988 geltenden Geschäftsordnung, wonach die "von der Kommission in einer Sitzung oder im schriftlichen Verfahren gefaßten formellen Beschlüsse … in der Sprache oder in den Sprachen, in denen sie verbindlich sind, durch die Unterschriften des Präsidenten und des Exekutivsekretärs festgestellt [werden]", die Rechtssicherheit gewährleisten, indem der vom Kollegium angenommene Wortlaut in allen verbindlichen Sprachen festgestellt wird. Weiter hat der Gerichtshof ausgeführt: "Damit ermöglicht [die Feststellung] es, im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem [vom Kollegium] angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle zu prüfen" (Randnr. 75).
[302] 298. Unter Berücksichtigung dieser Begründung des Urteils vom 15. Juni 1994 ist zu prüfen, ob die in Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung vorgesehenen Modalitäten (vorstehend, Randnr. 295) geeignet sind, den vollständigen Wortlaut der vom Kollegium angenommenen Rechtsakte eindeutig zu bestimmen.
[303] 299. Entgegen der Ansicht der Klägerinnen hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 15. Juni 1994 nicht zu der Frage Stellung genommen, ob die Feststellung gemäß Artikel 12 Absatz 1 der zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung 1988 geltenden Geschäftsordnung die im Hinblick auf das Erfordernis der Rechtssicherheit einzig zulässige Art der Feststellung ist. Der Gerichtshof hat zwar ausgeführt, wozu die Feststellung der Rechtsakte dient (Randnr. 75), hat aber nicht gesagt, daß sich dies nur in der Art und Weise erreichen läßt, die in Artikel 12 Absatz 1 der seinerzeit geltenden Geschäftsordnung für die Feststellung vorgeschrieben war.
[304] 300. Im übrigen war zwischen den Parteien vor dem Gerichtshof unstreitig, daß die Kommission gegen die Regelung über die Feststellung verstoßen hatte, wie sie in der Geschäftsordnung der Kommission vorgesehen war, so daß der Gerichtshof die ursprüngliche Entscheidung wegen Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften für rechtswidrig erklären konnte, ohne sich zur Rechtmäßigkeit der Feststellung, wie sie in Artikel 12 Absatz 1 der früheren Geschäftsordnung geregelt war, äußern zu müssen.
[305] 301. Schließlich genügt die Unterschrift auf dem Protokoll nach Ansicht der Klägerinnen nicht dem Erfordernis der Rechtssicherheit, da es keinen Rechtsakt gebe, der die Unterschrift des Präsidenten und des Generalsekretärs trage, und sich deshalb die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommenen Text nicht überprüfen lasse. Die Klägerinnen meinen daher, daß nur die erste Seite des Protokolls festgestellt sei.
[306] 302. Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden. Die Modalitäten der Feststellung gemäß Artikel 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung bieten als solche eine hinreichende Garantie dafür, daß im Streitfall die vollkommene Übereinstimmung der zugestellten oder veröffentlichten Texte mit dem vom Kollegium angenommenen Text und damit zugleich mit dem Willen der sie erlassenden Stelle geprüft werden kann. Da dieser Text dem Protokoll beigefügt ist und die erste Seite dieses Protokolls vom Präsidenten und vom Generalsekretär unterschrieben ist, besteht eine Verbindung zwischen diesem Protokoll und den Schriftstücken, auf die es sich bezieht, die es erlaubt, sich über den genauen Inhalt und die genaue Form der Entscheidung des Kollegiums zu vergewissern.
[307] 303. Dabei spricht eine Vermutung dafür, daß eine Behörde gemäß den geltenden Rechtsvorschriften gehandelt hat, solange die Rechtswidrigkeit ihres Handelns nicht vom Gemeinschaftsrichter festgestellt worden ist.
[308] 304. Infolgedessen ist die Feststellung nach den Modalitäten des Artikels 16 Absatz 1 der Geschäftsordnung als rechtmäßig anzusehen. Der Klagegrund ist daher zurückzuweisen.
2. Zu den Klagegründen eines Verstoßes gegen das Kollegialprinzip und gegen die Geschäftsordnung der Kommission
Vorbringen der Parteien
[309] 305. LVM und DSM machen geltend, die Kommission habe bei Erlaß der Entscheidung gegen ihre Geschäftsordnung verstoßen. In ihren Erwiderungen weisen sie darauf hin, daß die ihnen zugestellte "beglaubigte Abschrift" der Entscheidung von dem für Wettbewerbsfragen zuständigen Kommissionsmitglied unterzeichnet sei, was dafür spreche, daß die Entscheidung nicht vom Kollegium der Kommissionsmitglieder, sondern unter Verstoß gegen das Kollegialprinzip nur von dem betreffenden Mitglied erlassen worden sei. Dies allein genüge, um die Vermutung der Gültigkeit der Entscheidung in Frage zu stellen (Urteile vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-37/91, ICI/Kommission, und T-31/91, Solvay/Kommission, Slg. 1995, II-1821). LVM und DSM beantragen, der Kommission aufzugeben, hierzu ergänzende Informationen vorzulegen.
[310] 306. Elf Atochem weist darauf hin, daß die Entscheidung kaum einen Monat nach dem Urteil des Gerichtshofes ergangen sei; nach den Erklärungen eines Sprechers der Kommission vor der Presse sei diese Entscheidung im Kollegium ohne weitere Erörterung ergangen. Diese Umstände seien geeignet, die Gültigkeit der Entscheidung wegen Verstoßes gegen das Kollegialprinzip in Frage zu stellen.
[311] 307. Nach Ansicht der Kommission kann ein Verstoß gegen interne Vorschriften der Beschlußfassung nur geltend gemacht werden, wenn die Klägerin anhand konkreter Anhaltspunkte nachweisen könne, daß Grund für Zweifel an der Gültigkeit der Beschlußfassung bestehe. Mangels solcher Anhaltspunkte gelte der Rechtsakt der Kommission als rechtsgültig ergangen (Urteil Deere/Kommission, Randnr. 31). Im vorliegenden Fall hätten die Klägerinnen keinen konkreten Anhaltspunkt vorgetragen.
Würdigung durch das Gericht
[312] 308. Der Umstand, daß auf der Abschrift der Entscheidung, die an LVM und DSM gerichtet war, der Name des für Wettbewerbsfragen zuständigen Kommissionsmitglieds und die Angabe "beglaubigte Abschrift" (5voor gelijkluidend afschrift" auf Niederländisch) stehen, bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Entscheidung unter Verstoß gegen das Kollegialprinzip ergangen ist. Nach dem Wortlaut der Entscheidung handelt es sich um eine "Entscheidung der Kommission". Zudem ergibt sich aus dem Wortlaut, daß die "Kommission der Europäischen Gemeinschaften" die Entscheidung auf der Grundlage des Sachverhalts und der rechtlichen Würdigung erlassen hat.
[313] 309. Somit führen diese Klägerinnen weder einen Anhaltspunkt noch einen konkreten Umstand an, der die Vermutung der Gültigkeit von Gemeinschaftshandlungen widerlegen könnte (vgl. namentlich Urteil Dunlop Slazenger/Kommission, Randnr. 24).
[314] 310. Mangels eines solchen Anhaltspunktes kann das Gericht die beantragte Beweiserhebung nicht anordnen.
[315] 311. Die Tatsache, daß die Entscheidung kurze Zeit nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 ergangen ist und der – einmal als bewiesen unterstellte – Umstand, daß sie ohne Erörterung vom Kollegium der Kommissionsmitglieder angenommen worden ist, bedeuten in keiner Weise, daß das Kollegialprinzip verletzt worden ist.
[316] 312. Infolgedessen sind die Klagegründe zurückzuweisen.
3. Zu dem Klagegrund bezüglich des Inhalts der dem Kollegium der Kommissionsmitglieder zur Beratung vorgelegten Akte
[317] 313. ICI macht geltend, daß dem Kollegium der Kommissionsmitglieder infolge der Mängel des Verwaltungsverfahrens vor Erlaß der Entscheidung nicht alle für die Rechtssache erheblichen Schriftstücke vorgelegen hätten und daß es insbesondere nicht über einen neuen Bericht des Anhörungsbeauftragten und ein neues Protokoll über die Ergebnisse der Anhörung des Beratenden Ausschusses verfügt habe. Das Kollegium der Kommissionsmitglieder, dessen Zusammensetzung sich gegenüber 1988 erheblich geändert habe, sei daher über das Verteidigungsvorbringen von ICI nicht unterrichtet gewesen.
[318] 314. Nach Ansicht der Kommission entbehrt dieser Klagegrund jeder rechtlichen Grundlage.
[319] 315. Wie bereits dargelegt, hat die Kommission nach der Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof durch den Verzicht auf eine erneute Anhörung der betroffenen Unternehmen oder eine erneute Anhörung des Beratenden Ausschusses vor dem Erlaß der Entscheidung keinen Rechtsfehler begangen (vorstehend, Randnrn. 246 bis 258).
[320] 316. Da die Klägerin von einer falschem Prämisse ausgeht, ist der Klagegrund nicht begründet und daher zurückzuweisen.
4. Zu den Klagegründen, die den Verstoß gegen den Grundsatz der Identität von beratendem und beschlußfassendem Organ und den Grundsatz der Unmittelbarkeit betreffen
Vorbringen der Parteien
[321] 317. Nach Ansicht von Hüls kann gemäß dem Grundsatz der Identität von beratendem und beschlußfassendem Organ eine Entscheidung nur von Personen erlassen werden, die an dem Verfahren teilgenommen oder die Möglichkeit gehabt hätten, sich einen unmittelbaren Eindruck von der Sache zu verschaffen. Im vorliegenden Fall seien bei Erlaß der Entscheidung die meisten Mitglieder der Kommission, insbesondere das für Wettbewerbsfragen zuständige Kommissionsmitglied sowie der Generaldirektor der Generaldirektion Wettbewerb der Kommission (Generaldirektion IV) nicht dieselben Personen gewesen, die bei den Ermittlungen im Jahr 1988 im Amt gewesen seien.
[322] 318. In Wettbewerbssachen sei die Kommission nicht als Behörde als solche zu verstehen, d. h. nicht als eine von ihren Mitgliedern unabhängige Institution. In diesem Zusammenhang seien die Artikel 1 und 12 der Geschäftsordnung, wonach die Kommission als Kollegium handele, sowie Artikel 6 des Mandats des Anhörungsbeauftragten zu berücksichtigen.
[323] 319. BASF, Wacker und Hoechst machen geltend, daß die Kommission gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit verstoßen habe. Bei Erlaß der angefochtenen Entscheidung waren nach dem Vortrag von BASF die meisten Mitglieder der Kommission und der Generaldirektor der Generaldirektion IV nicht dieselben Personen, die 1988 im Amt gewesen seien. Infolgedessen sei die Entscheidung von Personen erlassen worden, die mit dem Sachverhalt nicht völlig vertraut gewesen seien und auch nicht die Zeit gehabt hätten, sich nach der Verkündung des Urteils vom 15. Juni 1994 damit vertraut zu machen. Mit diesem Klagegrund werde nicht verlangt, daß die Kommissionsmitglieder bei den Anhörungen persönlich anwesend seien, sondern daß sie über das, was dort gesagt werde, aufgrund der Anwendung der Verfahrensregeln, insbesondere der Anhörung des Anhörungsbeauftragten, genau informiert seien.
[324] 320. Nach Ansicht von Wacker und Hoechst müssen die Personen, die die Entscheidung ausarbeiteten, an den Anhörungen teilgenommen haben oder sich zumindest einen zeitlich nahen und durch unmittelbar beteiligte Dritte vermittelten Eindruck von der Anhörung verschafft haben. Dies sei hier nicht der Fall gewesen, da der überwiegende Teil der bei der Anhörung beteiligten Kommissionsmitglieder bei Erlaß der zweiten Entscheidung nicht mehr im Amt gewesen sei.
[325] 321. Nach Ansicht der Kommission gibt es die Grundsätze der Gleichheit und der Unmittelbarkeit nicht. Das Wettbewerbsverfahrensrecht der Gemeinschaft stelle auf Funktionsträger und nicht auf die jeweiligen Personen ab, die die betreffenden Funktionen ausübten (Urteil ACF Chemiefarma/Kommission, Randnrn. 71 und 72). Es gebe keine Bestimmung, daß die verschiedenen Abschnitte des Wettbewerbsverfahrens in ein und derselben Amtszeit der Mitglieder der Kommission durchzuführen seien.
Würdigung durch das Gericht
[326] 322. Die Klägerinnen machen die Verletzung eines allgemeinen Grundsatzes der Kontinuität der Zusammensetzung des Verwaltungsorgans geltend, das mit einer Sache befaßt ist, die zur Verhängung einer Geldbuße führen kann.
[327] 323. Ein solcher allgemeiner Grundsatz besteht nicht (Urteil ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 72).
[328] 324. Somit ist dieser Klagegrund als nicht begründet zurückzuweisen.
C – Mängel des Verwaltungsverfahrens
[329] 325. Die Klägerinnen machen hilfsweise mehrere Klagegründe geltend, mit denen sie Unregelmäßigkeiten in dem Verwaltungsverfahren vor dem Erlaß der Entscheidung rügen. Wacker und Hoechst haben in der Sitzung den Klagegrund, mit dem sie einen Verstoß gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 des Rates vom 15. April 1958 zur Regelung der Sprachenfrage für die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (ABl. 1958, Nr. 17, S. 385) gerügt haben, fallengelassen, was vom Kanzler zu Protokoll genommen worden ist.
[330] 326. Bei den Klagegründen läßt sich unterscheiden zwischen denen, die Mängel bei der Mitteilung der Beschwerdepunkte betreffen, und anderen, die Mängel bei der Anhörung betreffen. Der Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen das Recht auf Einsicht in die Akten der Kommission geltend gemacht wird, wird im Anschluß an den Teil des Urteils geprüft, der den materiell-rechtlichen Fragen gewidmet ist.
1. Zu den Klagegründen, die angebliche Mängel bei der Mitteilung der Beschwerdepunkte betreffen
a) Zu dem Klagegrund, mit dem Formfehler bei der Mitteilung der Beschwerdepunkte geltend gemacht werden
Vorbringen der Parteien
[331] 327. Nach Ansicht von Wacker und Hoechst beruht die Entscheidung auf einer nicht ordnungsgemäßen Mitteilung der Beschwerdepunkte. Erstens seien diese unter Verstoß gegen Artikel 2 der Verordnung Nr. 99/63 nur durch einen Bediensteten der Kommission übermittelt worden. Zweitens habe die Mitteilung der Beschwerdepunkte, die ein umfangreiches Dokument gewesen sei, das nicht habe erkennen lassen, ob es vollständig gewesen sei, gegen den genannten Artikel 2 verstoßen, nach dem die Kommission die Beschwerdepunkte schriftlich mitteile. Die Beschwerdepunkte hätten folglich in einer einheitlichen schriftlichen Urkunde mitgeteilt werden müssen. Drittens hätte die Mitteilung der Beschwerdepunkte von ihrem Verfasser unterzeichnet sein müssen.
[332] 328. Nach Ansicht der Kommission ist dieser Klagegrund offenkundig unhaltbar.
Würdigung durch das Gericht
[333] 329. Zu dem Vorwurf, daß ein Bediensteter der Kommission ermächtigt worden sei, die Beschwerdepunkte mitzuteilen, ist festzustellen, daß laut den Akten das Begleitschreiben zu der an die Klägerinnen gerichteten Mitteilung der Beschwerdepunkte vom Stellvertretenden Generaldirektor der Generaldirektion IV der Kommission im Namen des Generaldirektors dieser Generaldirektion unterzeichnet war.
[334] 330. Mit der Unterzeichnung dieses Schreiben hat der Stellvertretende Generaldirektor nicht aufgrund einer Übertragung von Befugnissen, sondern im Rahmen einer bloßen Übertragung der Zeichnungsberechtigung durch das zuständige Mitglied der Kommission an den Generaldirektor gehandelt (Urteil des Gerichtshofes vom 14. Juli 1972 in der Rechtssache 52/69, Geigy/Kommission, Slg. 1972, 787, Randnr. 5). Die Kommission übt ihre Befugnisse üblicherweise im Wege einer solchen Übertragung aus (Urteil VBVB und VBBB/Kommission, Randnr. 14).
[335] 331. Da die Klägerinnen nichts vorgetragen haben, was die Annahme rechtfertigen würde, daß das Verwaltungsorgan der Gemeinschaft im vorliegenden Fall von den einschlägigen Rechtsvorschriften abgewichen ist (Urteil VBVB und VBBB/Kommission, Randnr. 14), ist die Rüge zurückzuweisen.
[336] 332. Auch die Rügen, die einen angeblichen Verstoß gegen die Formvorschriften für die Mitteilung der Beschwerdepunkte betreffen, sind zurückzuweisen.
[337] 333. Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63 lautet: "Die Kommission teilt den Unternehmen und Unternehmensvereinigungen die in Betracht gezogenen Beschwerdepunkte schriftlich mit." Diese Bestimmung verlangt nicht, daß die Mitteilung der Beschwerdepunkte selbst eine eigenhändige Unterschrift trägt oder aus einer förmlichen einheitlichen Urkunde besteht.
[338] 334. Nach alledem ist der Klagegrund zurückzuweisen.
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 des Rates
Vorbringen der Parteien
[339] 335. BASF, Hüls und Enichem werfen der Kommission einen Verstoß gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 vor. Die Mitteilung der Beschwerdepunkte habe nämlich Anlagen enthalten, die zum richtigen Verständnis der Beschwerdepunkte unerläßlich, aber nicht in der Sprache des Mitgliedstaats abgefaßt gewesen seien, dessen Hoheitsgewalt die Klägerinnen unterständen. Dies gelte auch für die von der Kommission am 3. Mai 1988 übermittelten Schriftstücke. Nach Ansicht von Enichem hat die Kommission auch gegen Artikel 4 der Verordnung Nr. 99/63 verstoßen.
[340] 336. Die Kommission meint, daß die Argumentation der Klägerinnen im Widerspruch zum Wortlaut und zum Geist des Artikels 3 der Verordnung Nr. 1 stehe. Die Überfülle von Reaktionen seitens dieser Klägerinnen zeige im übrigen, daß sie tatsächlich keine besonderen Schwierigkeiten gehabt hätten, den gesamten Inhalt des Beweismaterials zu verstehen.
Würdigung durch das Gericht
[341] 337. Die Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die nicht von der Kommission stammen, sind nicht als "Schriftstücke" im Sinne des Artikels 3 der Verordnung Nr. 1 des Rates zu betrachten. Sie sind vielmehr als Beweisstücke anzusehen, auf die sich die Kommission stützt. Sie müssen deshalb dem Empfänger so, wie sie sind, zur Kenntnis gebracht werden (vgl. namentlich Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in der Rechtssache T-148/89, Tréfilunion/Kommission, Slg. 1995, II-1063, Randnr. 21). Die Kommission hat somit nicht gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 des Rates verstoßen.
[342] 338. Zu dem von Enichem erhobenen Vorwurf eines Verstoßes gegen Artikel 4 der Verordnung Nr. 99/63 ist festzustellen, daß die eigentliche Mitteilung der Beschwerdepunkte, die an diese Klägerin in italienischer Sprache gerichtet war, einschlägige Auszüge aus den Anlagen enthielt. Diese Art der Darstellung ließ somit genau erkennen, auf welchen Sachverhalt und auf welche rechtlichen Argumente sich die Kommission gestützt hatte (Urteil Tréfilunion/Kommission, Randnr. 21). Die Klägerin war infolgedessen imstande, sich angemessen zu verteidigen.
[343] 339. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
c) Zum Klagegrund einer unzureichenden Frist für die Vorbereitung der Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte
Vorbringen der Parteien
[344] 340. Wacker und Hoechst machen geltend, die Kommission habe ihnen keine Gelegenheit gegeben, von den Akten Kenntnis zu nehmen und anschließend ihren Standpunkt gebührend darzulegen (Urteil des Gerichtshofes vom 27. Oktober 1977 in der Rechtssache 121/76, Moli/Kommission, Slg. 1977, 1971, Randnr. 20). Mit ihrer Weigerung, die den Klägerinnen für eine Stellungnahme zur Mitteilung der Beschwerdepunkte eingeräumte Frist trotz der konkreten Umstände zu verlängern, habe die Kommission sowohl gegen die Rechte der Verteidigung als auch gegen Artikel 11 der Verordnung Nr. 99/63 verstoßen.
[345] 341. BASF rügt, nicht über genügend Zeit zur Prüfung der Schriftstücke verfügt zu haben, die ihr mit Schreiben vom 3. Mai 1988 übermittelt worden seien.
[346] 342. Die Kommission entgegnet auf das Vorbringen von Wacker und Hoechst, daß Artikel 11 der Verordnung Nr. 99/63 eingehalten worden sei. So habe die Klägerin für die schriftliche Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zwei Monate und für die Vorbereitung auf die Anhörung im September 1988 fünf Monate Zeit gehabt. Diese Fristen seien völlig ausreichend, insbesondere wenn man sie mit den Fristen des Artikels 173 Absatz 5 EG-Vertrag vergleiche (Urteil des Gerichtshofes vom 14. Februar 1978 in der Rechtssache 27/76, United Brands/Kommission, Slg. 1978, 207, Randnrn. 270 bis 273). Daran ändere auch nichts, daß bestimmte Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht in der Sprache der Klägerin verfaßt gewesen seien, da die Klägerin und ihr Prozeßbevollmächtigter keine Verständnisschwierigkeiten gehabt hätten.
[347] 343. Zu dem Argument von BASF führt die Kommission aus, die Klägerin könne bezüglich der Schriftstücke in der Anlage zum Schreiben der Kommission vom 3. Mai 1988 angesichts des Wortlauts dieses Schreibens nicht behaupten, daß sie erst nach Erlaß der Entscheidung den Nutzen dieser Schriftstücke für ihre Verteidigung erkannt habe; die Bewertung sei ihre Sache gewesen. Da das Schreiben am 3. Mai 1988 versandt worden und die Antwort am 10. Juni 1988 eingegangen sei, habe der Klägerin genügend Zeit zur Verfügung gestanden; die Klägerin habe keine Fristverlängerung über diesen Zeitpunkt hinaus beantragt und sich im übrigen ausführlich geäußert. Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 99/63 sei somit eingehalten worden.
Würdigung durch das Gericht
[348] 344. Artikel 2 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63 bestimmt: "In der Mitteilung der Beschwerdepunkte setzt die Kommission eine Frist, innerhalb welcher die Unternehmen und Unternehmensvereinigungen Gelegenheit haben, sich zu äußern." Dazu heißt es in Artikel 11 Absatz 1 dieser Verordnung: "[D] ie Kommission [trägt] dem für die Äußerung erforderlichen Zeitaufwand und der Dringlichkeit des Falles Rechnung. Die Frist muß mindestens zwei Wochen betragen; sie kann verlängert werden."
[349] 345. Im vorliegenden Fall wurde die Mitteilung der Beschwerdepunkte an die betroffenen Unternehmen am 5. April 1988 versandt. Diese sollten sich bis zum 16. Mai 1988 zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen äußern.
[350] 346. Mit Schreiben vom 3. Mai 1988 übersandte die Kommission an die Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte eine Reihe von ergänzenden Schriftstücken mit dem Hinweis, daß diese zwar in den Beschwerdepunkten nicht erwähnt seien, doch "für die Beurteilung der Sache insgesamt erheblich sein könnten".
[351] 347. Wacker und Hoechst beantragten eine Fristverlängerung bis zum 15. Juli 1988. Mit Schreiben vom 18. Mai 1988 gewährte die Kommission ihnen insbesondere wegen der Übermittlung der ergänzenden Schriftstücke am 3. Mai 1988 eine Verlängerung bis zum 10. Juni 1988.
[352] 348. Auf den Antrag auf Fristverlängerung, den BASF am 5. Mai 1988 gestellt hatte und der bei der Kommission am 17. Mai 1988 eingegangen war, setzte die Kommission mit Schreiben vom 24. Mai 1988 das Fristende für die Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte auf den 10. Juni 1988 fest.
[353] 349. Unter den Umständen des vorliegenden Falles war die den Klägerinnen bewilligte Frist von etwa zwei Monaten hinreichend, um ihnen die Vorbereitung ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte zu ermöglichen (in diesem Sinne Urteil United Brands/Kommission, Randnrn. 272 und 273).
[354] 350. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
2. Zu den Klagegründen, mit denen Mängel bei der Anhörung gerügt werden
a) Zum Klagegrund einer für die Vorbereitung der Anhörung unzureichenden Frist
[355] 351. Nach Ansicht von Wacker und Hoechst verfügte der Anhörungsbeauftragte nicht über genügend Zeit, um die Anhörung vorzubereiten.
[356] 352. Die Kommission ist der Ansicht, daß diese Behauptung jeder Grundlage entbehre.
[357] 353. Selbst wenn die Klägerinnen zur Anführung eines solchen Klagegrundes berechtigt wären, haben sie nicht dargetan, inwiefern die dem Anhörungsbeauftragten eingeräumte Frist für die Vorbereitung der Anhörung für diesen nicht ausreichend gewesen sein soll, und nicht einmal vorgetragen, inwiefern dieser Umstand, wenn ihr Vorbringen begründet wäre, das Verwaltungsverfahren hätte fehlerhaft machen können.
[358] 354. Somit ist der Klagegrund als unbegründet zurückzuweisen.
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1
Vorbringen der Parteien
[359] 355. Nach Ansicht von BASF, Wacker, Hoechst und Enichem hat die Kommission gegen Artikel 3 der Verordnung Nr. 1 verstoßen. Das Anhörungsprotokoll gebe die Äußerungen der verschiedenen Beteiligten nur in der von diesen benutzten Sprache wieder und nicht allein in der Sprache des Mitgliedstaats, dessen Hoheitsgewalt diese Klägerinnen unterlägen. Diese Äußerungen sind nach Meinung von BASF ebenfalls von wesentlicher Bedeutung, da der Vorwurf, ein Kartell gebildet zu haben, gegen sämtliche Unternehmen erhoben worden sei.
[360] 356. Die Kommission hält diesen Klagegrund für unbegründet.
Würdigung durch das Gericht
[361] 357. Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63 lautet: "Über die wesentlichen Erklärungen jeder angehörten Person wird eine Niederschrift angefertigt. Die Niederschrift wird verlesen und von der angehörten Person genehmigt."
[362] 358. Im vorliegenden Fall steht fest, daß die Klägerinnen den wesentlichen Inhalt der im Protokoll niedergelegten eigenen Erklärungen gebührend zur Kenntnis nehmen konnten.
[363] 359. Zudem bestreiten die Klägerinnen nicht, daß sie dem Gang der Anhörung dank des Simultandolmetschens folgen konnten. Sie behaupten auch nicht, daß die Niederschrift mangels einer Übersetzung der Teile, die in einer anderen Sprache abgefaßt waren als der des Staates, dessen Hoheitsgewalt sie unterstehen, in bezug auf sie Ungenauigkeiten oder wesentliche Auslassungen enthalte, deren nachteilige Folgen das Verwaltungsverfahren fehlerhaft machen könnten (Urteile ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 52, und Parker Pen/Kommission, Randnr. 74).
[364] 360. Somit ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
c) Zum Klagegrund der Unvollständigkeit des Anhörungsprotokolls
Vorbringen der Parteien
[365] 361. Nach Ansicht von BASF ist das Anhörungsprotokoll unvollständig. Es fehlten nämlich entscheidende Teile der Ausführungen der anderen Unternehmen. So seien in dem Protokoll entgegen den dort enthaltenen Hinweisen die Plädoyers, die im Namen aller betroffenen Unternehmen vorgetragen worden seien, das Plädoyer der Klägerin und das anderer Unternehmen nicht beigefügt gewesen. Da es sich um Anschuldigungen wegen geheimer Abreden handele, sei die Kenntnis und Prüfung des Verteidigungsvorbringens der anderen Beteiligten von wesentlicher Bedeutung. Die Kommission könne sich nicht auf Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63 berufen, da diese Bestimmung nur die Prüfung der Richtigkeit des Inhalts des Protokolls durch die angehörte Person betreffe, nicht aber das Recht, von den Ausführungen der anderen Beteiligten Kenntnis zu erlangen.
[366] 362. Wacker und Hoechst tragen den gleichen Klagegrund vor und führen dazu aus, daß das Protokoll keinen Hinweis auf die gemeinsamen Ausführungen der einzelnen Unternehmen enthalte.
[367] 363. Nach Ansicht der Kommission entspricht das BASF zugestellte Anhörungsprotokoll Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63, da das Unternehmen anhand dieses Protokolls seine eigenen Erklärungen habe überprüfen können. Der Klägerin den Text der Erklärungen, die die anderen betroffenen Unternehmen und ihre Bevollmächtigten bei der Anhörung abgegeben hätten, zur Genehmigung vorzulegen, habe daher keinen Sinn.
[368] 364. Im übrigen seien BASF, Wacker und Hoechst diese Erklärungen bekannt gewesen, da sie an der Anhörung teilgenommen hätten.
Würdigung durch das Gericht
[369] 365. Im mündlichen Teil des Verwaltungsverfahrens vor der Kommission, der vom 5. bis 8. September 1988 und am 19. September 1988 durchgeführt wurde, hatten die Beteiligten Gelegenheit zu einer gemeinsamen Stellungnahme zu bestimmten Themen.
[370] 366. Aus dem Anhörungsprotokoll, das jedem an diesem Verfahrensabschnitt Beteiligten übermittelt wurde, ergibt sich, daß die gemeinsamen Stellungnahmen in einer Zusammenfassung wiedergegeben wurden.
[371] 367. Aus dem Protokoll ergibt sich ebenfalls, daß der vollständige Wortlaut der verschiedenen im Namen der betroffenen Personen abgegebenen Stellungnahmen in den Anlagen zum Protokoll hätte enthalten sein müssen. Diese Anlagen waren dem Protokoll jedoch nicht beigefügt.
[372] 368. Dieser Umstand ist aber kein Mangel des Verwaltungsverfahrens, das zur Rechtswidrigkeit der verfahrensabschließenden Entscheidung führen kann. Artikel 9 Absatz 4 der Verordnung Nr. 99/63 (wiedergegeben vorstehend in Randnr. 357) soll nämlich den angehörten Personen die Gewähr bieten, daß die Niederschrift mit ihren wesentlichen Erklärungen übereinstimmt (Urteil vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnr. 29). Soweit die gemeinsamen Plädoyers die Klägerinnen betrafen, konnten diese vom wesentlichen Inhalt dieser Erklärungen Kenntnis erlangen, da die Erklärungen insoweit in das Anhörungsprotokoll aufgenommen worden waren. Im übrigen machen die Klägerinnen nicht geltend, daß die Wiedergabe dieser Erklärungen in zusammengefaßter Form Unrichtigkeiten enthalten hätte. Da diese Plädoyers im Namen der Klägerinnen gehalten wurden, können diese nicht mit Erfolg geltend machen, daß sie keine hinreichende Kenntnis von diesen Stellungnahmen gehabt hätten.
[373] 369. Daß der Text der Ausführungen von BASF und der anderen Beteiligten, die Erklärungen abgegeben haben, nicht als Anlage zum Protokoll übermittelt wurde, stellt ebenfalls keinen Mangel des Verwaltungsverfahrens dar, das zur Rechtswidrigkeit der Entscheidung führen könnte, da das Protokoll selbst die wesentlichen Erklärungen wiedergibt.
[374] 370. Jedenfalls ist festzustellen, daß BASF, Wacker und Hoechst an der Anhörung teilgenommen haben und dabei von den tatsächlich gemeinsam dargestellten Themen und den von anderen Beteiligten individuell abgegebenen Erklärungen Kenntnis erlangen konnten.
[375] 371. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
d) Zum Klagegrund der Nichtvorlage des Berichts des Anhörungsbeauftragten
Vorbringen der Parteien
[376] 372. Wacker und Hoechst machen geltend, daß ihnen Gelegenheit hätte gegeben werden müssen, vom Bericht des Anhörungsbeauftragten Kenntnis zu nehmen und sich dazu zu äußern. Die Kommission habe diesen Bericht rechtswidrigerweise nicht vorgelegt.
[377] 373. Nach Ansicht von BASF und Hüls ist die Entscheidung rechtswidrig, weil sie nicht den Bericht des Anhörungsbeauftragten berücksichtige. Der zur Zeit der Entscheidung 1988 erstellte Bericht des Anhörungsbeauftragten könne nämlich tatsächliche und rechtliche Feststellungen enthalten, die in die gleiche Richtung gingen wie die Kritik der Unternehmen. Die Klägerinnen beantragen daher, der Kommission aufzugeben, den Bericht des Anhörungsbeauftragten vorzulegen.
[378] 374. Die Kommission widersetzt sich dem Antrag auf Beiziehung des Berichts des Anhörungsbeauftragten mit der Begründung, daß es sich um ein Dritten nicht zugängliches internes Schriftstück handele.
Würdigung durch das Gericht
[379] 375. Die Wahrung der Verteidigungsrechte verlangt nicht, daß den von einem Verfahren nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag betroffenen Unternehmen Gelegenheit gegeben wird, zu dem Bericht des Anhörungsbeauftragten, der ein rein internes Schriftstück der Kommission ist, Stellung zu nehmen. Nach der Rechtsprechung ist die Kommission an diesen Bericht, der für sie den Wert eines Gutachtens hat, in keiner Weise gebunden. Dieser Bericht ist deshalb kein entscheidender Faktor, den der Gemeinschaftsrichter bei seiner Prüfung zu berücksichtigen hätte (Beschluß vom 11. Dezember 1986 in der Rechtssache 212/86 R, ICI/Kommission, Randnrn. 5 bis 8, nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht). Die Wahrung der Verteidigungsrechte ist nämlich rechtlich hinreichend sichergestellt, wenn die bei der Ausarbeitung der endgültigen Entscheidung zusammenwirkenden Stellen korrekt über die Argumentation der Unternehmen informiert worden sind, die diese in Beantwortung der ihnen von der Kommission mitgeteilten Beschwerdepunkte und gegenüber den von der Kommission zur Erhärtung dieser Beschwerdepunkte vorgelegten Beweismitteln vorgetragen haben (Urteil Michelin/Kommission, Randnr. 7).
[380] 376. Der Bericht des Anhörungsbeauftragten dient nicht dem Zweck, das Vorbringen der Unternehmen zu ergänzen, zu korrigieren, neue Beschwerdepunkte zu formulieren oder neue Beweismittel gegen die Unternehmen zu liefern (namentlich Urteile des Gerichts vom 24. Oktober 1991 in der Rechtssache T-2/89, Petrofina/Kommission, Slg. 1991, II-1087, Randnr. 54, und Hüls/Kommission, Randnr. 87).
[381] 377. Folglich können die Unternehmen aus dem Grundsatz der Wahrung der Verteidigungsrechte keinen Anspruch darauf ableiten, daß ihnen der Bericht des Anhörungsbeauftragten zur Stellungnahme übermittelt wird (Urteile Petrofina/Kommission, Randnr. 55, und Hüls/Kommission, Randnr. 88).
[382] 378. Infolgedessen ist der Klagegrund zurückzuweisen.
D – Verstoß gegen Artikel 190 EG-Vertrag
Vorbringen der Parteien
[383] 379. Nach Ansicht der Klägerinnen ist in mehrfacher Hinsicht gegen die Begründungspflicht gemäß Artikel 190 EG-Vertrag verstoßen worden.
[384] 380. So tragen Wacker und Hoechst vor, die Entscheidung sei in drei wesentlichen Punkten nicht hinreichend begründet: bezüglich des Vorliegens der Tatbestandsmerkmale einer Zuwiderhandlung, der Qualifizierung als Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise und der Beteiligung dieser Klägerinnen.
[385] 381. Nach Ansicht von Montedison läßt die Entscheidung nicht erkennen, aus welchen Erwägungen die Kommission beschlossen habe, die Geldbußen zu bestätigen, die für einen Sachverhalt verhängt worden seien, der zehn bis fünfzehn Jahre zurückliege (Urteil des Gerichtshofes vom 2. Mai 1990 in der Rechtssache C-27/89, Scarpe, Slg. 1990, I-1701, Randnr. 27, und Urteil des Gerichts vom 24. Oktober 1991 in der Rechtssache T-3/89, Atochem/Kommission, Slg. 1991, II-1177, Randnr. 222). Im vorliegenden Fall gebe es kein berechtigtes Interesse (vgl. im Gegenschluß Urteile des Gerichtshofes vom 2. März 1983 in der Rechtssache 7/82, GVL/Kommission, Slg. 1983, 483, und vom 18. September 1992, Automec/Kommission, Randnr. 85), das die Ermittlungen gegen ein Unternehmen rechtfertigte, das sich seit mehr als zehn Jahren vom Markt zurückgezogen habe.
[386] 382. ICI macht geltend, die Entscheidung enthalte keinerlei Begründung für die Verzögerung der Entscheidung der Kommission, für die Verfahrensentscheidung, mit der auf eine neue Mitteilung der Beschwerdepunkte und die Anhörung der Parteien verzichtet worden ist, für die Verwendung von Schriftstücken, die in einem anderen Ermittlungsverfahren aufgefunden worden seien, oder von Beweisen, die unter Verletzung des Rechts, sich nicht selbst zu belasten, erlangt worden seien, für die Weigerung, gemäß den von der Rechtsprechung aufgestellten Bedingungen Akteneinsicht zu gewähren, für die Verhängung einer Geldbuße, die zudem auf einem tatsächlichen Irrtum beruhe, und für die Feststellung, daß die Entscheidung 1988 gegenüber Solvay und Norsk Hydro wirksam bleibe.
[387] 383. Nach Ansicht von Hüls ist die Entscheidung aus sich heraus unabhängig von den Schriftstücken, auf die sie sich beziehe, nicht verständlich; keines dieser Schriftstücke sei aber der Entscheidung beigefügt. Die Kommission nehme bei der rechtlichen Würdigung weder auf bestimmte konkrete Beweismittel noch auf den eingangs der angefochtenen Entscheidung geschilderten Sachverhalt Bezug. Schließlich sei die Entscheidung vor allem im Hinblick auf die Dauer des Verfahrens nicht ordnungsgemäß begründet (Urteil Sytraval und Brink's France/Kommission, Randnr. 77 in Verbindung mit Randnr. 56).
[388] 384. Enichem trägt vor, die Kommission habe nicht erläutert, warum sie nach Ablauf eines so langen Zeitraums erneut eine Geldbuße gegen die betroffenen Unternehmen verhängt habe. Weder die Verordnung Nr. 2988/74, die höchstens die Zuständigkeit der Kommission, nicht aber deren Entscheidung begründen könne, noch der Umstand, daß die Kommission bereits 1988 die Verhängung der Geldbußen beschlossen habe, was nicht bedeute, daß sie nach dem Urteil vom 15. Juni 1994 erneut dazu verpflichtet gewesen wäre, könnten einen ausreichenden Grund liefern.
[389] 385. Die Kommission hält diesen Klagegrund für unbegründet. Nach ihrer Ansicht genügt die Entscheidung den Anforderungen des Artikels 190 EG-Vertrag.
Würdigung durch das Gericht
[390] 386. Nach ständiger Rechtsprechung hat die Pflicht zur Begründung von Einzelfallentscheidungen den Zweck, dem Gemeinschaftsrichter die Überprüfung der Entscheidung auf ihre Rechtmäßigkeit hin zu ermöglichen und den Betroffenen so ausreichend zu unterrichten, daß er erkennen kann, ob die Entscheidung begründet oder eventuell mit einem Mangel behaftet ist, der ihre Anfechtung ermöglicht; dabei hängt der Umfang der Begründungspflicht von der Art des Rechtsakts und den Umständen ab, unter denen er erlassen wurde (vgl. insbesondere Urteil des Gerichts vom 11. Dezember 1996 in der Rechtssache T-49/95, Van Megen Sports/Kommission, Slg. 1996, II-1799, Randnr. 51).
[391] 387. In der ersten Randnummer der Entscheidung wird auf "den Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft" und damit implizit, aber zwangsläufig förmlich auf den Auftrag der Kommission verwiesen (vorstehend, Randnrn. 148 und 149). Bereits diese Verweisung ist eine ausreichende Begründung für das Interesse der Kommission an der Feststellung einer Zuwiderhandlung und an deren Ahndung. Da die Kommission bei der Ausübung der ihr im Vertrag im Wettbewerbsrecht eingeräumten Befugnisse über ein Ermessen verfügt, muß sie ihre Gründe für die Wahl dieses Weges nicht näher darlegen. Daher ist das Vorbringen von Montedison und Enichem zurückzuweisen.
[392] 388. Was den von Wacker, Hoechst und Hüls erhobenen Vorwurf der unzureichenden Begründung betrifft, so hat die Kommission zwar nach Artikel 190 EG-Vertrag ihre Entscheidungen mit Gründen zu versehen und dabei die sachlichen und rechtlichen Gesichtspunkte, von denen die Rechtmäßigkeit der Entscheidung abhängt, sowie die Erwägungen aufzuführen, die sie zu deren Erlaß veranlaßt haben; sie braucht jedoch nicht auf alle sachlichen und rechtlichen Fragen einzugehen, die während des Verwaltungsverfahrens vorgebracht wurden (vgl. namentlich Urteil Van Landewyck u. a./Kommission, Randnr. 66). Die Randnummern 7 bis 27 enthalten eine klare Darstellung der wesentlichen Schriftstücke, die die Kommission als Beweise für die Zuwiderhandlung ansieht. Ebenso enthalten die Randnummern 28 bis 39 eine ausreichende Begründung der rechtlichen Folgerungen, die sie aus dem Sachverhalt zieht.
[393] 389. Kein Begründungsmangel der Entscheidung ist es, daß die Kommission für die Verzögerung der Entscheidung, für die Verfahrensentscheidung, auf eine neue Mitteilung der Beschwerdepunkte oder eine Anhörung der Parteien zu verzichten, für die Verwendung von Schriftstücken, die im Rahmen eines anderen Ermittlungsverfahrens aufgefunden worden sind oder von Beweisen, die unter Verletzung des Rechts, sich nicht selbst zu belasten, erlangt sind, für die Weigerung gemäß den von der Rechtsprechung aufgestellten Bedingungen Akteneinsicht zu gewähren, und für die Verhängung einer Geldbuße, die angeblich auf einem tatsächlichen Irrtum beruht, keine Erklärungen gibt. Diese Argumente von ICI sind nämlich im wesentlichen darauf gerichtet, die Begründetheit der Würdigung dieser verschiedenen Fragen durch die Kommission anzuzweifeln. Solche Argumente, die zur Prüfung der Begründetheit der Entscheidung gehören, sind in dem vorliegenden Kontext unerheblich.
[394] 390. Was das Argument von ICI betrifft, daß die zweite Entscheidung keine Begründung dafür enthalte, daß die Entscheidung 1988 gegenüber Norsk Hydro und Solvay wirksam sei, so genügt der Hinweis, daß die zweite Entscheidung hierzu eine ausdrückliche Begründung enthält. In Randnummer 59 der Entscheidung heißt es nämlich: "Da Solvay nicht beim Gerichtshof auf Nichtigerklärung der Entscheidung geklagt hat und die Klage von Norsk Hydro für unzulässig erklärt wurde, bleibt die Entscheidung 89/190/EWG ihnen gegenüber gültig."
[395] 391. Somit ist der vorliegende Klagegrund zurückzuweisen.
II – Zu den materiell-rechtlichen Klagegründen
[396] 392. Die Klägerinnen entwickeln im wesentlichen drei Argumentationslinien. Erstens führen sie eine Reihe von Klagegründen an, die die Beweise betreffen (A). Zweitens machen sie geltend, daß ein Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag weder tatsächlich noch rechtlich vorliege (B). Drittens führt jede Klägerin Argumente zum Beweis dafür an, daß jedenfalls sie an der ihr zur Last gelegten Zuwiderhandlung nicht beteiligt gewesen sei (C).
A – Zu den Beweisen
[397] 393. Die Klagegründe umfassen zwei Gesichtspunkte. Zum einen machen die Klägerinnen geltend, daß einige der gegen sie verwendeten Beweise unzulässig seien. Zum anderen ziehen sie den Beweiswert der gegen sie angeführten Beweismittel in Frage.
1. Zur Zulässigkeit der Beweise
[398] 394. Die Klägerinnen machen geltend, daß die gegen sie verwendeten Beweise unzulässig seien. Sie führen hierzu sechs Klagegründe an: erstens sei gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung verstoßen worden; zweitens sei das grundsätzliche Recht, die Aussage zu verweigern und sich nicht selbst zu belasten, verletzt worden; drittens sei Artikel 20 der Verordnung Nr. 17 verletzt worden; viertens könne die Weigerung, auf die Auskunftsverlangen zu antworten oder Schriftstücke vorzulegen, nicht als Beweis gewertet werden, der gegen sie spreche; fünftens seien ihnen bestimmte Schriftstücke niemals oder, sechstens, verspätet übermittelt worden.
[399] 395. Diesen Klagegründen ist nach Ansicht der Klägerinnen gemeinsam, daß im Falle ihrer Begründetheit die streitigen Schriftstücke im Verfahren unberücksichtigt bleiben müßten und die Rechtmäßigkeit der Entscheidung ohne sie zu beurteilen wäre (Urteil AEG/Kommission, Randnrn. 24 bis 30, und Beschluß des Präsidenten des Gerichtshofes vom 26. März 1987 in der Rechtssache 46/87 R, Hoechst/Kommission, Slg. 1987, 1549, Randnr. 34).
a) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung
Vorbringen der Parteien
[400] 396. Nach Ansicht von LVM und DSM kann das Gericht prüfen, ob Nachprüfungen im Rahmen des Artikels 14 der Verordnung Nr. 17 im Einklang mit Artikel 8 MRK ständen. Diese Bestimmung habe nämlich unmittelbare Geltung im Gemeinschaftsrecht. Nachprüfungen in den Geschäftsräumen einer natürlichen oder juristischen Person aufgrund von Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 stellten eine "Durchsuchung" dar, die unter Artikel 8 MRK falle.
[401] 397. Auch wenn die Klägerinnen gegen die Nachprüfungsentscheidungen keine Klage erhoben hätten, hätten sie doch weiterhin ein Interesse an der Überprüfung ihrer Rechtmäßigkeit, da die Entscheidung auf Beweisen beruhe, die auf unzulässige Weise erlangt worden seien. Zudem hätten sich die Nachprüfungen in den Geschäftsräumen von DSM am 6. Dezember 1983 auf einen Prüfungsauftrag nach Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 gegründet, der mit einer Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EG-Vertrag nicht angefochten werden könne.
[402] 398. Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes machen die Klägerinnen geltend, daß die Kommission bei ihren Nachprüfungen gegen den Grundsatz der Unverletzlichkeit der Wohnung im Sinne des Artikels 8 MRK verstoßen habe, wie er in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ausgelegt worden sei (EuGHMR, Urteil vom 16. Dezember 1992, Niemietz/Deutschland, Serie A, Nr. 251-B) und dessen Prüfung weiter reiche als die im Gemeinschaftsrecht (Urteil Hoechst/Kommission und Urteil des Gerichtshofes vom 17. Oktober 1989 in der Rechtssache 85/87, Dow Benelux/Kommission, Slg. 1989, 3137).
[403] 399. So seien die Nachprüfungsanordnungen ohne vorherige richterliche Genehmigung ergangen. Die Nachprüfungsentscheidungen oder Prüfungsaufträge seien allgemein ohne irgendeine Einschränkung formuliert gewesen und hätten nicht den Gegenstand der Nachprüfung erkennen lassen, wie die an LVM gerichtete Nachprüfungsentscheidung vom 4. November 1987 und der Prüfungsauftrag vom 29. November 1983 belegten, aufgrund dessen die Nachprüfungen in den Räumlichkeiten von DSM am 6. Dezember 1983 durchgeführt worden seien. Eine Nachprüfung sei nur zulässig, soweit sie erforderlich sei (Artikel 14 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 und Artikel 8 MRK). Diese Erforderlichkeit sei im Lichte der Beschreibung der Verdachtsmomente, die die Kommission überprüfen wolle, zu beurteilen; im vorliegenden Fall fehle eine solche Beschreibung gerade.
[404] 400. Folglich seien alle Nachprüfungsanordnungen der Kommission im vorliegenden Fall rechtswidrig.
[405] 401. Enichem macht geltend, daß "die folgende Nachprüfungsentscheidung rechtswidrig ist, da ihr Gegenstand … allgemein formuliert ist" und damit gegen Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 verstoße.
[406] 402. Mit dem zweiten Teil dieses Klagegrundes stellen LVM und DSM die Rechtmäßigkeit der Durchführung der Nachprüfungen der Kommission in Frage. Diese habe bei ihren Nachprüfungen angesichts der Art und des Umfangs der dabei tatsächlich geprüften Schriftstücke das Geschäftsgeheimnis verletzt.
[407] 403. Nach Ansicht der Kommission ist die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte nicht auf gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsverfahren anwendbar. Zudem sei der Klagegrund nicht zulässig, da die Klägerinnen gegen die Nachprüfungsanordnung der Kommission keine Klage erhoben hätten.
[408] 404. Zur Begründetheit des Klagegrundes trägt die Kommission vor, daß Artikel 8 MRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte nichts an der Erheblichkeit der Rechtsprechung des Gerichtshofes ändere (Urteile Hoechst/Kommission und Dow Benelux/Kommission).
Würdigung durch das Gericht
[409] 405. Die Kommission hat im vorliegenden Fall Nachprüfungen nach Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 in den Räumlichkeiten folgender Unternehmen durchgeführt: bei Shell und ICI auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 16. November 1983, bei DSM auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 29. November 1983, bei EVC, einem gemeinsamen Unternehmen von ICI und Enichem, auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 17. Juli 1987, und bei Hüls auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags vom 17. September 1987.
[410] 406. Die Kommission hat am 15. Januar 1987 gegenüber den Unternehmen Alcudia, Atochem, BASF, Hoechst und Solvay und am 4. November 1987 gegenüber Wacker und LVM Nachprüfungsentscheidungen gemäß Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 erlassen.
[411] 407. Zunächst ist die Zulässigkeit des Klagegrundes, die von der Kommission verneint wird, und dann die Begründetheit zu prüfen.
i) Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
[412] 408. Nachprüfungsentscheidungen sind selbst Rechtsakte, die mit einer Nichtigkeitsklage nach Artikel 173 EG-Vertrag angefochten werden können. So sieht Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 ausdrücklich vor, daß die Nachprüfungsentscheidung "auf das Recht hin [weist], vor dem Gerichtshof gegen die Entscheidung Klage zu erheben".
[413] 409. Nach gefestigter Rechtsprechung wird eine Entscheidung der Gemeinschaftsorgane, die von ihrem Adressaten nicht innerhalb der Frist des Artikels 173 EG-Vertrag angefochten worden ist, ihm gegenüber bestandskräftig. Diese Rechtsprechung beruht vor allem auf der Erwägung, daß die Klagefristen der Wahrung der Rechtssicherheit dienen sollen, indem sie verhindern, daß das Rechtswirkungen entfaltende Gemeinschaftshandeln wieder und wieder in Frage gestellt wird (namentlich Urteil des Gerichtshofes vom 30. Januar 1997 in der Rechtssache C-178/95, Wiljo, Slg. 1997, I-585, Randnr. 19).
[414] 410. LVM ist daher wegen Fristversäumnisses davon ausgeschlossen, die Rechtswidrigkeit der Nachprüfungsentscheidung geltend zu machen, die an sie gerichtet war und von ihr nicht fristgerecht angefochten worden ist. Der Klagegrund ist daher unzulässig.
[415] 411. Dagegen können LVM und DSM, soweit von der Kommission erlangte Schriftstücke gegen sie verwendet werden, die Rechtswidrigkeit der gegen andere Unternehmen gerichteten Nachprüfungsentscheidungen geltend machen, denn es steht nicht fest, daß die beiden Unternehmen mit einer gegen diese Entscheidungen gerichteten unmittelbaren Klage ohne jeden Zweifel deren Rechtswidrigkeit hätten geltend machen können.
[416] 412. Ebenso können die Klägerinnen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen die Endentscheidung die Rechtswidrigkeit der Prüfungsaufträge geltend machen, die als solche nicht mit einer Klage nach Artikel 173 EG-Vertrag anfechtbar sind.
[417] 413. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes kann ein Unternehmen mit einer Klage auf Nichtigerklärung des Rechtsakts, auf dessen Grundlage die Kommission eine Nachprüfung durchführt, nicht die Rechtswidrigkeit des Ablaufs des Nachprüfungsverfahrens geltend machen. Die richterliche Überprüfung der Umstände, unter denen eine Nachprüfung durchgeführt worden ist, hat gegebenenfalls im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gegen die von der Kommission nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag erlassene Endentscheidung zu erfolgen (Urteil Dow Benelux/Kommission, Randnr. 49, sowie Schlußanträge des Generalanwalts Mischo in dieser Rechtssache, Slg. 1989, 3149, Nr. 127 a. E.; Beschluß des Gerichts vom 9. Juni 1997 in der Rechtssache T-9/97, Elf Atochem/Kommission, Slg. 1997, II-909, Randnr. 25).
[418] 414. Die Klägerinnen können somit ebenfalls Einwände gegen den Ablauf der von der Kommission durchgeführten Nachprüfungsverfahren erheben.
[419] 415. Somit beschränkt sich die von der Kommission geltend gemachte Unzulässigkeit auf den Klagegrund von LVM, soweit dieser sich gegen die an LVM gerichtete Nachprüfungsentscheidung richtet.
[420] 416. Bezüglich des von Enichem vorgetragenen Klagegrundes ist jedoch festzustellen, daß das Gericht weder anhand der Schriftsätze der Klägerin noch aufgrund der mündlichen Verhandlung die Nachprüfungsentscheidung ermitteln konnte, deren Rechtmäßigkeit von der Klägerin verneint wird. Daher ist der Klagegrund, soweit er von Enichem geltend gemacht wird, für unzulässig zu erklären, da dem Gericht weder dessen Sinn noch dessen Tragweite erkennbar ist.
ii) Zur Begründetheit des Klagegrundes
[421] 417. Aus den bereits dargelegten Gründen (vorstehend, Randnr. 120) ist der Klagegrund dahin zu verstehen, daß mit ihm ein Verstoß gegen den allgemeinen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts geltend gemacht wird, der Schutz gegen willkürliche oder unverhältnismäßige Eingriffe staatlicher Gewalt in die Sphäre der privaten Betätigung jeder natürlichen oder juristischen Person gewährleistet (Urteile Hoechst/Kommission, Randnr. 19, Dow Benelux/Kommission, Randnr. 30, und Urteil des Gerichtshofes vom 17. Oktober 1989 in den Rechtssachen 97/87, 98/87 und 99/87, Dow Chemical Ibérica u. a./Kommission, Slg. 1989, 3165, Randnr. 16).
[422] 418. Dieser Klagegrund besteht aus zwei Teilen: Der eine betrifft die Gültigkeit der Nachprüfungsanordnungen, der andere die Durchführung dieser Anordnungen.
- Zur ersten Rüge bezüglich der Gültigkeit der Nachprüfungsanordnungen
[423] 419. Erstens ist unstreitig, daß die Nachprüfungsentscheidungen, die die Kommission 1987 an einige Unternehmen gerichtet hat, mit der Entscheidung übereinstimmen oder vergleichbar sind, die am 15. Januar 1987 an Hoechst gerichtet worden war. Hoechst hatte gegen diese Entscheidung eine Nichtigkeitsklage erhoben, die vom Gerichtshof abgewiesen wurde (Urteil Hoechst/Kommission). Soweit die heute von LVM und DSM vorgetragenen Rügen und Argumente mit den seinerzeit von Hoechst vorgetragenen übereinstimmen oder vergleichbar sind, sieht das Gericht keinen Grund, von der Rechtsprechung des Gerichtshofes abzuweichen.
[424] 420. Diese Rechtsprechung beruht auf dem vorstehend genannten allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz, der für juristische Personen gilt. Wenn die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte zur Anwendbarkeit des Artikels 8 MRK auf juristische Personen sich seit Erlaß der Urteile Hoechst/Kommission, Dow Benelux/Kommission und Dow Chemical Ibérica u. a./Kommission weiterentwickelt haben sollte, hätte dies daher keine unmittelbare Auswirkung auf die Richtigkeit der in diesen Urteilen vertretenen Lösungen.
[425] 421. Zweitens beruhen, wie sich aus Artikel 14 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 ergibt, die aufgrund eines bloßen Auftrags durchgeführten Nachprüfungen auf der freiwilligen Mitarbeit der Unternehmen (Urteile Hoechst/Kommission, Randnr. 31, Dow Benelux/Kommission, Randnr. 42, und Dow Chemical Ibérica u. a./Kommission, Randnr. 28). Daran ändert auch nichts der Umstand, daß Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe c der Verordnung Nr. 17 eine Sanktion vorsieht. Eine solche Sanktion kommt nämlich nur zur Anwendung, wenn das Unternehmen, das sich zur Zusammenarbeit bei der Nachprüfung bereit erklärt hat, die angeforderten Bücher oder sonstigen Geschäftsunterlagen nicht vollständig vorlegt.
[426] 422. Hat ein Unternehmen an einer aufgrund eines Prüfungsauftrags durchgeführten Nachprüfung tatsächlich mitgewirkt, ist die Rüge eines übermäßigen Eingriffs der staatlichen Gewalt unbegründet, sofern keine Anhaltspunkte dafür genannt werden, daß die Kommission über die von dem Unternehmen angebotene Zusammenarbeit hinausgegangen sei.
[427] 423. Somit ist dieser Teil des Klagegrundes zurückzuweisen.
- Zum zweiten Teil dieses Klagegrundes betreffend die Durchführung der Nachprüfungsanordnungen
[428] 424. Die Klägerinnen tragen dazu lediglich vor, daß die Kommission angesichts des Umfangs der kopierten und mitgenommenen Schriftstücke das Geschäftsgeheimnis der Unternehmen verletzt habe.
[429] 425. Die angeblich unverhältnismäßige Menge der von der Kommission kopierten Schriftstücke, zu der die Klägerinnen im übrigen nichts Näheres vorgetragen haben, kann als solche keinen Fehler im Ablauf einer Nachprüfung darstellen, zumal wenn die Kommission wegen eines Kartells sämtlicher europäischer Hersteller eines bestimmten Sektors ermittelt. Zudem sind die Beamten und sonstigen Bediensteten der Kommission nach Artikel 20 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 verpflichtet, die Kenntnisse, die sie in Durchführung dieser Verordnung erlangt haben und die ihrer Natur nach unter das Berufsgeheimnis fallen, nicht preiszugeben.
[430] 426. Somit sind Unregelmäßigkeiten bei den von der Kommission durchgeführten Nachprüfungen nicht nachgewiesen.
[431] 427. Aufgrund dessen ist der vorliegende Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
b) Zum Klagegrund, mit dem ein Verstoß gegen das Recht, "die Aussage zu verweigern" und sich nicht selbst zu belasten, gerügt wird
Vorbringen der Parteien
[432] 428. Dieser Klagegrund umfaßt zwei Teile.
[433] 429. Mit dem ersten Teil dieses Klagegrundes machen LVM, DSM und ICI geltend, daß nach Artikel 14 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie nach Artikel 6 MRK in der Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte jeder Beschuldigte einschließlich der Unternehmen von Anfang an das Recht habe, jede Aussage zu verweigern (EuGHMR, Urteil Funke/Frankreich, Randnr. 44, und Stellungnahme der Europäischen Kommission für Menschenrechte vom 10. Mai 1994, Saunders/Vereinigtes Königreich, Nrn. 69, 71 und 76; anders das frühere Urteil des Gerichtshofes, Orkem/Kommission, Randnrn. 30 bis 35 und 37 bis 41; die dort vorgenommene Würdigung, die erheblich hinter dem Urteil Funke/Frankreich zurückbleibe, habe nun keine Bedeutung mehr). Die Kommission könne die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte nicht außer acht lassen (Urteile des Gerichtshofes vom 18. Juni 1991 in der Rechtssache C-260/89, ERT, Slg. 1991, I-2925, Randnr. 41, und Orkem/Kommission, Randnr. 30).
[434] 430. Folglich müßten alle Informationen, die die Kommission aufgrund von Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 erhalten habe, im Verfahren unberücksichtigt bleiben. Dies gelte sowohl für die Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften gemäß Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 als auch für die Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1 dieser Verordnung; da nämlich die Sanktionen nach Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe b dieser Verordnung sowohl in dem einen als auch in dem anderen Fall verhängt werden könnten, handle es sich um erzwungene Auskünfte im Sinne der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte.
[435] 431. Die Rechte der verletzten Unternehmen könnten nicht mit der Begründung außer Betracht gelassen werden, daß ein solches Ergebnis die Rechtmäßigkeit des Artikels 11 der Verordnung Nr. 17 insgesamt in Frage stellen könnte; die Kommission müsse deshalb den Nachweis der Zuwiderhandlung mit anderen Mitteln führen, die mit den Artikeln 6 und 8 MRK vereinbar seien.
[436] 432. Somit könne keine der Antworten der Unternehmen auf die Auskunftsverlangen, die die Kommission an sie gerichtet habe, zur Beweisführung beitragen.
[437] 433. Mit dem zweiten Teil dieses Klagegrundes berufen sich LVM, Elf Atochem, DSM, ICI und Enichem auf ihr Recht, sich nicht selbst zu belasten.
[438] 434. Infolgedessen müssen nach Ansicht von LVM, Elf Atochem, DSM und ICI die Antworten auf die Fragen, die in den Urteilen des Gerichtshofes vom 18. Oktober 1989 in den Rechtssachen Orkem/Kommission und 27/88 (Solvay/Kommission, Slg. 1989, 3355) für rechtswidrig erklärt worden seien, im Verfahren unberücksichtigt bleiben.
[439] 435. Elf Atochem greift auf diese Weise die an sie gerichtete Entscheidung nach Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 an. LVM, DSM und ICI machen dagegen die Rechtswidrigkeit sämtlicher Auskunftsverlangen geltend, unabhängig davon, an welches Unternehmen sie gerichtet sind und auf welche Rechtsgrundlage sie sich stützen.
[440] 436. Nach Ansicht von Enichem hat die Kommission die Unternehmen dazu gebracht, sich selbst zu belasten, indem sie sie gezwungen habe, Nachprüfungen zu dulden, obwohl sie nicht den geringsten Anhaltspunkt für die vermuteten Verhaltensweisen gehabt habe.
[441] 437. Nach Ansicht der Kommission ist die Europäische Konvention für Menschenrechte auf gemeinschaftsrechtliche Wettbewerbsverfahren nicht anwendbar. Zudem sei der Klagegrund nicht zulässig, da die Klägerinnen gegen die Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften keine Klage erhoben hätten.
[442] 438. Jedenfalls hätten die Unternehmen im vorliegenden Fall keine Antwort auf irgendeine der Fragen gegeben, die der Gerichtshof für gemeinschaftsrechtswidrig gehalten habe (Urteile Orkem/Kommission und vom 18. Oktober 1989, Solvay/Kommission).
Würdigung durch das Gericht
[443] 439. Im Rahmen ihrer Untersuchung in der vorliegenden Sache hat die Kommission an die meisten Klägerinnen Auskunftsverlangen nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 gerichtet. Einige waren Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1, andere Entscheidungen gemäß Artikel 11 Absatz 5.
[444] 440. Zunächst ist die Zulässigkeit des Klagegrundes, die von der Kommission verneint wird, anschließend seine Begründetheit zu prüfen.
- Zur Zulässigkeit des Klagegrundes
[445] 441. Aus den vorstehend dargelegten Gründen bezüglich der Nachprüfungsentscheidungen, die auf die Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften übertragbar sind, sind die Klägerinnen wegen Fristversäumnisses davon ausgeschlossen, die Rechtswidrigkeit der Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften geltend zu machen, die an sie gerichtet waren und die sie nicht binnen zwei Monaten ab Zustellung angefochten haben.
[446] 442. Der Klagegrund ist daher unzulässig, soweit er darauf abzielt, die Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften, die an die einzelnen Klägerinnen gerichtet worden sind, für rechtswidrig zu erklären.
- Zur Begründetheit des Klagegrundes
[447] 443. Die Kommission soll durch die ihr in der Verordnung Nr. 17 eingeräumten Befugnisse in die Lage versetzt werden, die ihr durch den Vertrag übertragene Aufgabe zu erfüllen, nämlich für die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu sorgen.
[448] 444. Während der Voruntersuchung erkennt die Verordnung Nr. 17 dem Unternehmen, auf das sich eine Untersuchungsmaßnahme bezieht, nicht das Recht zu, sich dem Vollzug dieser Maßnahme mit der Begründung zu entziehen, daß die Ergebnisse den Beweis für eine von ihm begangene Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln erbringen könnten. Sie erlegt ihm im Gegenteil eine Verpflichtung zur aktiven Mitwirkung auf, aufgrund deren es alle den Gegenstand der Untersuchung betreffenden Informationen für die Kommission bereithalten muß (Urteil Orkem/Kommission, Randnr. 27, und Urteil des Gerichts vom 8. März 1995 in der Rechtssache T-34/93, Société générale/Kommission, Slg. 1995, II-545, Randnr. 72).
[449] 445. In Ermangelung eines in der Verordnung Nr. 17 ausdrücklich verankerten Rechts zur Verweigerung der Aussage ist zu prüfen, ob sich nicht aus dem Erfordernis der Wahrung der Rechte der Verteidigung, das der Gerichtshof als fundamentalen Grundsatz der Gemeinschaftsrechtsordnung angesehen hat, Beschränkungen der Untersuchungsbefugnisse der Kommission während der Voruntersuchung ergeben (Urteil Orkem/Kommission, Randnr. 32).
[450] 446. Die Rechte der Verteidigung müssen in Verfahren, die zu Sanktionen führen können, beachtet werden, doch muß auch verhindert werden, daß diese Rechte in nichtwiedergutzumachender Weise in Voruntersuchungsverfahren beeinträchtigt werden, die von entscheidender Bedeutung für den Nachweis rechtswidriger Verhaltensweisen von Unternehmen sein können (Urteile Orkem/Kommission, Randnr. 33, und Société générale/Kommission, Randnr. 73).
[451] 447. Um die praktische Wirksamkeit des Artikels 11 Absätze 2 und 5 der Verordnung Nr. 17 zu sichern, kann die Kommission das Unternehmen jedoch verpflichten, ihr alle erforderlichen Auskünfte über ihm eventuell bekannte Tatsachen zu erteilen und ihr erforderlichenfalls die in seinem Besitz befindlichen Schriftstücke, die sich hierauf beziehen, zu übermitteln, selbst wenn sie dazu verwendet werden können, den Beweis für ein wettbewerbswidriges Verhalten des Betreffenden oder eines anderen Unternehmens zu erbringen (Urteile Orkem/Kommission, Randnr. 34, vom 18. Oktober 1989, Solvay/Kommission und Société générale/Kommission, Randnr. 74).
[452] 448. Die Anerkennung eines Rechts auf uneingeschränkte Aussageverweigerung, das die Klägerinnen geltend machen, ginge tatsächlich über das hinaus, was für die Wahrung der Rechte der Verteidigung der Unternehmen erforderlich ist, und wäre eine nicht gerechtfertigte Behinderung der Kommission bei der Erfüllung der ihr durch Artikel 89 EG-Vertrag übertragenen Aufgabe, über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu wachen. Die Unternehmen haben sowohl bei ihren Antworten auf die Auskunftsverlangen als auch anschließend im Verwaltungsverfahren, wenn die Kommission die Eröffnung eines solchen gegebenenfalls beschließt, in jeder Hinsicht Gelegenheit, sich insbesondere zu den Schriftstücken, die sie vorlegen mußten, oder zu ihren Antworten auf Auskunftsverlangen der Kommission zu äußern.
[453] 449. Die Kommission darf jedoch durch eine Entscheidung über die Anforderung von Auskünften nicht die Verteidigungsrechte des Unternehmens beeinträchtigen. Sie darf daher dem Unternehmen nicht die Verpflichtung auferlegen, Antworten zu erteilen, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müßte, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat (Urteile Orkem/Kommission, Randnrn. 34 a. E. und 35, vom 18. Oktober 1989, Solvay/Kommission und Société générale/Kommission, Randnr. 74).
[454] 450. In diesem Rahmen ist das Vorbringen der Klägerinnen zu würdigen.
[455] 451. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die in den Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften enthaltenen Fragen, die von den Klägerinnen mit diesem Teil des Klagegrundes beanstandet werden, mit denen übereinstimmen, die der Gerichtshof in seinen Urteilen Orkem/Kommission und vom 18. Oktober 1989, Solvay/Kommission für nichtig erklärt hat. Auch diese Fragen sind deshalb rechtswidrig.
[456] 452. Aus den Akten ergibt sich jedoch, wie die Kommission hervorgehoben hat, daß die Unternehmen entweder eine Beantwortung dieser Fragen abgelehnt oder die Tatsachen geleugnet haben, über die sie befragt wurden.
[457] 453. Unter diesen Umständen hat die Rechtswidrigkeit der betreffenden Fragen keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit der Entscheidung.
[458] 454. Tatsächlich haben die Klägerinnen weder eine Antwort anführen können, die sie gerade auf diese Fragen gegeben hätten, noch mitgeteilt, welchen Gebrauch die Kommission von diesen Antworten in der Entscheidung gemacht haben soll.
[459] 455. Zweitens ist ein Unternehmen anders als bei den Entscheidungen über die Anforderung von Auskünften zu einer Antwort auf Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 nicht verpflichtet.
[460] 456. Somit stand es den Unternehmen frei, auf Fragen, die ihnen aufgrund dieser Vorschrift gestellt wurden, zu antworten oder nicht. Daran ändert auch der Umstand nichts, daß in Artikel 15 Absatz 1 Buchstabe b der Verordnung Nr. 17 eine Sanktion vorgesehen ist. Eine solche Sanktion kann nur verhängt werden, wenn das Unternehmen, das sich zur Beantwortung bereit erklärt hat, unzutreffende Auskünfte gibt.
[461] 457. Daher erlegt die Kommission mit Auskunftsverlangen nach Artikel 11 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 einem Unternehmen nicht die Verpflichtung auf, Antworten zu geben, durch die es das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müßte, für die die Kommission den Beweis zu erbringen hat.
[462] 458. Drittens ist zu dem besonderen Argument von Enichem festzustellen, daß die Frage, ob die Kommission das ihr auferlegte Verbot beachtet hat, die Unternehmen nicht zur Erteilung von Antworten zu verpflichten, durch die sie das Vorliegen einer Zuwiderhandlung eingestehen müßten, nur im Hinblick auf die Art und den Inhalt der gestellten Fragen, nicht aber auf die Anhaltspunkte zu beurteilen ist, über die die Kommission vorher verfügte. Im übrigen hat der Gerichtshof im Urteil Hoechst/Kommission bezüglich einer Nachprüfungsentscheidung, die mit den an die anderen PVC-Hersteller gerichteten Entscheidungen vergleichbar ist, festgestellt, daß diese Entscheidung die in Artikel 14 Absatz 3 der Verordnung Nr. 17 vorgeschriebenen wesentlichen Angaben enthielt. Insbesondere hat er darauf hingewiesen, daß in dieser Entscheidung namentlich Informationen erwähnt wurden, die dafür sprachen, daß zwischen einigen PVC-Herstellern Vereinbarungen oder abgestimmte Verhaltensweisen bestanden und durchgeführt wurden, die möglicherweise gegen Artikel 85 EG-Vertrag verstießen (Urteil Hoechst/Kommission, Randnr. 42). Somit ist das Argument von Enichem zurückzuweisen.
[463] 459. Infolgedessen ist der Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
c) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen Artikel 20 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17
Vorbringen der Parteien
[464] 460. LVM, DSM, ICI, Hüls und Enichem verweisen darauf, daß nach Artikel 20 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 rechtmäßig gewonnene Informationen nur zu dem Zweck verwertet werden dürften, zu dem sie beschafft worden seien (Urteil Dow Benelux/Kommission, Randnrn. 17 und 18, und zu damit zusammenhängenden Fragen: Urteile des Gerichtshofes vom 16. Juli 1992 in der Rechtssache C-67/91, Asociación EspaÄnola de Banca Privada u. a., Slg. 1992, I-4785, Randnrn. 35 bis 39 und 42 bis 54, und vom 10. November 1993 in der Rechtssache C-60/92, Otto, Slg. 1993, I-5683, Randnr. 20).
[465] 461. Wenn die Kommission im Rahmen einer Untersuchung gesammelte Informationen als Anhaltspunkte für die Beurteilung der Frage verwenden dürfe, ob es angebracht sei, ein anderes Untersuchungsverfahren zu eröffnen (Dow Benelux/Kommission, Randnr. 19), könne sie diese Informationen jedoch nicht als Beweis für diese neue Zuwiderhandlung verwenden (Urteil Asociación EspaÄnola de Banca Privada u. a., Randnr. 42), für die sie andere Beweismittel finden müsse.
[466] 462. In folgendem Fall habe die Kommission bei den Ermittlungen in der Sache, die zum Erlaß der Entscheidung 86/398/EWG der Kommission vom 23. April 1986 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags (IV/31. 149 – Polypropylen) (ABl. L 230, S. 1) geführt habe, Schriftstücke aufgefunden, von denen einige später rechtswidrig als Beweise in der vorliegenden Sache verwandt worden seien. Im einzelnen handele es sich um die sogenannten "Planungsdokumente", ein Schriftstück mit der Bezeichnung "sharing the pain" [Teilung der Bürde] in den Anlagen 3 bzw. 6 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte und um einen Vermerk von ICI vom 15. April 1981 in der Anlage zum Schreiben der Kommission vom 27. Juli 1988. LVM und DSM machen geltend, daß es auch um Schriftstücke von DSM gehe.
[467] 463. Indem die Kommission diese Schriftstücke als Beweise in der vorliegenden Sache verwandt habe, habe sie folglich gegen Artikel 20 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 verstoßen.
[468] 464. Nach Ansicht von Enichem hat die Kommission damit auch gegen Artikel 14 Absätze 2 und 3 der Verordnung Nr. 17 verstoßen, da sie im Rahmen der Untersuchung des Polypropylen-Marktes Unterlagen gesammelt habe, die nicht von ihrem Prüfungsauftrag umfaßt gewesen seien.
[469] 465. Die Kommission macht im wesentlichen geltend, daß die streitigen Schriftstücke auf der Grundlage von PVC betreffenden Prüfungsaufträgen in die Akten des vorliegenden Verfahrens aufgenommen worden seien. Daher stehe der Verwendung dieser Unterlagen im vorliegenden Fall nichts entgegen.
Würdigung durch das Gericht
[470] 466. Vor der Prüfung der Begründetheit des Klagegrundes ist der Sachverhalt klarzustellen.
- Sachverhalt
[471] 467. Im vorliegenden Fall ist unstreitig, daß die Kommission die streitigen Schriftstücke im Rahmen der Untersuchung des Polypropylen-Sektors erlangt und als Beweise in der angefochtenen Entscheidung verwandt hat.
[472] 468. Ferner ergibt sich aus den Akten, daß die Kommission eine neue Kopie der streitigen Unterlagen im Rahmen von Prüfungsaufträgen verlangt hat, die sich vor allem auf PVC bezogen haben.
[473] 469. Die Planungsdokumente hat die Kommission im Rahmen einer späteren Nachprüfung auf der Grundlage eines insbesondere PVC betreffenden Prüfungsauftrags erneut kopiert.
[474] 470. Die Anlage 6 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte und den Vermerk von ICI vom 15. April 1981 hat die Kommission unter genauer Bezeichnung bei der Nachprüfung vom 23. November 1983 auf der Grundlage eines insbesondere PVC betreffenden Prüfungsauftrags noch einmal angefordert, wie ein Schreiben von ICI an die Kommission vom 16. März 1984 belegt. ICI kann sich nicht mit Erfolg darauf berufen, sich in diesem Schreiben trotz allem der Aufnahme dieser Unterlagen in die PVC-Akten widersetzt zu haben; aus diesem Schreiben ergibt sich vielmehr ausdrücklich, daß sein Verfasser eine neue Kopie freiwillig zu diesem Zweck übersandt hat.
[475] 471. Auf die Schriftstücke von DSM verweisen nur dieses Unternehmen und LVM. Jedoch hat sich weder anhand der Schriftsätze noch durch die in der mündlichen Verhandlung gestellten Fragen klären lassen, um welche Dokumente es sich handelt. Aus der Erwiderung dieser beiden Klägerinnen ergibt sich jedenfalls, daß die Kommission die streitigen Unterlagen erstmals im Rahmen der "Polypropylen-Sache" erhalten und sie im Dezember 1983 im Rahmen einer Nachprüfung in den Geschäftsräumen von DSM auf der Grundlage eines insbesondere PVC betreffenden Prüfungsauftrags erneut angefordert und erhalten hat.
- Zur Begründetheit des Klagegrundes
[476] 472. Nach den Artikeln 14 und 20 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 dürfen die bei Nachprüfungen erlangten Kenntnisse unstreitig nicht zu anderen als den im Prüfungsauftrag oder in der Nachprüfungsentscheidung angegebenen Zwecken verwendet werden. Dieses Verbot soll neben dem Berufsgeheimnis die Verteidigungsrechte der Unternehmen schützen. Diese Rechte würden nämlich in schwerwiegender Weise beeinträchtigt, wenn die Kommission gegenüber den Unternehmen bei einer Nachprüfung erlangte Beweise anführen könnte, die in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand und dem Zweck der Nachprüfung stehen (Urteile Dow Benelux/Kommission, Randnr. 18).
[477] 473. Dies bedeutet jedoch nicht, daß es der Kommission verwehrt wäre, ein Untersuchungsverfahren einzuleiten, um Informationen, die sie bei einer früheren Nachprüfung zufällig erlangt hat, auf ihre Richtigkeit zu überprüfen oder zu vervollständigen, wenn diese Informationen einen Hinweis auf Verhaltensweisen liefern, die gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrages verstoßen (Urteil Dow Benelux/Kommission, Randnr. 19).
[478] 474. Im übrigen steht fest (vgl. vorstehend, Randnrn. 467 bis 471), daß die Kommission sich nicht darauf beschränkt hat, die in einem anderen Verfahren erlangten Unterlagen von Amts wegen in das vorliegende Verfahren einzuführen, sondern diese Unterlagen im Rahmen von insbesondere PVC betreffenden Prüfungsaufträgen erneut angefordert hat.
[479] 475. Daraus folgt, daß es bei diesem Klagegrund nur um die Frage geht, ob die Kommission von Unterlagen, die sie in einem ersten Verfahren erlangt und als Indiz zur Rechtfertigung der Eröffnung eines anderen Verfahrens verwendet hat, auf der Grundlage eines Prüfungsauftrags oder einer Entscheidung, die dieses zweite Verfahren betreffen, erneut eine Kopie anfordern und diese Unterlagen dann als Beweismittel in diesem zweiten Verfahren verwenden darf.
[480] 476. Da die Kommission diese Unterlagen auf der Grundlage von insbesondere PVC betreffenden Aufträgen oder Entscheidungen gemäß Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 erneut erlangt und sie zu dem in diesen Aufträgen oder Entscheidungen angegebenen Zweck verwendet hat, hat sie die Rechte der Unternehmen, wie sie sich aus dieser Bestimmung ergeben, beachtet.
[481] 477. Die Tatsache, daß die Kommission die Unterlagen in einer bestimmten Rechtssache zum ersten Mal erlangt hat, begründet keinen uneingeschränkten Schutz, der so weit ginge, daß diese Unterlagen nicht in einer anderen Rechtssache rechtmäßig angefordert und als Beweise verwendet werden könnten. Andernfalls würden die Unternehmen, wie die Kommission ausgeführt hat, bei einer Nachprüfung in einem ersten Verfahren dazu verleitet, sämtliche Unterlagen, die den Nachweis für eine andere Zuwiderhandlung liefern könnten, vorzulegen, um sich dadurch vor einer Verfolgung dieser anderen Zuwiderhandlung zu schützen. Eine solche Lösung ginge über das hinaus, was zum Schutz des Berufsgeheimnisses und der Verteidigungsrechte notwendig ist, und würde die Kommission in unzulässiger Weise bei der Erfüllung ihrer Aufgabe behindern, über die Einhaltung der Wettbewerbsregeln im Gemeinsamen Markt zu wachen.
[482] 478. Nach alledem ist der Klagegrund zurückzuweisen.
d) Zu dem Klagegrund, mit dem geltend gemacht wird, daß die Weigerung, auf Auskunftsverlangen zu antworten oder Unterlagen vorzulegen, nicht als Beweis gewertet werden dürfe
Vorbringen der Parteien
[483] 479. Elf Atochem und BASF sind der Ansicht, daß die Kommission die Tatsache, daß sie auf Auskunftsverlangen nicht geantwortet oder keine Unterlagen vorgelegt hätten, nicht als Beweis für die Zuwiderhandlung oder ihre Beteiligung an dieser werten dürfe. Dies gelte erst recht deshalb, weil für diese Weigerung objektive Gründe bestanden hätten.
[484] 480. Für die Kommission bietet die Entscheidung keine Grundlage für dieses Vorbringen.
Würdigung durch das Gericht
[485] 481. Bei der Prüfung dieses Klagegrundes ist zwischen dem Nachweis der Zuwiderhandlung und dem der Beteiligung bestimmter Unternehmen daran zu unterscheiden.
- Nachweis der Zuwiderhandlung
[486] 482. Die Kommission hat zwar unmittelbar oder mittelbar darauf hingewiesen, daß die Unternehmen die Beantwortung bestimmter Fragen abgelehnt hätten (Entscheidung, Randnrn. 6 a. E., 8 a. E., 9, dritter Absatz, 14, erster Absatz, 16, erster Absatz, 18, erster Absatz, 20, dritter und vierter Absatz, 26, dritter und fünfter Absatz, 37, zweiter Absatz), doch hat sie diesen Umstand in der Entscheidung nicht als Beweis für die Zuwiderhandlung gewertet.
[487] 483. Tatsächlich hat sie in diesen einzelnen Punkten nur darauf hingewiesen, daß sie von den Unternehmen nicht die verlangten Auskünfte habe erhalten können und sich daher auf andere Umstände zum Nachweis der Zuwiderhandlung habe stützen, insbesondere in stärkerem Maße Schlußfolgerungen aus den ihr zur Verfügung stehenden Informationen habe ziehen müssen.
[488] 484. Somit ist dieser Teil des Klagegrundes nicht begründet.
- Nachweis der Beteiligung an der Zuwiderhandlung
[489] 485. Da es nur um die Frage der Beteiligung der Unternehmen an dem angeblichen Kartell geht, kann eine Klägerin nicht die Beweise in Zweifel ziehen, die dem Nachweis der Beteiligung anderer Unternehmen an der Zuwiderhandlung dienen. Die Prüfung des Klagegrundes beschränkt sich somit auf die Untersuchung, ob die Kommission als Beweis für die Teilnahme von ICI und Elf Atochem die Tatsache gewertet hat, daß diese es abgelehnt haben oder nicht in der Lage waren, die Auskunftsverlangen zu beantworten.
[490] 486. Auch wenn die Klägerinnen nicht die Stellen in der Entscheidung haben benennen können, aus denen hervorgehen soll, daß die Kommission ihre Weigerung, auf Auskunftsverlangen zu antworten, als Beweis für ihre Beteiligung an der angeblichen Zuwiderhandlung gewertet hat, ergibt sich aus Randnummer 26, erster Absatz a. E., der Entscheidung doch, daß "die Kommission auch die von jedem Hersteller gespielte Rolle und die Beweise für die Beteiligung der einzelnen Unternehmen an dem Kartell berücksichtigt [hat]. Den einzelnen Herstellern wurden im Laufe des Verwaltungsverfahrens die näheren Angaben mitgeteilt."
[491] 487. Diese Angaben enthalten die mit "Individuelle Besonderheiten" überschriebenen Unterlagen in der Anlage zur Mitteilung der Beschwerdepunkte.
[492] 488. Im Fall von Elf Atochem heißt es im Abschnitt "Hauptsächliche Nachweise für die Beteiligung an der Zuwiderhandlung" in dem entsprechenden Schriftstück: "[Das Unternehmen] lehnt es ab, Angaben nach Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 zu seiner Beteiligung [an den] Sitzungen zu machen."
[493] 489. Die Weigerung oder die Unmöglichkeit, auf Auskunftsverlangen zu antworten, kann als solche keinen Nachweis für die Beteiligung eines Unternehmens an einem Kartell darstellen.
[494] 490. Bei der Beurteilung der Frage der Beteiligung von Elf Atochem an dem Kartell ist daher dieser von der Kommission angeführte Umstand unberücksichtigt zu lassen.
[495] 491. Im Fall von ICI fehlt ein ähnlicher Hinweis in den "Individuellen Besonderheiten". Da es keinen Hinweis gibt, daß die Kommission die Tatsache, daß dieses Unternehmen eine Antwort auf Auskunftsverlangen abgelehnt hat oder nicht geben konnte, als Beweis für die Beteiligung an dem Kartell gewertet hat, ist der Klagegrund, soweit er von ICI geltend gemacht wird, als unbegründet zurückzuweisen.
e) Zum Klagegrund der fehlenden Übermittlung von Schriftstücken
Vorbringen der Parteien
[496] 492. Wacker und Hoechst machen erstens geltend, daß die Auszüge aus der Fachpresse zwar in der Liste der Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte aufgeführt, aber nicht beigefügt gewesen seien und daher nicht gegen sie verwandt werden könnten. Zweitens sei der Vermerk von ICI vom 15. April 1981, auf den sich die Kommission berufe, weder in der Mitteilung der Beschwerdepunkte erwähnt noch dieser beigefügt gewesen. In der Erwiderung machen sie geltend, daß dieser Vermerk ihnen niemals mitgeteilt worden sei.
[497] 493. Nach Ansicht von Hüls kann der Vermerk von ICI vom 15. April 1981 nicht als ein zulässiger Beweis angesehen werden, da er der Mitteilung der Beschwerdepunkte nicht beigefügt gewesen sei.
[498] 494. Außerdem dürfe die Anlage 15 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte über die Verkäufe der vier deutschen Hersteller im ersten Quartal 1984 und im gesamten Jahr 1984 im Verfahren nicht berücksichtigt werden, da sie auf der Grundlage von Angaben erstellt worden sei, die nicht mitgeteilt worden seien (Urteil AEG/Kommission, Randnr. 30).
[499] 495. Die Kommission trägt vor, die Auszüge aus der Fachpresse seien der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt gewesen. Wenn der Vermerk von ICI vom 15. April 1981 dieser Mitteilung nicht beigefügt gewesen sei, sei er den Parteien doch am 28. Juli 1988 mitgeteilt worden. Es lasse sich daraus also nichts für die Frage der Rechtmäßigkeit der Entscheidung herleiten. Soweit Wacker und Hoechst die fehlende Mitteilung dieses Schriftstücks rügten, sei dieses Angriffsmittel nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung unzulässig.
Würdigung durch das Gericht
[500] 496. Erstens waren die Auszüge aus der Fachpresse offensichtlich Teil der Mitteilung der Beschwerdepunkte (Sonderanlage mit der Überschrift: "Bekannte Preisinitiativen"). Auch wenn Wacker und Hoechst sie dennoch nicht erhalten haben sollten, handelte es sich dabei doch naturgemäß um allgemein zugängliche Schriftstücke. Daher kann die fehlende Übermittlung dieser Schriftstücke, selbst wenn sie bewiesen wäre, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht beeinträchtigen.
[501] 497. Zweitens gibt es keine Bestimmung, die es der Kommission verböte, den Parteien nach der Übersendung der Mitteilung der Beschwerdepunkte neue Schriftstücke zu übermitteln, in denen sie eine Stütze für ihr Vorbringen sieht, sofern sie den Unternehmen die erforderliche Zeit einräumt, sich hierzu zu äußern (Urteil AEG/Kommission, Randnr. 29). Daher kann die Tatsache allein, daß ein Schriftstück in der Mitteilung der Beschwerdepunkte weder erwähnt noch dieser beigefügt ist, die Rechtmäßigkeit der Entscheidung nicht beeinträchtigen. Zudem behaupten die Klägerinnen nicht, daß sie, nachdem die Kommission ihnen eine Kopie dieses Schriftstücks mit Schreiben vom 27. Juli 1988 übersandt und dabei auf seine Bedeutung für die behauptete Quotenregelung hingewiesen hatte, nicht in der Lage gewesen seien, gebührend hierzu Stellung zu nehmen. Tatsächlich hatten sie die Möglichkeit, sich sowohl schriftlich als auch mündlich dazu zu äußern.
[502] 498. Soweit, drittens, dieser Klagegrund darauf gestützt wird, daß dieses Schriftstück Wacker und Hoechst niemals mitgeteilt worden sei, handelt es sich um ein neues Angriffsmittel im Rahmen der Erwiderung. Da nicht vorgetragen worden ist, daß es auf rechtliche oder tatsächliche Gründe gestützt sei, die erst während des Verfahrens zutage getreten seien, ist es nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung für unzulässig zu erklären.
[503] 499. Viertens stellt die Anlage 15 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte kein selbständiges Beweismittel dar, sondern gibt, wenn auch in gedrängter Form, die Grundlagen der Berechnung wieder, die die Kommission zur Bekräftigung ihrer Schlußfolgerungen aus dem Anhang 10 durchgeführt hat. Diese Schlußfolgerungen wurden in der Mitteilung der Beschwerdepunkte vollständig dargelegt, und die Klägerin konnte sich dazu rechtzeitig äußern. Selbst wenn diese Anlage 15 unzulässig sein sollte, weil sie keine ausreichenden Informationen enthielt, müßte das Gericht jedenfalls die Stichhaltigkeit der Schlußfolgerungen prüfen, die die Kommission in Randnummer 14 der Entscheidung aus der Anlage 10 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte gezogen hat.
[504] 500. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
f) Zum Klagegrund der verspäteten Übermittlung der Schriftstücke
Vorbringen der Parteien
[505] 501. BASF trägt vor, daß die Anlage 3 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die ein ganz wesentliches belastendes Beweismittel darstelle, ihr erst bei der Anhörung am 6. September 1988 vollständig übermittelt worden sei. Trotz entsprechenden Antrags bei dieser Anhörung sei ihr daher unter Verstoß gegen die Artikel 3, 4 und 7 der Verordnung Nr. 99/63 keine Möglichkeit zu einer Stellungnahme hierzu gegeben worden.
[506] 502. Die Kommission macht geltend, dieser Klagegrund betreffe nicht die Anlage 3 selbst, sondern die unleserlichen handschriftlichen Notizen darauf. Von diesen Notizen habe die Klägerin hinreichend Kenntnis gehabt.
Würdigung durch das Gericht
[507] 503. Unstreitig waren die Schriftstücke, die die Anlage 3 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte darstellen, der der Klägerin am 5. April 1988 übersandten Mitteilung beigefügt. Der Klagegrund beschränkt sich somit auf die angeblich verspätete Übermittlung der Transkription der unleserlichen handschriftlichen Notizen auf den vier Seiten, aus denen diese Anlage besteht.
[508] 504. Ebenso ist unstreitig, daß die Klägerin eine vollständige Transkription der handschriftlichen Notizen erst am 6. September 1988 bei der Anhörung erhalten hat.
[509] 505. Die einzige handschriftliche Notiz, auf die sich die Kommission in der Entscheidung hat berufen wollen, ist jedoch in der Anlage zur Mitteilung der Beschwerdepunkte zu den bekannten Preisinitiativen ausführlich wiedergegeben. Somit hatte die Klägerin in jeder Hinsicht Gelegenheit, sich hierzu zu äußern.
[510] 506. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
[511] 507. Nach alledem sind die Klagegründe, mit denen die Unzulässigkeit der Beweise, die die Kommission gegen die Klägerinnen herangezogen hat, geltend gemacht wird, unbeschadet der vorstehenden Randnummer 490 zurückzuweisen.
2. Zur Beweisführung
[512] 508. Die Argumentation der Klägerinnen hierzu umfaßt im wesentlichen zwei Klagegründe oder Gruppen von Klagegründen. Zum einen bestreiten sie den Beweiswert bestimmter Arten von Beweismitteln, die die Kommission gegen sie anführt, zum anderen rügen sie, daß die Kommission die Grundsätze der Beweiserhebung verletzt habe.
a) Zum Klagegrund des fehlenden Beweiswerts bestimmter von der Kommission angeführter Gruppen von Beweisen
Vorbringen der Parteien
[513] 509. Nach Ansicht von LVM und DSM darf nach den Grundsätzen des niederländischen Strafverfahrens und nach dem Recht auf ein faires Verfahren (fair trial) im Sinne des Artikels 6 MRK (EuGHMR, Urteil Kostovski vom 20. November 1989, Serie A, Nr. 166, Randnrn. 39 und 44, und indirekt Urteile des Gerichts vom 17. Dezember 1991 in der Rechtssache T-4/89, BASF/Kommission, Slg. 1991, II-1523, Randnrn. 64 bis 72, und in der Rechtssache T-6/89, Enichem Anic/Kommission, Slg. 1991, II-1623, Randnrn. 69 bis 73) der Nachweis belastender Tatsachen nicht ausschließlich auf Erklärungen des Angeschuldigten oder auf Erklärungen anderer beschuldigter Unternehmen, die grundsätzlich als verdächtig gälten, so daß sie nur ihrem Verfasser entgegengehalten werden dürften, oder auf "offiziöse" Schreiben gestützt werden, deren Glaubwürdigkeit und Echtheit naturgemäß ungewiß seien.
[514] 510. Daher sei im vorliegenden Fall die Entscheidung für nichtig zu erklären, soweit sie ausschließlich auf solche Unterlagen und nicht auf zulässige Beweismittel gestützt sei.
[515] 511. Die Kommission hält dem entgegen, die Bestimmungen des niederländischen Strafrechts und die unangemessen weite Auslegung des Urteils Kostovski seien für die Anwendung der gemeinschaftsrechtlichen Wettbewerbsregeln nicht einschlägig. Sie nähmen den Artikeln 11 und 14 der Verordnung Nr. 17 jede praktische Bedeutung.
Würdigung durch das Gericht
[516] 512. Erstens gibt es keine Bestimmung und keinen allgemeinen gemeinschaftsrechtlichen Grundsatz, die es der Kommission verbieten, sich auf Auskünfte und Schriftstücke wie die von den Klägerinnen angeführten zu berufen. Zweitens wäre, würde man der Ansicht der Klägerinnen folgen, die der Kommission obliegende Beweislast für Verhaltensweisen, die gegen die Artikel 85 und 86 EG-Vertrag verstoßen, nicht tragbar und mit der durch den Vertrag der Kommission übertragenen Aufgabe der Überwachung der richtigen Anwendung dieser Bestimmungen unvereinbar.
[517] 513. Die Klägerinnen berufen sich zur Stützung ihrer Auffassung zu Unrecht auf die Urteile BASF/Kommission und Enichem Anic/Kommission. Aus der Begründung dieser von den Klägerinnen genannten Urteile ergibt sich nämlich, daß das Gericht keineswegs den Beweiswert von Erklärungen der Unternehmen grundsätzlich verneint hat, sondern festgestellt hat, daß in diesem Fall die angeführten Schriftstücke nicht den Sinn und die Bedeutung hatten, die ihnen die Kommission beigemessen hatte.
[518] 514. Somit gehen die von den Klägerinnen angeführten Klagegründe in der Frage auf, ob die Kommission ihre Tatsachenfeststellungen mit den von ihr vorgelegten Beweismitteln belegen kann.
b) Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen die Regeln der Beweisführung
Vorbringen der Parteien
[519] 515. LVM, Elf Atochem, BASF, DSM, Wacker, Hoechst und ICI machen als besondere Klagegründe geltend, daß die Kommission gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung und gegen die ihr obliegende Beweispflicht verstoßen habe.
[520] 516. Die durch Artikel 6 MRK garantierte Unschuldsvermutung sei ein allgemeiner Grundsatz des Gemeinschaftsrechts und finde im Rahmen der Artikel 85 und 86 EG-Vertrag volle Anwendung (Urteile des Gerichtshofes, ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 153, vom 21. Februar 1973 in der Rechtssache 6/72, Europemballage und Continental Can/Kommission, Slg. 1973, 215, vom 16. Dezember 1975 in den Rechtssachen 40/73 bis 48/73, 50/73, 54/73, 55/73, 56/73, 111/73 und 114/73, Suiker Unie u. a./Kommission, Slg. 1975, 1663, Randnr. 301, und vom 28. März 1984 in den Rechtssachen 29/83 und 30/83, CRAM und Rheinzink/Kommission, Slg. 1984, 1679; Urteile BASF/Kommission, Randnrn. 70 und 71, und Enichem Anic/Kommission, Randnr. 70).
[521] 517. Unabhängig von den praktischen Schwierigkeiten, auf die die Kommission bei der Beweiserhebung stoße, obliege ihr daher die Beweislast für eine angebliche Zuwiderhandlung als Ausgleich für die ihr eingeräumten weiten Untersuchungsbefugnisse (Urteile Hoechst/Kommission und Dow Benelux/Kommission).
[522] 518. Die Kommission könne sich dabei nicht auf Behauptungen, Vermutungen oder Schlußfolgerungen beschränken. Sie müsse schwerwiegende, klare und schlüssige Indizien anführen (z. B. Urteil Europemballage und Continental Can/Kommission, Randnrn. 31 bis 37, United Brands/Kommission, Randnrn. 264 bis 267, und Suiker Unie u. a./Kommission, Randnr. 166; Schlußanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn, Musique Diffusion française u. a./Kommission, Slg. 1983, 1914, und Urteil des Gerichtshofes vom 31. März 1993 in den Rechtssachen C-89/85, C-104/85, C-114/85, C-116/85, C-117/85 und C-125/85 bis C-129/85, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1307; im übrigen müsse ein unmittelbarer Kausalzusammenhang zwischen den Tatsachen und den daraus gezogenen Schlußfolgerungen bestehen, die objektiv über vernünftige Zweifel erhaben sein müßten (Urteil des Gerichtshofes vom 30. Juni 1966 in der Rechtssache 56/65, LTM, Slg. 1966, 281, 305 f.).
[523] 519. Dagegen müßten Zweifel zugunsten der Unternehmen sprechen, denen eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EG-Vertrag vorgeworfen werde. Im übrigen müßten die Unternehmen die Behauptungen der Kommission nicht unbedingt entkräften, sondern lediglich dartun, daß sie ungesichert und unzureichend bewiesen seien (Schlußanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn, Musique diffusion française, u. a./Kommission, Slg. 1983, 1931). Andernfalls träfe die Unternehmen eine unzulässige Beweislastumkehr; sie müßten den negativen Beweis ihrer Nichtbeteiligung am Kartell erbringen und wären damit zu einer "probatio diabolica" gezwungen.
[524] 520. Im vorliegenden Fall habe die Kommission gegen diese Prinzipien und Regeln verstoßen.
[525] 521. Die Kommission hat nach Ansicht von LVM und DSM keineswegs Tatsachen bewiesen, sondern lediglich angeführt, was sie als mittelbare Beweise betrachte, was aber in Wirklichkeit nur Behauptungen, Vermutungen oder Folgerungen seien (z. B. Randnrn. 9, 16, 20 und 23 der Entscheidung).
[526] 522. Elf Atochem macht geltend, die Kommission, die die Untauglichkeit der Beweise kenne, über die sie verfüge (Randnrn. 31 und 38 der Entscheidung), habe weder die Richtigkeit der Daten, auf die sie ihre Analyse stütze, noch die Begründetheit ihrer Würdigung dargetan. In Wirklichkeit habe sie das Vorliegen eines Gesamtplans und aufgrund von Sitzungen zwischen einigen Herstellern, über deren Zweck sie zugestandenermaßen keine Informationen besitze, die Durchführung eines solchen Plans behauptet, dessen Grundlage die 1980 bei ICI entdeckten Vorschläge seien. Die Kommission habe jedoch weder die Beteiligung jedes einzelnen Herstellers an dem, was sie als "gemeinsame Initiativen" bezeichne, noch den einheitlichen Willen der Unternehmen nachweisen können, denen sie die gemeinsame Durchführung einer Zuwiderhandlung vorwerfe.
[527] 523. Nach Ansicht von BASF beruht die Beweisführung der Kommission auf einem "Zirkelschluß". So gehe die Kommission zunächst von einem bestimmten Beweisgehalt der vorliegenden Beweismittel aus und verwende dann dieselben Beweismittel, um den Nachweis zu führen, daß sie den ihnen schon von vornherein zugeschriebenen Beweisgehalt hätten. Dies sei eine unzulässige Beweislastumkehr. Ebenso unzulässig sei es, aus dem Fehlen belastender Schriftstücke, z. B. über die Sitzungen der Hersteller, eine Schuldvermutung zu konstruieren. Das Fehlen von Unterlagen sei im übrigen angesichts des zwischen den ersten Ermittlungen und der Mitteilung der Beschwerdepunkte verstrichenen Zeitraums unvermeidlich.
[528] 524. Wacker und Hoechst machen geltend, die Kommission habe durch eine mißbräuchliche Ausnutzung des Indizienbeweises gegen die Regeln über die Beweisführung verstoßen. Sie habe ihre Argumentation so aufgebaut, daß sie aus den Ausführungshandlungen auf das Vorhandensein einer Grundvereinbarung schließe und umgekehrt, ohne aber jemals das Vorliegen einer solchen Vereinbarung oder solcher Handlungen zu beweisen.
[529] 525. Nach Ansicht von SAV hat die Kommission, obwohl sie eingeräumt habe, über keine entscheidenden Beweise für die Teilnahme bestimmter Unternehmen, darunter der Klägerin, an dem Kartell zu verfügen, einen solchen Nachweis aus der Beteiligung jedes angeblichen Teilnehmers "an dem Kartell insgesamt" hergeleitet. Die Kommission habe sich in Wirklichkeit darauf beschränkt, die Beteiligung aller Unternehmen aus der Beteiligung einiger weniger abzuleiten (Randnr. 25 der Entscheidung). Daher seien die drei Beweise, die die individuelle Beteiligung von SAV belegen sollten, ohne Beweiswert.
[530] 526. ICI macht geltend, daß die Beweise im vorliegenden Fall nicht ausreichten, um die Tatsachenbehauptungen der Kommission überzeugend zu belegen. Dies gelte für den Gegenstand der Sitzungen und die dabei von den Herstellern eingegangenen Verpflichtungen (Randnr. 9, dritter und vierter Absatz, der Entscheidung), für die Durchführung einer "Quoten" – und Preisregelung, für die Folgerung, daß die Preise auf einer Abstimmung beruhten, oder auch für den Kausalzusammenhang zwischen den Planungsdokumenten und den späteren Feststellungen der Kommission hierzu (Randnrn. 24, zweiter Absatz, und 30, zweiter Absatz, der Entscheidung).
[531] 527. Jedenfalls genügten diese Tatsachenbehauptungen nicht, um die rechtlichen Folgerungen zu rechtfertigen, die die Kommission hieraus sowohl in bezug auf das Bestehen einer Vereinbarung oder einer abgestimmten Verhaltensweise als auch in bezug auf die Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten ziehe (Urteil United Brands/Kommission, Randnrn. 248 bis 267, und Schlußanträge des Generalanwalts Sir Gordon Slynn, Musique diffusion française/Kommission, Slg. 1983, 1930 f.).
[532] 528. Hüls trägt vor, die Kommission habe ohne jede Erklärung in der angefochtenen Entscheidung etwas als feststehend qualifiziert, was in dem Schreiben der Kommission vom 24. November 1987, mit dem die Klägerin um Auskünfte gebeten worden sei, erst bloße Wahrscheinlichkeiten gewesen seien. In Wirklichkeit sei die Kommission seit dem Auskunftsverlangen von der vorgefaßten Meinung ausgegangen, daß die Klägerin gegen Artikel 85 des Vertrages verstoßen habe.
[533] 529. Die Kommission hält dem im wesentlichen entgegen, daß sie nicht gegen ihre Beweispflicht verstoßen habe. Nach ihrer Meinung verfügt sie über hinreichende Beweise für die Feststellung einer Zuwiderhandlung (Randnr. 23 der Entscheidung). Falls diese Feststellung falsch sei, sei dies bei der Begründetheit zu prüfen. Insbesondere seien mittelbare Beweise zulässig (namentlich Urteile vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnrn. 64 bis 68, CRAM und Rheinzink/Kommission, Randnrn. 16 bis 20, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 71). Dies sei im übrigen unerläßlich, da sich die europäischen Wirtschaftskreise zunehmend der Bedeutung des Wettbewerbsrechts bewußt würden. Im übrigen dürften die Beweise nicht isoliert, sondern müßten zusammen gesehen werden (Urteile vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnr. 68, CRAM und Rheinzink/Kommission, Randnr. 20, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 163), und die individuellen Beweise dürften nicht aus ihrem Zusammenhang herausgelöst werden (Urteil SIV u. a./Kommission, Randnrn. 91 bis 94).
Würdigung durch das Gericht
[534] 530. Die Prüfung dieses Klagegrundes geht in die Prüfung des auch von diesen gleichen Klägerinnen erhobenen Klagegrundes ein, mit dem sie offenkundige Fehler bei der Beurteilung des Sachverhalts rügen, die die Kommission beim Nachweis des Vorliegens der Zuwiderhandlung und der Beteiligung der Unternehmen daran begangen habe.
[535] 531. Somit ist der vorliegende Klagegrund später zu untersuchen, um ihn gleichzeitig mit den anderen materiell-rechtlichen Klagegründen zu prüfen.
B – Zum Vorliegen eines Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag
[536] 532. Sämtliche Klägerinnen ziehen die Sachverhaltswürdigung der Kommission in Zweifel. Nur SAV bestreitet lediglich ihre Teilnahme an dem angeblichen Kartell mit der Begründung, daß sie von diesem keine Kenntnis gehabt habe. Zum Nachweis dafür, daß sie an diesem Kartell nicht beteiligt gewesen sei, bestreitet sie jedoch auch, zumindest teilweise, die von der Kommission festgestellten Tatsachen. Die letztgenannten Einwände sind daher an dieser Stelle zu prüfen.
[537] 533. Darüber hinaus beanstanden die Klägerinnen die rechtliche Qualifizierung des Sachverhalts durch die Kommission.
[538] 534. Zunächst sind die tatsächlichen und anschließend die rechtlichen Einwände zu prüfen.
1. Zum Sachverhalt
Zusammenfassung der Entscheidung
[539] 535. In dem mit "Sachverhalt" überschriebenen ersten Teil der Entscheidung hat die Kommission in einem ersten einleitenden Abschnitt die Unternehmen bezeichnet, die von der Entscheidung betroffen sind, und insbesondere das in Rede stehende Erzeugnis, den PVC-Markt und die in diesem Bereich bestehende Überkapazität beschrieben.
[540] 536. In einem zweiten Abschnitt ist sie auf die Zuwiderhandlung eingegangen, indem sie nacheinander folgende fünf Aspekte geprüft hat: den Ursprung des Kartells (Randnr. 7 der Entscheidung), die Sitzungen der Hersteller (Randnrn. 8 und 9), das Quotensystem (Randnrn. 10 bis 14), die Überprüfung der Verkäufe auf den nationalen Märkten (Randnrn. 15 und 16) sowie die Zielpreise und Preisinitiativen (Randnrn. 17 bis 22).
[541] 537. Bezüglich des Ursprungs des Kartells hat sich die Kommission im wesentlichen auf zwei Schriftstücke gestützt, die in den Geschäftsräumen von ICI gefunden wurden und der Mitteilung der Beschwerdepunkte als Anlage 3 beigefügt waren (nachstehend: Planungsdokumente). Diese beiden Schriftstücke, von denen das erste mit "checklist" und das zweite mit "response to proposals" überschrieben ist, stellen nach Ansicht der Kommission den Plan für ein Kartell dar.
[542] 538. Bezüglich der Herstellersitzungen hat die Kommission sich insbesondere auf die Antworten einzelner Hersteller auf die Auskunftsverlangen gestützt, die sie während des Vorverfahrens an diese gerichtet hatte.
[543] 539. Bei den Quotenregelungen hat die Kommission den den Unternehmen zur Last gelegten Sachverhalt auf der Grundlage mehrerer Schriftstücke beschrieben. So hat sie sich auf drei als Anlagen 6, 7 und 9 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügte Schriftstücke bezogen, aus denen sich ihrer Meinung nach ergibt, daß die PVC-Hersteller eine Ausgleichsregelung zur Verstärkung einer Quotenregelung eingeführt hätten. Das erste Schriftstück mit der Überschrift "sharing the pain" ist ein in den Geschäftsräumen von ICI aufgefundenes handschriftliches Dokument, das zweite Schriftstück stammt von ICI, wurde aber bei einem dritten Hersteller gefunden (nachstehend: Alcudia-Dokument), und das letzte ist ein internes Schriftstück von DSM, das in den Geschäftsräumen dieses Unternehmens gefunden wurde (nachstehend: DSM-Dokument). Die Kommission hat sich auch auf zwei weitere Schriftstücke gestützt, nämlich einen in den Geschäftsräumen von ICI gefundenen Vermerk vom 15. April 1981, der die Abschrift einer Mitteilung des Generaldirektors des petrochemischen Geschäftsbereichs von Montedison darstellt (nachstehend: Vermerk vom 15. April 1981; den Klägerinnen von der Kommission mit Schreiben vom 27. Juli 1988 mitgeteilt), und eine in den Geschäftsräumen von Atochem gefundene Tabelle (nachstehend: Atochem-Tabelle; Anlage 10 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte).
[544] 540. Bezüglich der Regelungen zur Überwachung der Verkäufe, die vorsahen, daß sich die "inländischen" Hersteller auf den wichtigsten nationalen Märkten gegenseitig über die Mengen unterrichteten, die sie auf jedem Markt abgesetzt hatten, hat sich die Kommission hauptsächlich auf eine Reihe von Tabellen gestützt, die in den Geschäftsräumen von Solvay gefunden wurden (nachstehend: Solvay-Tabellen) und die als Anlagen 20 bis 40 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren. Die Kommission hat weiter auf die Antworten von Solvay vom 25. Februar 1988 und von Shell vom 3. Dezember 1987 auf die Auskunftsverlangen Bezug genommen. Diese Antworten waren der Mitteilung der Beschwerdepunkte als Anlagen 41 und 42 beigefügt.
[545] 541. Bei den Preisinitiativen hat sich die Kommission im wesentlichen auf die internen Unterlagen mehrerer PVC-Hersteller gestützt, die als Anlagen P1 bis P70 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren, sowie auf Artikel der Fachpresse aus der Zeit von 1980 bis 1984, die als unnumerierte Anlagen der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren.
[546] 542. Schließlich hat die Kommission in einem dritten Abschnitt Feststellungen namentlich zum Nachweis für das Bestehen eines Kartells getroffen (Randnrn. 23 und 24 der Entscheidung). Dort heißt es: "Die in diesem Fall vorliegende Zuwiderhandlung zeichnet sich dadurch aus, daß jegliche Entscheidung weitgehend auf durch die Umstände bedingte Beweise gestützt werden muß. Das Bestehen eines eine Zuwiderhandlung gemäß Artikel 85 darstellenden Sachverhalts wird möglicherweise, zumindest teilweise, durch eine logische Ableitung aus anderen bewiesenen Fakten zu belegen sein" (Randnr. 23 der Entscheidung). Nach der Aufzählung der ihr zur Verfügung stehenden Hauptbeweise führt die Kommission aus, "daß die direkten und aus den Umständen abgeleiteten Beweise im vorliegenden Fall zusammen zu berücksichtigen sind … Unter Berücksichtigung dieser Erwägung verstärken die einzelnen Beweismittel einander hinsichtlich des betreffenden Sachverhalts und führen zu der Schlußfolgerung, daß auf dem PVC-Markt ein Marktaufteilungs- und Preisfestsetzungskartell bestand" (Randnr. 24 der Entscheidung).
Vorbringen der Parteien
[547] 543. Nach Ansicht der Klägerinnen ist der Kommission der Nachweis der von ihr behaupteten Tatsachen nicht gelungen.
- Zum Ursprung des Kartells
[548] 544. Die Klägerinnen machen geltend, daß die Planungsdokumente ohne Beweiswert seien.
[549] 545. Erstens tragen BASF, DSM, Wacker, Hoechst, Hüls und Enichem vor, es sei nicht bewiesen, daß diese Schriftstücke PVC beträfen; die der Mitteilung der Beschwerdepunkte als Anlagen 1 und 2 beigefügten Schriftstücke sollten somit lediglich suggerieren, daß die Planungsdokumente, die in Anlage 3 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte enthalten seien, diesen Tätigkeitsbereich beträfen.
[550] 546. Zweitens ist nach Ansicht von BASF und Enichem nicht bewiesen, daß diese Schriftstücke andere Märkte als den britischen Markt beträfen.
[551] 547. Drittens machen BASF, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, Hüls und Enichem geltend, die "response to proposals" stelle keine Entgegnung auf die "checklist" dar. Das erste Schriftstück sei nämlich nach dem zweiten entstanden und die in der "response to proposals" behandelten Themen entsprächen nicht denen der "checklist". Keines der Planungsdokumente enthalte im übrigen eine Bezugnahme auf das andere. Schließlich könne die Tatsache, daß diese Schriftstücke bei ihrer Entdeckung miteinander verbunden gewesen seien, das Fehlen einer inhaltlichen Entsprechung nicht ausgleichen.
[552] 548. Viertens tragen BASF, DSM, Wacker, Hoechst, SAV, Hüls und Enichem vor, daß nicht bekannt sei, wer die Planungsdokumente erstellt habe und für wen sie bestimmt gewesen seien; somit sei nicht bewiesen, daß sie nicht nur die Ansichten verschiedener Angestellter von ICI wiedergäben oder daß sie an andere Unternehmen gerichtet oder diesen zur Kenntnis gebracht worden seien.
[553] 549. Fünftens gibt es nach Ansicht der Klägerinnen keinen Beweis für einen Zusammenhang zwischen diesen Dokumenten und den späteren restriktiven Vereinbarungen, die die Kommission als bewiesen ansehe.
[554] 550. Schließlich machen BASF und DSM geltend, daß die "checklist" sich zwar auf eine Sitzung vom 18. September 1980 – ohne weitere Angabe – beziehe, die Kommission aber nicht nachgewiesen habe, daß diese Sitzung stattgefunden habe, daß es sich nicht um eine rein interne Sitzung von ICI gehandelt habe, daß sie zur Prüfung der "checklist" stattgefunden habe oder daß sie zu Ergebnissen geführt habe.
- Zu den Herstellersitzungen
[555] 551. BASF verweist darauf, daß die Kommission weder Zeitpunkt noch Ort der Sitzungen angegeben habe.
[556] 552. Die Klägerinnen sind mit Ausnahme von Shell der Ansicht, daß die Kommission einen wettbewerbswidrigen Zweck dieser Sitzungen nicht nachgewiesen habe. Wenn die Kommission aus den Antworten der Unternehmen auf die Auskunftsverlangen auf den gesetzwidrigen Zweck der Sitzungen schließe, verstehe sie diese Antworten ohne Grund falsch. Aus den Antworten ergebe sich nämlich, daß die Hersteller allgemein die Entwicklung des PVC-Marktes erörtert hätten. Diese Erklärung sei durchaus plausibel, da die Branche sich seinerzeit in einer Krise befunden habe und umfangreiches Material den Wettbewerb auf dem Markt belege. Nach Ansicht von BASF kann die Kommission aus dem Fehlen von Protokollen dieser Sitzungen nicht auf deren Rechtswidrigkeit schließen.
[557] 553. LVM, BASF, DSM und Enichem tragen vor, daß sich zwischen diesen Herstellersitzungen und einem angeblichen Gesamtplan keine Verbindung herstellen lasse. Jedenfalls kann nach Ansicht von Hüls der angeblich wettbewerbswidrige Zweck der Sitzungen nicht anhand der Planungsdokumente bewiesen werden, da diese ohne Beweiswert seien.
- Zu den Quoten- und Ausgleichsregelungen
[558] 554. Nach Ansicht der Klägerinnen haben die Schriftstücke, auf die die Kommission sich beziehe, keinen Beweiswert.
[559] 555. Erstens könne die Kommission sich nicht mit Erfolg auf die Planungsdokumente berufen (vorstehend, Randnrn. 544 ff.).
[560] 556. Zweitens sind BASF, Wacker, Hoechst und Hüls der Ansicht, daß das Schriftstück "sharing the pain" und das Alcudia-Dokument nicht PVC beträfen und von branchenfremden Personen erstellt worden seien; deren Meinungen, die sich auf bruchstückhafte Informationen und Gerüchte stützten, könnten folglich kein Beweis für eine Zuwiderhandlung sein.
[561] 557. Keines dieser beiden Dokumente beweise, daß eine Ausgleichsregelung tatsächlich bestanden habe und angewandt worden sei. Im übrigen sei das Alcudia-Dokument als "Entwurf" bezeichnet. Darüber hinaus habe ICI in ihrer Antwort vom 9. Oktober 1987 auf ein Auskunftsverlangen erklärt, daß eine solche Regelung niemals praktiziert worden sei.
[562] 558. Drittens sei auch das DSM-Dokument nicht beweiskräftig.
[563] 559. So handelt es sich dabei nach Ansicht von DSM, BASF und Hüls in Wirklichkeit um eine interne Marktstudie, in der die globalen Fides-Zahlen mit den eigenen Verkaufszahlen von DSM verglichen würden. Nach Ansicht von DSM ist mit dem Ausdruck Ausgleich in diesem Dokument nur der Ausgleich bezüglich früherer unzutreffender Angaben von Fides gemeint. Eine Ausgleichsregelung in der von der Kommission angenommenen Bedeutung ergäbe im übrigen keinen Sinn, da die Nachfrage nach PVC im ersten Halbjahr 1982 gegenüber dem gleichen Halbjahr des Vorjahres um 12 % gestiegen sei.
[564] 560. Wacker und Hoechst machen geltend, das DSM-Dokument sei ein Auszug aus einem umfangreicheren Schriftstück, so daß es für sich genommen unverständlich sei.
[565] 561. BASF verweist schließlich darauf, daß die Kommission keinen einzigen Fall eines Ausgleichs zwischen Herstellern nachgewiesen habe; die Anwendung einer solchen Regelung, deren Funktionsweise nicht dargetan worden sei, sei daher nicht bewiesen. Die Lieferungen geringer Mengen von Hersteller an Hersteller, um Engpässe auszugleichen, könnten nicht als Ausgleichslieferungen angesehen werden.
[566] 562. Viertens sei die Atochem-Tabelle nicht beweiskräftig.
[567] 563. Elf Atochem räumt ein, daß dieses Schriftstück in ihren Geschäftsräumen gefunden worden sei, verweist aber darauf, daß es mit dem Unternehmen nichts zu tun habe und im Büro einer Person ohne Entscheidungsbefugnisse unter allgemeinen Planungsunterlagen, die sich nicht auf PVC bezogen hätten, gefunden worden sei.
[568] 564. BASF trägt vor, dieses angeblich von 1984 stammende Dokument sei nachträglich erstellt worden, was in einem Quotensystem keinen Sinn ergebe. Wacker und Hoechst verweisen darauf, daß nicht bekannt sei, woher die dort angeführten Zahlen stammten; diese Angaben könnten jedenfalls aus öffentlichen Quellen stammen.
[569] 565. Nach Ansicht von BASF, Wacker, Hoechst und Hüls ist die Behauptung, daß die Abkürzung 5 % T" in der Atochem-Tabelle für eine Zielquote stehe, reine Spekulation; die Angaben für die deutschen Hersteller entsprächen genau dem Anteil an der Produktionskapazität, so daß 5 % T" Anteil an der Gesamtkapazität bedeuten könne.
[570] 566. Im übrigen verweisen LVM, BASF, DSM und Enichem darauf, daß die tatsächlichen Absatzmengen nicht den in der Atochem-Tabelle aufgeführten Mengen entsprächen, was für die Auffassung spreche, daß die angegebenen Zahlen nur persönliche Schätzungen seien. In Wirklichkeit verfüge die Kommission nur für drei von dreizehn Unternehmen über die tatsächlichen Absatzzahlen, und nur sechs von elf Zahlen für diese drei Unternehmen entsprächen den tatsächlichen Absatzzahlen.
[571] 567. Konkret zu den deutschen Herstellern führen BASF, Wacker, Hoechst und Hüls aus, daß deren Absätze zusammengefaßt seien, so daß die genaue Bestimmung der Unternehmen und ihrer Absätze unmöglich sei. Dies spreche gegen eine Quotenregelung. Im übrigen zeige der Vergleich dieser angeblichen Quoten mit den tatsächlichen Absatzzahlen von Hoechst, wie sie im Oktober 1988 von einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft ermittelt und bestätigt worden seien, erhebliche Unterschiede in der Größenordnung von 5 %.
[572] 568. Fünftens bestreitet BASF die Erheblichkeit der Schriftstücke, auf die die Kommission ihre Analyse der Atochem-Tabelle stützt.
[573] 569. So zeigten die Anlagen 13 bis 16, die die statistischen Aufzeichnungen über die tatsächlichen Absätze beträfen, lediglich, daß die Meldungen der Hersteller an das System Fides richtig gewesen seien. Die Anlagen 17 und 19 seien nur interne Schriftstücke, die Absatzziele angäben, die sich die Unternehmen selbst gesetzt hätten. Die Anlage 18 spreche gegen ein Quotensystem, da ICI dort von einem Rückgang ihres Marktanteils für die kommenden Monate spreche.
[574] 570. Sechstens machen Wacker, Hoechst und Hüls geltend, daß der Vermerk von ICI vom 15. April 1981 ebenfalls ohne Beweiswert sei. Er habe nicht nur keinen Bezug zu PVC, sondern seine Bedeutung bleibe darüber hinaus unklar.
- Zur Überwachung der Verkäufe auf den nationalen Märkten
[575] 571. Erstens trägt Hüls vor, die Solvay-Tabellen seien so, wie sie zustande gekommen seien, ohne Beweiswert. Sie seien auf der Grundlage von Informationen, deren Quelle unbekannt sei, erst nachträglich für eine Marktstudie erstellt worden. Es handele sich höchstens um bloße Hypothesen über die Entwicklung der Umsätze, die im folgenden Jahr niemals erreicht worden seien, und um Schätzungen, wie die abgerundeten Zahlen belegten. Da diese Schriftstücke auf Französisch und nicht auf Englisch verfaßt worden seien, könne es sich nur um interne Unterlagen von Solvay handeln.
[576] 572. Zweitens trägt LVM vor, daß die Solvay-Tabellen nur aussagekräftig wären, wenn sie exakt wären; sie wiesen aber erhebliche Unterschiede zu den tatsächlichen Verkäufen auf. Die Kommission habe nämlich nur die vorläufig an Fides gemeldeten Zahlen und nicht die endgültigen Zahlen von Fides, die allein die tatsächlichen Verkäufe wiedergäben, berücksichtigt. Angesichts der Lade- und Lieferzeitpunkte seien Differenzen möglich. Im übrigen verweisen Wacker und Hoechst darauf, daß die Solvay-Tabellen keine individuellen Daten für die deutschen Hersteller enthielten, sondern lediglich globale Zahlen.
[577] 573. Drittens hätte nach Ansicht von Hüls die Gesamtzahl der PVC-Verkäufe auf dem deutschen Markt (Anlage 20 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), wenn sie mit den Fides-Meldungen übereinstimmen würde, nach den Regeln des Fides-Systems nicht die Lieferungen an die Dynamit Nobel AG umfassen dürfen; diese Unrichtigkeit zeige also, daß die Zahlen in der Anlage 20 nicht mit dem Fides-System übereinstimmten.
[578] 574. Viertens werfen LVM, BASF, DSM, Montedison und Enichem der Kommission vor, daß sie keinen Beweis für ihre Behauptung erbracht habe, daß die genauen Absatzzahlen ohne einen freiwilligen Informationsaustausch zwischen den Herstellern nicht zu erlangen gewesen wären. Solvay habe dagegen erklärt, die statistischen Unterlagen, auf die die Kommission ihre Anschuldigung stütze, allein und zu internen Zwecken erstellt zu haben. DSM bestreitet anhand von Beispielen die Behauptung der Kommission, daß eine genaue Berechnung der Marktanteile jedes Herstellers ohne einen Informationsaustausch zwischen diesen nicht möglich gewesen wäre. In Wirklichkeit habe jedes Unternehmen den Absatz der Konkurrenten ohne irgendeinen unzulässigen Informationsaustausch allein aufgrund leicht zugänglicher Informationen sehr genau schätzen können. Nach Ansicht von BASF setzt der Begriff des Austauschs eine Gegenseitigkeit von Leistungen zwischen Unternehmen voraus; dies sei aber nicht einmal behauptet worden. Auch wenn, so Enichem, in einem Vermerk, der sich auf die Tabelle der Anlage 34 und im übrigen nur auf diese beziehe, von einem Informationsaustausch mit Kollegen die Rede sei, werde dort jedenfalls nicht angegeben, wer diese Kollegen seien; angesichts der aggressiven Politik der Klägerin könne es sich nur um Arbeitskollegen bei Solvay und nicht bei der Klägerin handeln. Jedenfalls handele es sich nur um Daten, die sich auf die Vergangenheit und nicht auf die Zukunft bezogen hätten.
[579] 575. Schließlich machen BASF und Shell geltend, die Kommission habe den Sinn der Antwort von Shell auf ein Auskunftsverlangen entstellt. Zum einen habe Shell nämlich angegeben, daß Solvay keine genauen Informationen mitgeteilt worden seien; solche Mitteilungen hätten die Absätze in Westeuropa betroffen und könnten damit nicht die Quelle für die Daten in den Unterlagen von Solvay sein, die eine Aufteilung nach Ländern enthielten. Solche Informationen seien, wie Shell weiter ausführt, nur gelegentlich zwischen Januar 1982 und Oktober 1983 mitgeteilt worden, während die Unterlagen von Solvay die Zahlen für die Zeit von 1980 bis 1984 enthielten. Diese Tatsachen sprächen dafür, daß die Unterlagen von Solvay auf der Grundlage der veröffentlichten amtlichen Statistiken und der Kontakte mit den Kunden ausgearbeitet worden seien.
- Zu den Preisinitiativen
[580] 576. BASF, Wacker, Hoechst und Montedison bekräftigen, daß die Planungsdokumente keinen Beweiswert hätten (vgl. vorstehend, Randnrn. 544 ff.).
[581] 577. Nach Ansicht von LVM und DSM waren Zielpreise auf dem PVC-Markt nicht denkbar; die Preise seien nämlich in jedem einzelnen Fall ausgehandelt worden.
[582] 578. LVM, DSM, Wacker und Hoechst machen geltend, die Anlagen P1 bis P70 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte seien nicht beweiskräftig, da es sich um nachträglich erstellte unternehmensinterne Berichte handele.
[583] 579. Für LVM, BASF, DSM, Wacker, Hoechst, Montedison, Hüls und Enichem erlauben diese Anlagen jedenfalls nicht den Schluß, daß die ihnen zur Last gelegten Initiativen abgestimmt gewesen seien; in Wirklichkeit seien die fraglichen Initiativen nur das Ergebnis selbständiger Entscheidungen der Unternehmen ohne irgendeine vorherige Abstimmung. Die Unternehmen hätten sich lediglich klug den Marktbedingungen angepaßt.
[584] 580. Schließlich tragen die Klägerinnen vor, die Anlagen P1 bis P70 und die ihnen von der Kommission am 3. Mai 1988 übermittelten Schriftstücke zeigten im Gegenteil einen vom Wettbewerb geprägten Markt, auf dem sich namentlich die Preise häufig schnell entwickelt und einige Hersteller ein aggressives Verhalten gezeigt hätten.
[585] 581. Die Artikel aus der Fachpresse könnten kein Beweis und nicht einmal ein Indiz für eine Zuwiderhandlung sein. Sie seien daher zur Stützung der Auffassung der Kommission nicht ausreichend.
Würdigung durch das Gericht
[586] 582. Um den Ursprung des Kartells zu ermitteln, hat sich die Kommission auf den Wortlaut der Planungsdokumente, die Auskünfte, die ICI hierzu als Antwort auf ein an sie gerichtetes Auskunftsverlangen gegeben hat, und auf die enge Korrelation gestützt, die zwischen den in diesen Dokumenten beschriebenen geplanten Verhaltensweisen und den auf dem Markt festgestellten Verhaltensweisen bestanden habe.
[587] 583. Somit sind zunächst die verschiedenen Verhaltensweisen zu prüfen, die die Kommission ihrer Ansicht nach auf dem Markt nachgewiesen hat, indem sie sie mit den in den Planungsdokumenten vorgesehenen Verhaltensweisen verglichen hat.
- Zu den Quotenregelungen
[588] 584. Die "checklist", das erste Planungsdokument, enthält unter Nummer 3 "Vorschläge für einen neuen Rahmen für die Sitzungen". Dieser Abschnitt enthält im Anschluß an eine Aufzählung verschiedener, namentlich in Form von Anfangsbuchstaben oder Abkürzungen genannter Hersteller, die als mögliche Teilnehmer an diesen Sitzungen angesehen wurden, einen Unterabschnitt über die "Vorschläge für das Funktionieren dieser Sitzungen", der wiederum zwei Teile enthält: "Prozentuale Marktanteile sowie die zulässigen Abweichungen von diesen Marktanteilen" und "Regelung für die Schaffung neuer Kapazitäten".
[589] 585. Die "response to proposals", das zweite Planungsdokument, enthält unter Nummer 2 den Vorschlag, "künftig mengenmäßige Quoten auf betrieblicher und nicht wie früher auf nationaler Basis festzulegen", zusammen mit dem Kommentar: "[S] tarke Unterstützung, aber damit ein künftiges Quotensystem realistisch und durchführbar ist, muß eine Regelung für die Schaffung neuer Kapazitäten und die Wiederinbetriebnahme von Produktionsanlagen nach einer vorübergehenden Stillegung" aufgenommen werden. Nummer 3 dieses Dokuments enthält den folgenden Vorschlag: "Der Marktanteil der Hersteller müßte auf der Grundlage des Anteils im Jahre 1979 berechnet werden, wobei offenkundige Anomalien in diesem Jahr zu berichtigen wären", zusammen mit dem Kommentar: "Starke Unterstützung". Schließlich enthält Nummer 4 folgenden Vorschlag: "Eine flexible Grenze von +/- 5 % sollte für die nach vorstehend unter Nummer 3 festgelegten Marktanteile gelten, so daß die tatsächliche Marktstellung des einzelnen Herstellers sich entsprechend seinem tatsächlichen Potential entwickeln kann", zusammen mit folgendem Kommentar: "Viele Bedenken hiergegen, in erster Linie deshalb, weil es, wenn Marktanteile festgelegt werden sollten, gefährlich wäre, eine Erlaubnis zur Überschreitung des vereinbarten Anteils aufzunehmen".
[590] 586. Zum Nachweis einer Quotenregelung hat sich die Kommission in ihrer Entscheidung auf mehrere Schriftstücke bezogen, die sie sich in Kopie während ihrer Nachprüfungen verschaffen konnte.
[591] 587. Sie hat sich dabei namentlich auf drei Schriftstücke gestützt, die eine Ausgleichsregelung belegten, die 1981 zwischen den PVC-Herstellern durchgeführt worden sei, und damit das Vorliegen von Quotenregelungen bewiesen, deren notwendige Ergänzung die Ausgleichsregelung sei.
[592] 588. Das in den Geschäftsräumen von ICI aufgefundene Schriftstück "sharing the pain" betrifft in erster Linie eine Regelung, mit der die Belastung durch die Absatzbeschränkung für ein anderes thermoplastisches Erzeugnis als PVC geteilt werden sollte. Dort findet sich jedoch folgende Feststellung: "Die mit vergleichbaren Regelungen für PVC und LDPE gewonnenen Erfahrungen verheißen nichts Gutes, doch lassen sich einige Lehren daraus ziehen." Nach dem Hinweis auf die "Zielmenge" fährt der Verfasser des Schriftstücks fort: "In bezug auf was werden die Leistungen beurteilt? Die PVC-Hersteller waren in der Lage, mit vereinbarten Marktteilen für 1981 zu arbeiten." Schließlich wird darauf hingewiesen, daß "die PVC-Regelung nur Berichtigungen zuließ, wenn die Verkäufe eines Unternehmens oder einer Unternehmensgruppe weniger als 95 % der Zielmenge erreichten. Dies ermöglichte den Gesellschaften, ihren Marktanteil ungestraft zu überschreiten …"
[593] 589. Das Alcudia-Dokument, das von ICI stammt, aber bei einem spanischen Hersteller gefunden wurde, betrifft den Entwurf einer Regelung eines Ausgleichs zwischen LDPE-Herstellern, die weniger als eine vorher festgelegte Menge verkauft hatten, und solchen, die mehr als diese Menge verkauft hatten. Dort heißt es: "Die Regelung ist sehr ähnlich einer Regelung, die unlängst von den PVC-Herstellern eingeführt und für die Hälfte der Mai- und für die Juni-Verkäufe wirksam wurde." Anschließend werden die Hauptmerkmale dieses Systems beschrieben, das dem bei PVC angewandten entspricht. So verständigen sich die Hersteller über ihre Absatzziele, die einem bestimmten Prozentsatz ihres Gesamtabsatzes entsprechen. Sobald die vorläufigen Zahlen von Fides bekannt sind, werden die Zielmengen für jeden Teilnehmer errechnet und mit den tatsächlichen Verkäufen verglichen, um die Abweichungen festzustellen. Ein Ausgleich findet zwischen denen statt, die ihre Quote überschritten haben, und denen, die sie nicht erreicht haben. Zur Vereinfachung des Verfahrens war auch daran gedacht, die "Hersteller in 'Gruppen' zusammenzufassen, in der Hoffnung, daß innerhalb einer Gruppe Regelungen gefunden werden können, um die Schwankungen zu beseitigen". Weiter wird die Möglichkeit einer alternativen Regelung angeführt, die nur Schwankungen über 5 % berücksichtigt. In diesem Dokument vergleicht der Verfasser die vorgeschlagene LDPE-Regelung mit der "PVC-Regelung" und führt dazu insbesondere aus: "Kann die Regelung nur mit 2 oder 3 der Hersteller funktionieren? An der PVC-Regelung ist nur ein Hersteller nicht beteiligt."
[594] 590. Der Wortlaut dieser Dokumente bestätigt in überzeugender Weise die Schlußfolgerungen, die die Kommission daraus gezogen hat.
[595] 591. Auch wenn beide Dokumente ein anderes thermoplastisches Erzeugnis betreffen, beziehen sich die von der Kommission in ihrer Erwiderung genannten Stellen dieses Dokuments doch ausdrücklich auf PVC.
[596] 592. Zudem ergibt sich aus dem Wortlaut dieser Unterlagen, daß die streitige Ausgleichsregelung von allen PVC-Herstellern bis auf einen tatsächlich praktiziert wurde. Das Alcudia-Dokument im besonderen stellt nur insoweit einen Entwurf dar, als es ein anderes thermoplastisches Produkt, nämlich LDPE, betrifft.
[597] 593. Schließlich ist der Einwand der Klägerinnen, daß diese Dokumente keine zuverlässige Quelle seien, da ihr Verfasser nicht im PVC-Sektor tätig gewesen sei, zurückzuweisen. Beide Dokumente enthalten nämlich genaue Angaben, insbesondere hinsichtlich der Zeitpunkte, der Prozentsätze und der Zahl der an der PVC-Regelung Beteiligten, die zu dem Schluß führen, daß die Verfasser die Regelung, auf die sie sich beziehen und aus der sie angesichts der "gewonnenen Erfahrungen" eine Lehre ziehen wollen, genau kannten.
[598] 594. Die Kommission bezieht sich ebenfalls auf das DSM-Dokument vom 12. August 1982.
[599] 595. So stellt der Verfasser des Dokuments, wie die Kommission im vorletzten und letzten Abschnitt der Randnummer 11 der Entscheidung ausführt, eine erhebliche Differenz von 12 % zwischen den Verkaufsstatistiken für PVC in Westeuropa im ersten Halbjahr 1982 und denen im ersten Halbjahr 1981 fest, obwohl die Nachfrage in diesem Raum in spürbar geringerem Umfang gestiegen war. Außerdem sieht der Verfasser deutlich unterschiedliche Entwicklungen zwischen den geographischen Märkten. Nach seiner Meinung können Erklärungen, die sich auf die normale Marktentwicklung stützten (Rückgang der Einfuhren aus Drittländern nach Westeuropa, Lagerbestände und Erhöhung der Produktivität), die ursprünglich in Betracht gezogen worden seien (vgl. dazu Anlage P22 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die ein Schriftstück von DSM vom 12. Juli 1982 ist), nicht akzeptiert werden. Der Verfasser fährt fort: "Eine Erklärung könnte in falschen Angaben über die Verkäufe im ersten Halbjahr 1981 (Ausgleich!) gefunden werden. Dieser Punkt wird untersucht werden."
[600] 596. Aus diesem Dokument folgt somit, daß die Marktentwicklung im ersten Halbjahr 1982 gegenüber dem ersten Halbjahr 1981 sich nicht anhand der normalen Marktbedingungen erklären läßt, sondern durch falsche Absatzmeldungen für das erste Halbjahr 1981. Grund für diese falschen Meldungen waren die Regelungen über den Ausgleich zwischen den Herstellern. Wie die Kommission ausgeführt hat, beweist dieses Dokument, das vor allem zusammen mit den beiden zuvor behandelten zu lesen ist, die eine Ausgleichsregelung für das erste Halbjahr 1981 belegen, daß einige Hersteller zweifellos für dieses Halbjahr niedrigere als die tatsächlichen Verkaufszahlen angegeben haben, um dieser Regelung zu entgehen.
[601] 597. Dieses Dokument erlaubt ebenfalls den Schluß, daß diese Regelung wegen des Verhaltens einiger Hersteller nicht besonders gut funktioniert hat. Dies ist im übrigen im Zusammenhang mit dem Dokument "sharing the pain" zu sehen, in dem es heißt, daß "die mit vergleichbaren Regelungen für PVC und LDPE gewonnenen Erfahrungen … nichts Gutes [verheißen]".
[602] 598. Die von DSM vertretene andere Auslegung des Begriffes "Ausgleich", die im übrigen wenig klar ist, ist nicht überzeugend. Es ist nämlich kaum anzunehmen, daß die Hersteller zur Berichtigung von Fehlern in ihren Meldungen an Fides für ein bestimmtes Jahr im folgenden Jahr einen Absatz angegeben haben, dem sie die im vergangenen Jahr weggelassenen Verkäufe hinzugerechnet haben.
[603] 599. Zum Nachweis einer Quotenregelung bezieht sich die Kommission auch auf einen bei ICI aufgefundenen Vermerk vom 15. April 1981. Dieser Vermerk ist die Mitteilung des Generaldirektors des Geschäftsbereichs Petrochemie von Montedison an ICI. Dort heißt es: "ICI könnte z. B. bis Ende 1981 über eine neue PVC-Kapazität in Deutschland verfügen und hat seit Januar 1981 eine Quotenerhöhung von 30 KT verlangt." ICI plante nämlich, wie die Kommission ausgeführt hat, zu diesem Zeitpunkt den Bau einer neuen Anlage in Deutschland und die Stillegung älterer Anlagen an einem anderen Ort.
[604] 600. Wenn dieser Vermerk auch in erster Linie ein anderes thermoplastisches Erzeugnis betrifft, bezieht er sich in der vorstehend wiedergegebenen Passage doch ausdrücklich auf PVC.
[605] 601. Im übrigen konnten die Klägerinnen das in diesem Vermerk enthaltene Wort "Quote" nicht anders auslegen, als es die Kommission getan hat. Dieser Vermerk ist die Abschrift einer Mitteilung eines Leiters eines Konkurrenzunternehmens, so daß man nicht davon ausgehen kann, daß das Wort "Quote" sich lediglich auf unternehmensinterne Ziele von ICI bezieht.
[606] 602. Nach Ansicht der Kommission hat die auf diese Weise nachgewiesene Absatzkontrolle zumindest bis April 1984 bestanden. Die Kommission stützt sich hierfür auf die Atochem-Tabelle mit der Überschrift "PVC – erstes Quartal".
[607] 603. Diese Tabelle enthält neun Rubriken: -In der ersten werden sämtliche europäischen PVC-Hersteller aufgezählt, die seinerzeit auf dem Markt tätig waren. -In der zweiten, der dritten und der vierten Rubrik werden für jeden europäischen Hersteller mit Ausnahme der vier deutschen Hersteller, deren Absatz zusammengefaßt ist, die jeweils im Januar, Februar und März erzielten Absätze angegeben. Für die ersten beiden Monate enthält die Tabelle den Hinweis "FIN" und für den letzten Monat den Hinweis 5Q". Es ist nicht bestritten worden, daß diese Hinweise den endgültigen (englisch: "final") und sofortigen (englisch: "quick") Zahlen entsprechen, die an das Fides-Informationssystem weitergegeben wurden; dies ergibt sich im übrigen aus der als Anlage 11 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügten Antwort von Atochem vom 5. Mai 1987 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission. Das Fides-System ist, wie in der Entscheidung (Randnr. 12, dritter Absatz) ausgeführt wird, ein statistischer Dienst für die Industrie, der von einem Buchhaltungsunternehmen mit Sitz in Zürich betrieben wird. Die Hersteller, die Mitglieder dieses Systems sind, liefern ihre Verkaufszahlen zunächst sofort und dann als endgültige Zahlen an eine Zentralstelle, die sämtliche Informationen sammelt und für den gesamten westeuropäischen Markt umfassende, anonyme Statistiken erstellt. -In der fünften Rubrik sind die Gesamtverkäufe für das erste Quartal angegeben. -Die sechste Rubrik enthält den Prozentsatz der Verkäufe der europäischen Hersteller im Verhältnis zu deren Gesamtabsatz während der ersten vier Monate. -Die siebte Rubrik ist überschrieben 5 % T". -In der achten Rubrik sind die Verkäufe für den Monat April mit dem Hinweis 5Q" angegeben. -In der letzten Rubrik findet sich der Anteil der Hersteller im Verhältnis zum Gesamtabsatz der europäischen Hersteller im ersten Quartal.
[608] 604. Die Kommission ist zu dem Ergebnis gekommen, daß die Abkürzung 5 % T" offenkundig ein Hinweis auf einen angestrebten Marktanteil (englisch: "target") sei. Sie entnimmt diesem Dokument ebenfalls, daß die genannten Hersteller ihre Verkaufszahlen außerhalb des offiziellen Fides-Systems untereinander ausgetauscht hätten, um die Durchführung einer Quotenregelung zu überwachen. Schließlich hat die Kommission geprüft, inwieweit die Hersteller die ihnen zugewiesene Zielmenge erreicht haben.
[609] 605. Zunächst ist festzustellen, daß die genaue Identität des Verfassers des Dokuments nicht entscheidend ist. Von Bedeutung ist allein, ob die Schlußfolgerungen, die die Kommission aus der Atochem-Tabelle gezogen hat, richtig sind.
[610] 606. Es ist unstreitig, daß diese Tabelle die ersten Monate des Jahres 1984 betrifft, wie sich auch aus der Antwort von Atochem vom 5. Mai 1987 auf ein Auskunftsverlangen ergibt. Da die Tabelle für die Monate März und April 1984 nur "sofortige" und keine endgültigen Zahlen enthält, kann diese Tabelle im Mai 1984 erstellt worden sein.
[611] 607. Erstens ist die Auslegung der Abkürzung 5 % T" durch die Kommission zutreffend. Es ist nicht denkbar, daß diese Abkürzung nur die rein unternehmensintern festgesetzten Zielmengen betrifft; dies würde nämlich nicht erklären, wieso der Verfasser des Dokuments über sämtliche in den einzelnen Unternehmen intern festgesetzten Ziele verfügte. Zudem läßt sich diese Abkürzung nicht losgelöst vom Zusammenhang der vorliegenden Rechtssache auslegen, insbesondere nicht ohne Berücksichtigung der anderen Schriftstücke, die überzeugend das Vorliegen einer Quotenregelung der PVC-Hersteller belegen. Im übrigen ergibt sich aus der Tabelle, daß in dem Schriftstück nicht die Marktanteile im Verhältnis zum Gesamtabsatz in Westeuropa angegeben werden, da die Einfuhren nicht berücksichtigt worden sind, sondern der jeweilige Marktanteil der Hersteller im Verhältnis zu dem von diesen in ihrer Gesamtheit repräsentierten Markt, was bestätigt, daß das Ziel die Kontrolle des Marktanteils im Rahmen der Absprache war. Schließlich haben die Klägerinnen keine andere plausible Bedeutung der Abkürzung 5 % T" im Kontext dieser Rechtssache angeben können.
[612] 608. Zweitens hat die Kommission versucht, zu überprüfen, ob die in der Tabelle für die einzelnen Hersteller angegebenen Verkaufsmengen den von den Unternehmen bei Fides tatsächlich gemeldeten Mengen entsprachen. Nach den Angaben der Kommission hierzu war es ihr nicht möglich, von allen Herstellern eine Kopie dieser Meldungen zu erlangen, und sie konnte daher die in der Tabelle angegebenen Verkaufszahlen nicht systematisch überprüfen. Von einigen Unternehmen hat die Kommission jedoch die Verkaufszahlen erhalten. Aus diesen Zahlen ergibt sich, daß zehn der Verkaufszahlen, die sie überprüfen konnte, mit den Meldungen der Hersteller an Fides identisch sind. Darüber hinaus liegen fünf weitere Verkaufszahlen, die Solvay und LVM betreffen, nahe bei der in der Tabelle genannten Zahl.
[613] 609. Schließlich hat sich die Kommission bemüht, die Verkäufe der vier deutschen Hersteller für das erste Quartal 1984 zu errechnen. Sie hat sich dazu der von drei dieser Unternehmen (BASF, Wacker und Hüls) an Fides gemeldeten Daten, die sie in Kopie erhalten konnte, und der von Hoechst in deren Antwort vom 27. November 1987 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission selbst angegebenen Verkaufszahlen bedient. Auf diese Weise gelangte sie zu einer Gesamtmenge von 198 353 t, die sie mit der Gesamtmenge von 198 226 t, die sich aus der Atochem-Tabelle ergibt, verglich. Der Unterschied zwischen diesen beiden Gesamtmengen kann in der Tat vernachlässigt werden und bestätigt die Auffassung der Kommission, daß ein solches Ergebnis ohne einen Informationsaustausch zwischen den Herstellern nicht möglich gewesen wäre.
[614] 610. Die Kommission hat auf das Ergebnis dieser Berechnung und die Schlußfolgerungen verwiesen, die sie daraus in der Mitteilung der Beschwerdepunkte gezogen hat. Bei der Anhörung vor der Kommission hat Hoechst jedoch die von ihr selbst ursprünglich vorgelegten Zahlen bestritten und neue Zahlen vorgelegt. Die Kommission hat aber nachweisen können, daß diese nicht glaubhaft sind. So hat sie in der Entscheidung (Randnr. 14, Fußnote 1) ausgeführt: "Neue von Hoechst anläßlich der mündlichen Anhörung (aber ohne Beweismaterial) vorgelegte Zahlen … sind völlig aus der Luft gegriffen. Sie würden bedeuten, daß Hoechst eine Kapazitätsauslastung von über 105 % hatte, während die Kapazitätsauslastung bei anderen nur 70 % betrug." Tatsächlich hat Hoechst zugegeben, daß diese neuen Zahlen unzutreffend waren, und hat der Kommission mit Schreiben vom 21. Oktober 1988 eine dritte Serie von Zahlen vorgelegt.
[615] 611. Diese neue Zahlenserie enthält gegenüber den ursprünglich vorgelegten Zahlen eine unbedeutende Berichtigung der Verkaufszahlen von Hoechst in Europa, die im übrigen die Richtigkeit der Zahlen in der Atochem-Tabelle nur bestätigt; hinzugefügt ist dort aber als "Verkäufe an die Verbraucher" im Sinne der Fides-Meldungen der Eigenverbrauch von Hoechst für ihr Werk Kalle. Angesichts der Umstände, unter denen diese Zahlen vorgelegt worden sind, können sie aber nicht als hinreichend glaubhaft angesehen werden, um die von der Klägerin in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen selbst vorgelegten Zahlen in Zweifel zu ziehen.
[616] 612. Die deutschen Hersteller machen jedoch geltend, daß ihre Verkäufe zusammengefaßt und nicht einzeln ausgewiesen worden seien; infolgedessen genüge es, daß drei der vier deutschen Hersteller an diesem Informationsaustausch teilgenommen hätten, um den Anteil des vierten durch einfache Subtraktion von den offiziellen Gesamtzahlen von Fides zu ermitteln. Daher sei die Atochem-Tabelle für keinen der vier deutschen Hersteller aussagekräftig. Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen. Die Tabellen von Fides zeigen nämlich die Verkäufe aus Deutschland insgesamt und nicht nur die Verkäufe der vier deutschen Hersteller; diese Statistiken weisen für das erste Quartal 1984 einen Gesamtabsatz auf, der erheblich höher ist als der Gesamtabsatz von BASF, Wacker, Hoechst und Hüls allein. Unter diesen Umständen ließ sich bei Kenntnis der Verkaufszahlen von drei von ihnen nicht durch Subtraktion ein Gesamtabsatz der vier deutschen Hersteller ermitteln, der ebenso genau ist wie der in der Atochem-Tabelle ausgewiesene.
[617] 613. Die in der Atochem-Tabelle angeführten Verkaufszahlen sind bis auf die für die Unternehmen ICI und Shell, die offensichtlich gerundet worden sind, genau; für ICI enthält die Tabelle in einer Fußnote folgenden Hinweis: "Berechnet auf der Grundlage der Fides-Daten". Dies erhärtet den Schluß der Kommission, daß die Zahlen für die anderen Hersteller nicht bloße Schätzungen aufgrund der offiziellen Daten seien, sondern Angaben der Hersteller selbst. Wenn die Hersteller ihre eigenen Verkaufszahlen individuell an Fides melden, so geschieht dies auf vertraulicher Basis. Die Hersteller erhalten im Gegenzug nur zusammengefaßte Daten und nicht die von den anderen Herstellern gemeldeten individuellen Daten.
[618] 614. Drittens hat die Kommission geprüft, ob die Marktanteile der Hersteller im Verhältnis zueinander für 1984 der Zielmenge entsprachen, die in der Atochem-Tabelle angegeben ist. So konnte sie anhand der ihr zur Verfügung stehenden Informationen feststellen, daß der Marktanteil von Solvay 1984 mit der in der Atochem-Tabelle genannten Zielmenge übereinstimmte. Zudem konnte sie feststellen, daß der Marktanteil der vier deutschen Hersteller für 1984 in Höhe von 24 % nahe an die in dieser Tabelle angegebene Zielmenge von 23, 9 % heranreichte. Schließlich belief sich der Marktanteil von ICI für 1984 auf 11, 1 %, während die Zielmenge für dieses Unternehmen in der Atochem-Tabelle mit 11 % angegeben war. Übrigens ist bezeichnend, wie auch die Kommission hervorgehoben hat, daß zwei interne Schriftstücke von ICI vom 18. September und vom 16. Oktober 1984, die als Anlagen 17 und 18 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgelegt wurden, sich genau auf eine Zielmenge von 11 % für das Unternehmen beziehen.
[619] 615. Enichem macht geltend, daß ihr Anteil am Absatz 1984 12, 3 % betragen habe, was eindeutig unter dem in der Atochem-Tabelle angegebenen Satz liege. Dieser Einwand ist zurückzuweisen. Enichem ist aufgefordert worden, anzugeben, auf welcher Grundlage sie ihren Marktanteil für 1984 ermittelt hat, konnte aber keinerlei Erklärung zu den von ihr herangezogenen Unterlagen abgeben. Zudem hat diese Klägerin in den Anlagen zu ihrer Klageschrift (Band III, Anlage 2) eine Tabelle vorgelegt, die ihre jährlichen Verkäufe für die Zeit von 1979 bis 1986 wiedergibt und der sich entnehmen läßt, daß die Marktanteile für jedes dieser Jahre auf die gleiche Weise berechnet worden sind. Die Klägerin hat auf eine entsprechende Aufforderung des Gerichts im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen für die Jahre 1979 bis 1982 zu erklären versucht, wie sie ihren Marktanteil berechnet hat. Dabei hat sie lediglich für jedes dieser Jahre ihre Verkaufszahlen angegeben, aber keine Einzelheiten, die dieses Vorbringen stützen könnten. Darüber hinaus sind diese Verkaufszahlen nicht auf die Verkäufe der europäischen Hersteller in Westeuropa, sondern auf die Zahlen des europaweiten Verbrauchs bezogen, der zwangsläufig höher ist, da er die Einfuhren einschließt. Dadurch hat die Klägerin ihren Marktanteil erheblich herabgesetzt.
[620] 616. Infolgedessen sind die Zahlen, die Enichem vorgelegt hat, nicht als zuverlässig anzusehen.
[621] 617. Somit sind die tatsächlichen Wertungen, die die Kommission in der Entscheidung vorgenommen hat, zutreffend.
- Zur Überwachung der Verkäufe auf den nationalen Märkten
[622] 618. In der "checklist" ist im Rahmen der Vorschläge für die Funktionsweise des neuen Rahmens für die Sitzungen die Rede von einem "Austausch der monatlichen Verkaufsdaten jedes Herstellers nach Ländern".
[623] 619. Für den Nachweis einer Regelung, wonach die inländischen Hersteller auf den wichtigsten nationalen Märkten sich gegenseitig über die Mengen unterrichteten, die sie auf jedem Markt abgesetzt hatten, hat sich die Kommission vor allem auf die Tabellen von Solvay gestützt.
[624] 620. Diese Tabellen haben den gleichen Aufbau.
[625] 621. Die Tabellen für den deutschen Markt (Anlagen 20 bis 23 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) umfassen mehrere Spalten. Die erste enthält folgende Rubriken: "Verbrauch MN" (d. h. Verbrauch auf dem nationalen Markt), "Einfuhren Dritter" und "Verkauf inländischer Hersteller"; in dieser letzten Rubrik stehen die Namen der wichtigsten inländischen Hersteller. In den folgenden Spalten folgt jeweils auf die Spalte "Annahmen" für ein bestimmtes Jahr eine Spalte "Realisierung" für dasselbe Jahr. Jede dieser Spalten ist noch einmal unterteilt, in der ersten sind die Mengen, in der zweiten ist der Prozentsatz angegeben. Den Rubriken in der ersten Spalte sind in den anderen Spalten Zahlen zugeordnet. Angegeben ist der Absatz jedes deutschen Herstellers; daher entspricht das Argument von Wacker und Hoechst, daß die Verkaufszahlen der deutschen Hersteller zusammengefaßt und nicht einzelnen aufgeführt seien, nicht den Tatsachen.
[626] 622. Die anderen Tabellen für den französischen Markt (Anlagen 24 bis 28 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), für den Benelux-Markt (Anlagen 29 bis 32) und für den italienischen Markt (Anlagen 33 bis 40) umfassen ebenfalls mehrere Spalten. Die erste enthält die Namen der inländischen Hersteller mit den Rubriken: "Gesamtmenge der inländischen Hersteller", "Einfuhren", wobei manchmal die Einfuhren "aus anderen Fides-Ländern" und aus "Drittländern (nicht Fides)" getrennt sind, und "Gesamtmarkt". Die beiden folgenden Spalten geben zwei aufeinander folgende Jahre wieder; jede dieser Spalten ist noch einmal unterteilt, die erste für Mengen, die andere für Prozentsätze; den Rubriken der ersten Spalte entsprechen Zahlen in den anderen Spalten. In einigen Fällen wird in einer zusätzlichen Spalte die prozentuale Entwicklung von einem Jahr zum anderen wiedergegeben. Zudem ist in einigen Fällen eine Spalte "Prognosen" für das laufende Jahr angefügt.
[627] 623. Wie sich aus der Entscheidung ergibt und wie die Kommission auf eine Frage des Gerichts bestätigt hat, betrifft die vorliegende Rüge nur den deutschen, den italienischen und den französischen Markt.
[628] 624. Zunächst enthalten die Solvay-Tabellen nicht nur "Annahmen", sondern auch die "Realisierung". Da der Informationsaustausch auf der "Realisierung" beruht, kann es sich nur um Informationen aus der Vergangenheit handeln; das Argument, daß es sich nur um zukünftige Schätzungen handele, geht daher in tatsächlicher Hinsicht fehl. Da die Solvay-Tabellen auf Anfang März des Jahres datiert werden können, das auf das Jahr folgt, für das die Verkaufszahlen nach Hersteller und Land ausgetauscht worden sind, können sie nicht als so alt angesehen werden, daß sie nicht mehr vertraulich wären.
[629] 625. Zudem enthalten die Tabellen zwar Zahlen in Kilotonnen, gegebenenfalls bis auf eine Stelle hinter dem Komma, doch läßt sich daraus nicht ableiten, daß es sich nur um Schätzungen von Solvay allein handele. Tatsächlich sind die Verkaufszahlen von Solvay, von der diese Tabellen stammen, selbst nur in Kilotonnen angegeben.
[630] 626. Die Kommission hat geprüft, ob die in den Tabellen angegebenen Verkäufe den tatsächlichen Verkäufen der dort genannten Hersteller entsprechen. Sie war jedoch nicht in der Lage, sämtliche dort enthaltenen Zahlen zu überprüfen, da die Mehrheit der Hersteller erklärt hat, daß sie nicht in der Lage seien, ihre Verkaufsstatistiken vorzulegen.
[631] 627. Die Überprüfung der Kommission hat zu der Feststellung geführt, daß für den deutschen Markt die von der Kommission erlangten Absatzzahlen der Hersteller Hüls, BASF und ICI für die einzelnen Jahre sich genau mit den in den Solvay-Tabellen genannten Zahlen deckten oder diesen sehr nahe kamen (Randnr. 16, zweiter Absatz, der Entscheidung). BASF hat in diesem Zusammenhang in ihrer Klageschrift erklärt: "Diese Unterlagen geben ein sehr zuverlässiges Bild von den Absatzverhältnissen der hauptsächlichen Konkurrenten." Hüls trägt jedoch vor, daß die Solvay-Tabellen für Deutschland für das Jahr 1980 Gesamtverkäufe von 736, 7 Kilotonnen auswiesen; im Fall von Wacker und Hüls umfasse dieser Betrag aber ausweislich einer Fußnote in der Anlage 20 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte die Verarbeitung für Dynamit Nobel AG (5 + travail à façon pour DNAG inclus"), die in die Fides-Statistiken nicht aufgenommen werde. Dieser Einwand erklärt jedoch keineswegs, wie Solvay die Verkaufszahlen, die dieser "Verarbeitung" entsprechen, kennen konnte; diese Kenntnis spricht vielmehr für die Schlußfolgerung der Kommission, daß die Hersteller sich ihre Verkaufszahlen außerhalb des Fides-System mitgeteilt haben.
[632] 628. Für den französischen Markt hat die Kommission festgestellt, daß die Verkaufszahlen von Shell, LVM und Atochem in den Solvay-Tabellen für bestimmte Jahre sehr nah an die tatsächlichen Verkaufszahlen, die sie habe erhalten können, heranreichten (Randnr. 16, dritter Absatz, der Entscheidung).
[633] 629. Für den italienischen Markt hat die Kommission keine tatsächlichen Verkaufszahlen erlangen können. Die Klägerinnen, die in diesen Tabellen namentlich aufgeführt sind, haben die Richtigkeit der dort genannten Zahlen nicht bestritten. Zudem enthält die erste Tabelle für den italienischen Markt, wie die Kommission hervorgehoben hat, folgenden Hinweis: "Die Aufteilung des italienischen Marktes unter die verschiedenen Hersteller für 80 wurde auf der Grundlage eines Informationsaustauschs mit unseren Kollegen vorgenommen." Im übrigen enthalten die als Anlagen 37 und 39 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügten Tabellen, die die Verkäufe 1983 betreffen, neben dem Namen des kleinsten Herstellers auf dem italienischen Markt den Hinweis "Schätzungen". Schließlich hat Solvay in ihrer Antwort vom 25. Februar 1988 auf ein Auskunftsverlangen angegeben: "Aufgrund der Besonderheiten des italienischen Marktes können wir nicht ausschließen, daß bestimmte Verkaufszahlen zwischen den Konkurrenten ausgetauscht worden sind." Unter diesen Umständen kann der von Enichem vorgeschlagenen Auslegung des Worts "Kollegen" nicht gefolgt werden.
[634] 630. Dennoch sind die Klägerinnen der Ansicht, daß diese Zahlen nicht unbedingt das Ergebnis eines Austauschs unter den Herstellern seien. Sie behaupten in diesem Zusammenhang nicht, daß die in den Solvay-Tabellen angeführten Zahlen selbst allgemein zugänglich gewesen seien, sondern machen geltend, daß sie aufgrund von auf dem Markt verfügbaren Informationen oder bereits allgemein zugänglichen Informationen hätten ermittelt werden können. Sie stützen sich dabei auf die Erläuterungen, die Solvay zu der Erstellung der Tabellen gegeben hat und nach denen diese ohne Kontakte zu den Konkurrenten hätten erstellt werden können.
[635] 631. Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen erklärt, daß "Solvay gelegentlich in der Zeit von Januar 1982 bis Oktober 1983 angerufen hat, um eine Bestätigung ihrer Schätzungen von Shells Verkaufsmengen zu erhalten". Shell behauptet jedoch, keine genauen Informationen mitgeteilt zu haben.
[636] 632. Zum französischen Markt hat Solvay erklärt, daß das Volumen des Gesamtmarktes sich namentlich aufgrund der Fides-Statistiken genau habe bestimmen lassen. Nach Abzug ihres eigenen Absatzvolumens habe sie das Gesamtabsatzvolumen ihrer Konkurrenten auf dem französischen Markt erhalten. Zur Ermittlung des Absatzes jedes einzelnen Herstellers hat Solvay folgendes ausgeführt: "Wenn der Kunde zu einer Gruppe gehört, die PVC herstellt, aber trotzdem einen Teil von anderen Herstellern bezieht, wird pauschal geschätzt, daß die Muttergesellschaft 80 % des Bedarfs ihrer Tochtergesellschaft deckt und der Rest sich auf die Konkurrenten aufteilt; ist bekannt, daß einer der PVC-Verbraucher sich hauptsächlich bei einem Hersteller eindeckt, rechnen die französischen Manager [von Solvay] pauschal, daß dieser Hersteller 50 % des Bedarfs dieses Kunden deckt; deckt sich der Kunde bei mehreren Herstellern ein und liegt keiner der genannten Fälle vor, erfolgt die Aufteilung zwischen den verschiedenen Lieferanten linear entsprechend ihrer Anzahl (Beispiel: bei vier Lieferanten für einen bestimmten Kunden weisen die französischen Manager jedem von ihnen 25 % der Einkäufe dieses Kunden zu)." So bestimmt Solvay den Anteil jedes Herstellers bei ihren eigenen Kunden. "Für die Bestimmung der Gesamtmengen, die die Konkurrenten tatsächlich auf dem gesamten Markt verkauft haben, wenden die französischen Manager [von Solvay] die auf diese Weise ermittelten Marktanteile auf den Gesamtverbrauch von PVC an … und erhalten auf diese Weise annähernd den Gesamtabsatz [der] Konkurrenten [von Solvay]."
[637] 633. Hierzu ist festzustellen, daß diese von Solvay angegebene Berechnungsmethode, auf die sich die anderen Klägerinnen berufen, auf pauschalen Schätzungen beruht und für Annäherungswerte und Zufälligkeiten weiten Raum läßt. Sie erlaubt es nicht, den Absatz der einzelnen Hersteller so klar und genau zu bestimmen, wie er sich aus den Solvay-Tabellen ergibt.
[638] 634. Bezüglich des deutschen Marktes hat Solvay ausgeführt, daß der Anteil der einzelnen Konkurrenten an den Verkäufen aufgrund von "Gesprächen mit Kunden", allgemein zugänglichen Informationen (offizielle Statistiken und Fachpresse) und der "gründlichen Kenntnis des Marktes der deutschen Manager" von Solvay bestimmt worden sei. Auch hierzu ist festzustellen, daß Solvay anhand dieser Methode ebenfalls nicht ohne jeden Informationsaustausch mit den Konkurrenten zu ebenso genauen Ergebnissen wie denen in den Solvay-Tabellen kommen konnte. Laut den Antworten der Klägerinnen auf eine Frage des Gerichts hatte ein einzelner Hersteller manchmal mehrere hundert Kunden.
[639] 635. Beispiele, die DSM als Nachweis dafür angeführt hat, daß die Verkaufszahlen leicht aufgrund allgemein zugänglicher Informationen hätten errechnet werden können, liegen neben der Sache. Diese Beispiele beziehen sich nämlich auf die Ermittlung des Gesamtmarktes und des Marktanteils der Klägerin selbst, um die es in der Entscheidung nicht geht.
[640] 636. Die von den Klägerinnen vorgetragenen tatsächlichen Rügen sind daher zurückzuweisen.
- Zu den Zielpreisen und den Preisinitiativen
[641] 637. Wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnr. 584) enthält die "checklist" unter Nummer 3 Vorschläge, wie der geplante neue Rahmen für die Sitzungen funktionieren sollte. Nach der namentlichen Aufzählung von zehn PVC-Herstellern in Form von Anfangsbuchstaben oder Abkürzungen enthält das Schriftstück folgende Punkte: "Wie ist eine bessere Preistransparenz zu erreichen", "Rabatt für Importeure (höchstens 2 %?)", "höhere Preise im Vereinigten Königreich und in Italien (Anhebung des Preisniveaus?)" und "Bekämpfung der Kundenabwanderung". Das Schriftstück enthält auch eine Rubrik mit der Überschrift "Preisvorschläge", in der man u. a. lesen kann: "Periode der Stabilität (wir sind einverstanden, die Bedingungen des zweiten Quartals 1980 zu akzeptieren, aber nur für eine begrenzte Zeit)" und "Preisniveau von Oktober bis Dezember 1980 und Zeitpunkte der Durchführung". Schließlich enthält die Rubrik, die eine Sitzung vom 18. September 1980 betrifft, insbesondere den Hinweis: "Verpflichtung herbeiführen für die Preisbewegungen Oktober/Dezember".
[642] 638. Die "response to proposals" enthält zwei Bemerkungen zu den Preisen. Auf den ersten Vorschlag, wonach "es ein gemeinsames Preisniveau in Westeuropa geben müßte", folgt als Antwort: "Vorschlag unterstützt, aber Zweifel hinsichtlich der Möglichkeit, den traditionellen Rabatt für Importeure fallen zu lassen." Nach dem sechsten Vorschlag sollte "eine Preiserhöhung nicht während [einer] Stabilisierungsphase von drei Monaten versucht werden", in der die Lieferanten nur mit den Kunden in Kontakt treten sollten, die sie in den vorangegangenen drei Monaten beliefert haben (Nr. 5 der "response to proposals"). Dieser Vorschlag wurde wie folgt beantwortet: 5 … aufgrund der aktuellen Verluste sollte die Möglichkeit einer Erhöhung der Preise zum 1. Oktober nicht ausgeschlossen werden, obwohl insoweit Schwierigkeiten bestehen, nämlich die einstimmige Unterstützung zu erreichen und eine entsprechende Steigerung zu einem Zeitpunkt durchzuführen, zu dem ein Rückgang der Nachfrage in Westeuropa wahrscheinlich ist."
[643] 639. Die Kommission hat in ihrer Entscheidung etwa fünfzehn Preisinitiativen festgestellt (vgl. Tabelle 1 im Anhang der Entscheidung), von denen die erste am 1. November 1980 erfolgt ist.
[644] 640. Im Rahmen der vorliegenden Klagen bestreiten nur LVM und DSM schon das Bestehen der von der Kommission festgestellten Preisinitiativen mit der Begründung, daß solche Initiativen im PVC-Sektor nicht denkbar seien. Dazu genügt der Hinweis, daß die Anlagen P1 bis P70 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte sich gezielt auf Zielpreise und Preisinitiativen beziehen. Unabhängig von der Frage, ob es sich um individuelle oder abgestimmte Verhaltensweisen handelt, genügt dies, um das Argument dieser Klägerinnen zurückzuweisen.
[645] 641. Das Bestehen der Preisinitiativen ist somit als bewiesen anzusehen. Zu prüfen ist daher, ob diese Initiativen, wie die Kommission behauptet, auf einer Absprache zwischen den PVC-Herstellern beruhten.
[646] 642. Auch wenn die Anlagen P1 bis P70 für einige Klägerinnen unternehmensinterne Schriftstücke darstellen, die nach den von der Kommission ermittelten Zeitpunkten der Preisinitiativen erstellt worden sind, läßt sich daraus nicht schließen, daß sie allein deshalb kein Beweis dafür sein können, daß die Initiativen abgesprochen waren. Vielmehr ist der Inhalt der betreffenden Schriftstücke zu untersuchen.
[647] 643. Die Klägerinnen bestreiten nicht, daß die von der Kommission vorgelegten Schriftstücke zeigen, daß zu den gleichen Zeitpunkten Erhöhungen geplant worden sind, um den PVC-Preis auf ein gleiches Niveau anzuheben, das im allgemeinen weit über dem lag, das in den Tagen vor diesen Erhöhungen auf dem Markt herrschte. Tatsächlich ergibt sich dies für jede der von der Kommission festgestellten Initiativen bereits aus dem Wortlaut der Anlagen P1 bis P70. Die Artikel der Fachpresse, die die Kommission als Anlage zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgelegt hat, bestätigen im übrigen diese Erhöhungen zu den von der Kommission ermittelten Zeitpunkten.
[648] 644. Zudem ergibt eine sorgfältige Prüfung der Anlagen P1 bis P70, daß diese Initiativen nicht als rein individuelle Maßnahmen angesehen werden können. Sowohl aufgrund des Wortlauts als auch aufgrund einer Prüfung dieser Anlagen unter Berücksichtigung ihres Zusammenhangs untereinander ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, daß diese Schriftstücke der materielle Beweis einer europaweiten Preisabsprache der Hersteller sind.
[649] 645. So heißt es in der Anlage P1, einem Schriftstück von ICI, nach dem Hinweis, daß "die Nachfrage von PVC auf dem westeuropäischen Markt im Oktober in Erwartung der Preiserhöhung zum 1. November erheblich gestiegen ist", folgendermaßen: "[D] ie für den 1. November angekündigte Preiserhöhung [ist] darauf angelegt, alle westeuropäischen PVC-Preise (Suspension) auf ein Mindestniveau von 1,50 DM … anzuheben …" Dieses Schriftstück ist im Zusammenhang mit den Anlagen P2 und P3 zu sehen, die von Wacker stammen und in denen eine gleiche Erhöhung zum gleichen Zeitpunkt angekündigt wird, sowie mit der Anlage P4, die von Solvay stammt und die folgenden Satz enthält: "[E] inige Importeure bieten im Widerspruch zu dem, was geplant war, Rabatte zum Nachteil der britischen Hersteller an." Auch die Anlage P5, die von DSM stammt, bezieht sich auf die Preisinitiative vom 1. November.
[650] 646. Auf die zweite Preisinitiative, die für den 1. Januar 1981 vorgesehen war und durch die der Preis für PVC auf 1,75 DM angehoben werden sollte, wird Bezug genommen in den Anlagen P2 und P8, die von Wacker stammen, P4, von Solvay erstellt, P 6 und P7, die von ICI herrühren, und P9, die von DSM stammt. Insbesondere die Anlage P4 enthält im Anschluß an den in der vorstehenden Randnummer zitierten Satz den Hinweis: "[D] ie Aussichten für Dezember sind nicht gut, trotz einer für den 1. Januar 1981 angekündigten weiteren Preiserhöhung." In der Anlage P6 findet sich folgende Stelle: "[E] ine neue Erhöhung der Preise … auf 1,75 DM ist für alle westeuropäischen Märkte für den 1. Januar 1981 angekündigt worden."
[651] 647. Die für den 1. Januar 1982 vorgesehene Preisinitiative zur Anhebung des PVC-Preises auf 1,60 DM wird belegt durch zwei Schriftstücke, die von ICI stammen und als Anlagen P19 und P22 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt waren, sowie durch zwei weitere von DSM herrührende Schriftstücke, die als Anlagen P20 und P22 beigefügt waren. Die Anlage P22 enthält folgenden Kommentar: "[D] ie Initiative der Branche zielt auf eine Erhöhung der Preise auf 1,60 DM/380 UKL/t ab, erscheint aber nicht erfolgversprechend – BP und Shell lehnen eine Zusammenarbeit ab." In der Anlage P21 heißt es: "[D] ie Aussichten für Januar [1982] sind nicht günstig. Trotz einer angekündigten Preiserhöhung ist derzeit ein Sinken der Preise gegenüber dem Niveau im Dezember festzustellen. Insbesondere haben die britischen Lieferanten die britischen Kunden über die Preiserhöhung nicht einmal informiert." Zwar ist denkbar, daß ein Unternehmen z. B. über Kunden darüber informiert wird, daß ein Mitbewerber eine Preiserhöhung angekündigt oder nicht angekündigt hat, doch kommt es nicht in Betracht, daß dieses Unternehmen darüber informiert wird, daß ein Hersteller eine Preiserhöhung nicht angekündigt hat, die er hätte ankündigen sollen. Dies läßt sich nur dadurch erklären, daß diese erwartete Erhöhung vorher unter den Herstellern abgesprochen war.
[652] 648. Die für den 1. Mai 1982 angekündigte Initiative zur Anhebung des Preises auf 1,35 DM wird durch die Anlagen P23 und P26, die von ICI stammen, P24, die von DSM herrührt, und P25, die von Wacker erstellt worden ist, bestätigt. Insbesondere hat der Verfasser der Anlage P23 bei der Prüfung des Niveaus der Preise auf dem europäischen Markt im April 1982, insbesondere auf dem deutschen und dem französischen Markt, folgendes hinzugefügt: "[D] er Preisrutsch ist Ende des Monats aufgrund der Ankündigung einer allgemeinen Erhöhung der europäischen Preise auf 1,35 DM/kg zum 1. Mai zum Stehen gekommen." In der Anlage P24, die den Mai 1982 betrifft, wird darauf hingewiesen, daß "aufgrund der angekündigten Preiserhöhung" die Preise von DSM erhöht worden sind, doch heißt es weiter: "[D] ies liegt noch weit unter der geplanten Anhebung auf 1,35 DM/1,40 DM. Die hauptsächlichen Gründe hierfür sind die Fehlschläge auf dem deutschen und dem Benelux-Markt sowie die fehlende Zusammenarbeit der britischen und skandinavischen Hersteller bei der Preisanhebung. In Frankreich und in Italien war die Erhöhung erfolgreicher."
[653] 649. Die Initiative vom 1. September 1982 zur Anhebung der Preise auf 1,50 DM/kg wird namentlich durch die Anlagen P29, P39, P41, die von DSM stammen, P30 und P34 von ICI und P31 bis P33, von Wacker erstellt, belegt. In der Anlage P29 vom 12. August 1982 heißt es zu den Preisen von August: "[E] in gewisser Druck ist auf dem deutschen, belgischen und luxemburgischen Markt spürbar, was eigentlich überrascht, da eine größere Preiserhöhung für den 1. September geplant ist." Unter der Überschrift "Preise vom September" heißt es in diesem Schriftstück weiter: "[E] ine größere Preisanhebung auf ungefähr 1,50 DM/kg ist geplant. Bis jetzt ist festzustellen, daß alle größeren Hersteller diese Preiserhöhung angekündigt haben und nur sehr wenige Abweichungen festgestellt wurden." Die Anlage P32 enthält folgenden Kommentar: "Im westeuropäischen Markt bemüht man sich intensiv um eine Preiskonsolidierung per 1. September." Die Anlage P33 enthält folgende Feststellung: "Die zum 1. September eingeleitete Preiserhöhung für homopolymeres PVC auf mindestens DM 150, – % kg hatte von der Tendenz her Erfolg, jedoch finden wir im Oktober noch Positionen, die unser Wettbewerb zu DM 135, – und DM 140, – % kg bedient." Der Verfasser der Anlage P34 hat die Lage auf dem westeuropäischen Markt allgemein untersucht und im Oktober 1982 eine Erhöhung der Nachfrage gegenüber dem Vormonat festgestellt; er hat ergänzend ausgeführt: "Dies beruhte jedoch weitgehend auf den Bemühungen um eine Erhöhung der Preise zum 1. September, die logischerweise zu Einkäufen vor diesem Zeitpunkt geführt haben." Die Anlage P41 enthält folgenden Kommentar zu der Initiative vom 1. September: "Der Erfolg der Preiserhöhung hängt jetzt weitgehend von der Disziplin der deutschen Hersteller ab."
[654] 650. Hinzuweisen ist noch auf die Preiserhöhung in zwei Abschnitten zum 1. April 1983 und 1. Mai 1983, die zu einer Anhebung der PVC-Preise auf 1,60 DM, mindestens aber auf 1,50 DM, bzw. auf 1,75 DM, mindestens aber auf 1,65 DM führen sollte. Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen (Anlage 42 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) erklärt, daß auf einer Sitzung der westeuropäischen PVC-Hersteller in Paris am 2. oder 3. März 1983 "von anderen Herstellern Vorschläge zu Preiserhöhungen und zu einer Absatzkontrolle gemacht wurden", allerdings seien keine Verpflichtungen eingegangen worden. ICI hat die Abhaltung dieser Sitzung bestätigt (Anlage 4 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte). In der Anlage P43, die von ICI stammt, findet sich folgende Stelle: "Von Montag, dem 7. März [1983] an, sind sämtliche Kunden darüber zu informieren, daß die Preise auf 1,60 DM angehoben werden, mit einem Rabatt für Kunden der Kategorie 1 bzw. der Kategorie 2 von 10 bzw. 5 Pfennig." Diese Erhöhung sollte zum 1. April 1983 erfolgen, wie sich im übrigen aus dem Fernschreiben ergibt. Der Verfasser der von Shell stammenden Anlage P49 vom 13. März 1983 erklärt nach dem Hinweis auf den Preisverfall im März bis auf ein Niveau von 1,20 DM/kg: "Es ist eine Großinitiative geplant, um diesen Preisverfall zu bremsen, wobei die Mindestziele für März/April jeweils 1,50 DM/kg und 1,65 DM/kg lauten." Ein Fernschreiben von ICI vom 6. April 1983, das als Anlage P45 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt war, enthält folgenden Kommentar: "Die Marktdaten scheinen klar dafür zu sprechen, daß die Branche insgesamt von nun an die Preisinitiative zum 1. April 1983 durchführt." In einem Schriftstück von Wacker vom 25. April 1983 (Anlage P46) wird auf die "Bemühungen, die Vinnol-Eck-Preise im April auf DM 150, – % kg und im Mai auf DM 165, – % kg zu erhöhen", hingewiesen. In einem internen Bericht von DSM vom 24. Juni 1983 (Anlage P48) heißt es nach einem Hinweis auf einen Preisrückgang in Westeuropa im ersten Quartal 1983: "Seit dem 1. April wird der Versuch einer Erhöhung der Preise in Westeuropa unternommen. Die geplante Anhebung bis auf 1,50 DM zum 1. April und auf 1,65 DM zum 1. Mai ist gescheitert."
[655] 651. Nach einem Vermerk von ICI vom 31. Januar 1983, als Anlage 44 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt, waren "die 'Zielpreise' in Europa in der gesamten Industrie ziemlich gut bekannt und somit 'Listenpreise'". Weiter heißt es dort: "Es wird generell die Auffassung vertreten, daß diese Listenpreise nicht in einer schwachen Marktsituation verwirklicht werden können …, doch hat die Ankündigung eine psychologische Wirkung auf die Abnehmer. Man denke analog hierzu an den Kauf eines Wagens, für den der 'Listenpreis' so angesetzt ist, daß der Käufer mit einem Rabatt von 10 bis 15 % zufrieden ist und den Eindruck hat, daß er ein 'gutes Geschäft' gemacht hat, während der Hersteller oder Vertragshändler immer noch eine angemessene Marge hat." Der Autor dieses Vermerks empfahl daher, "daß die PVC-Industrie in großem Umfang Zielpreise ankündigt, die weit über den Preisen liegen, die wahrscheinlich durchgesetzt werden können, z. B. 1,65 DM/kg im März" (Hervorhebungen weggelassen).
[656] 652. Zudem hat die Fachpresse bei verschiedenen Gelegenheiten auf eine Absprache zwischen den PVC-Herstellern hingewiesen. So konnte man in der Zeitschrift European Chemical News vom 1. Juni 1981 lesen: "Die wichtigsten europäischen Kunststoffhersteller versuchen in einer konzertierten Aktion erhebliche Preiserhöhungen für [PVC] durchzusetzen und erwarten, das Preisniveau von Anfang 1981 zu erreichen." Am 4. April 1983 heißt es in dieser Zeitschrift: "Die europäischen [PVC-] Hersteller unternehmen eine entschlossenen Versuch, die Preise Anfang April anzuheben. Sie haben sich im März in Paris getroffen, um über Preiserhöhungen zu sprechen."
[657] 653. Nach eingehender Prüfung der von der Kommission in der Anlage zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgelegten zahlreichen Schriftstücke, die die PVC-Preise betreffen und von denen in den vorstehenden Randnummern 645 bis 650 nur einige Beispiele angeführt worden sind, hält es das Gericht angesichts der von der Kommission beigebrachten materiellen Beweise für bewiesen, daß die in diesen Schriftstücken genannten "Preiserhöhungen", "Preisinitiativen" oder "Zielpreise" keine bloßen individuellen Entscheidungen waren, die jeder Hersteller eigenständig getroffen hat, sondern daß sie unter den Herstellern abgesprochen waren.
[658] 654. Allerdings ist schon hier darauf hinzuweisen, daß mehrere der Anlagen P1 bis P70 von einem Scheitern oder einem gemischten Erfolg einiger Preisinitiativen berichten, worauf die Kommission in Randnummer 22 der Entscheidung hingewiesen hat.
[659] 655. Diese gescheiterten Versuche oder gemischten Erfolge erklären sich aus verschiedenen Umständen, die die Kommission in Randnummer 22 genannt hat und die ausdrücklich in einigen der Anlagen P1 bis P70 aufgeführt sind. So haben einige Kunden, um sich zu günstigeren Preisen einzudecken, manchmal in den Tagen vor dem Inkrafttreten einer angekündigten Preiserhöhung Käufe in erheblichem Umfang getätigt. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P8, P12, P21, P23, P30 und P39.
[660] 656. Zudem haben die Hersteller, wie sich aus den Anlagen P1 bis P70 ergibt, zumindest bei manchen Gelegenheiten versucht, einen Mittelweg zu finden zwischen der Aufrechterhaltung eines bestimmten Niveaus des Absatzes und der Beziehungen zu einzelnen Kunden auf der einen Seite und der Preiserhöhung auf der anderen Seite.
[661] 657. So wurden den wichtigen Kunden gelegentlich Nachlässe oder Sonderrabatte angeboten (z. B. Anlage 17), oder es wurden mit Kunden zeitlich begrenzte Vereinbarungen über Lieferungen zu den Preisen getroffen, die vor der geplanten Erhöhung galten (namentlich Anlage P21). Aus mehreren Schriftstücken, die die Kommission erlangt hat, ergibt sich, daß die Hersteller verschiedentlich ihre Absicht bekundeten, eine geplante Preisinitiative zu unterstützen, sich dabei aber vergewisserten, daß dies nicht ihr Auftragsvolumen minderte. So heißt es in einem Fernschreiben von ICI vom 18. Dezember 1981 an die verschiedenen Tochtergesellschaften in Europa über die Preisinitiative vom Januar 1982: "Es bleibt abzuwarten, ob dieses Preisniveau erreicht wird; beobachten Sie daher aufmerksam die Situation der individuellen Kunden innerhalb von Europa … Es ist sehr wichtig, daß wir in dieser schwierigen Zeit ein gutes Gleichgewicht zwischen der Preiserhöhung und der Aufrechterhaltung des Auftragsvolumens finden." Ein Vermerk von Wacker vom 9. August 1982 (Anlage P31) enthält folgende Feststellung: "Die Wacker-Strategie der nächsten Monate ist wie folgt: Wir werden uns im Kielwasser der sich abzeichnenden Preiserhöhungsbemühungen unseres Wettbewerbs bewegen, keinesfalls aber weitere Mengeneinbußen hinnehmen, d. h., sollte der Markt diese Erhöhung nicht annehmen, werden wir zu geeigneter Zeit die nötige Preisflexibilität exerzieren." Ebenso enthält ein nicht datierter Vermerk von DSM (Anlage P41) folgenden Kommentar zu der Initiative vom 1. Januar 1983: "DSM wird den Versuch einer Preiserhöhung unterstützen, dabei aber nicht die Rolle des Vorreiters übernehmen. Die Preiserhöhung wird im Rahmen der Verteidigung unserer Marktanteile unterstützt."
[662] 658. Umgekehrt belegen mehrere Schriftstücke die feste Absicht der Hersteller, eine Preisinitiative zu unterstützen, oder die tatsächliche Unterstützung einer solchen trotz des damit verbundenen Risikos von Absatzeinbußen. So heißt es z. B. im Fall von DSM in Anlage P13, daß DSM "die Preisinitiative fest unterstützt" hat, und die Anlage P41 enthält folgende Stelle: "Die Preiserhöhung im September und die Entscheidung von DSM, diese Erhöhung fest zu unterstützen, haben zu Absatzeinbußen geführt, aber zu deutlich besseren Preisen." Im Fall von ICI sind namentlich folgende Anlagen zu nennen: P16 vom 14. Juli 1981 über die Preisinitiative vom 1. Juni, wo von der Unnachgiebigkeit von ICI bei den Preisen die Rede ist, P30 vom 20. Oktober 1983, die den Hinweis enthält, daß ICI "weiterhin eine besonders harte Linie" zu den Septemberpreisen vertritt, und P34 über die Preisinitiative vom September 1982, wo es heißt: "Erneut haben wir die Preiserhöhung uneingeschränkt unterstützt." Zu erwähnen ist im Fall von Wacker auch die Anlage P15 zur Preisinitiative vom 1. September 1981 zur Anhebung des Zielpreises auf 1,80 DM: "Die Wacker-Chemie hat es zu ihrer Politik gemacht, im Interesse der dringend notwendigen Preiskonsolidierung im September kein Geschäft unter DM 180, – % kg zu machen."
[663] 659. Wie die Kommission in Nummer 22 der Entscheidung ausgeführt hat, ist einigen Herstellern gelegentlich ihr aggressives Marktverhalten vorgeworfen worden, das Preisinitiativen, die andere Hersteller unterstützen wollten, störte oder zum Scheitern brachte. So weist der Verfasser eines Vermerks von DSM vom 25. Februar 1981 (Anlage P9) darauf hin, daß "die für den 1. Januar [1981] angekündigte Preiserhöhung auf 1,75 DM gewiß nicht von Erfolg gekrönt war", und er fährt fort: "Die aggressive Haltung einiger französischer und italienischer Lieferanten in den letzten drei Monaten hat zu einem wilden Wettbewerb um die Großkunden und damit zu einem Preisrückgang geführt." So wird in der von ICI stammenden Anlage P23 vom 17. Mai 1982 darauf hingewiesen, daß ICI um seine Marktanteile im Vereinigten Königreich besorgt sei, und es heißt dann weiter: "Shell, BP und DSM waren besonders aggressiv auf diesem Markt." Ein Schriftstück von DSM vom 1. Juni 1981, das die Kommission den Unternehmen mit Schreiben vom 3. Mai 1988 übermittelt hat, führt zum belgischen und luxemburgischen Markt im April 1981 aus: "Der Versuch einer Preiserhöhung ist nach einem Monat gescheitert. Die Aggressivität von BASF, Solvay, ICI und SAV hat zu einem Preisniveau geführt, das weder höher noch niedriger als das des Vormonats ist." In einem anderen Schriftstück von DSM vom Oktober 1981 heißt es zu denselben geographischen Märkten: "Im August wurde Druck auf die Preise ausgeübt. Ein aggressiveres Verhalten mehrerer Hersteller (BASF, SAV, Solvay, Anic und ME) machte sich bemerkbar." Ein Schriftstück von ICI vom 19. April 1982 enthält die Feststellung: "Es ist schwer, eine Bestätigung zu erhalten, wer die Hersteller sind, die die Preise nach unten drücken, aber sowohl Shell als auch Solvay wurden als mögliche Schuldige genannt."
[664] 660. Tatsächlich konnte eine Preisinitiative nur in einem günstigen Umfeld erfolgreich sein, das von den Herstellern nicht kontrollierbar war. So ergibt sich aus der Anlage P52, daß nach Ansicht von ICI mehrere Faktoren zu dem vorhersehbaren Erfolg der für den 1. Mai 1983 vorgesehenen Initiativen beitrugen, darunter die abgebauten Lagerbestände, ein Wiederaufleben der Nachfrage, Gerüchte einer Verknappung, insbesondere für den Export, ein Preisanstieg auf den ausländischen Märkten und die Wirkung der Rationalisierung innerhalb der Branche. Andere Schriftstücke heben die Entwicklung der Nachfrage (z. B. Anlagen P27, P31, P45, P47) oder die der Einfuhren aus Drittländern (z. B. Anlagen P16 und P31) hervor. Umgekehrt führten Faktoren wie Überkapazität, Erhöhung der Einfuhren, Preisrückgang auf den Drittlandsmärkten, die große Zahl von PVC-Herstellern in Westeuropa oder die Inbetriebnahme neuer Anlagen von Shell und ICI zu einer erhöhten Anfälligkeit des Preisniveaus (Anlage P21, die von DSM stammt, für das Jahr 1981).
[665] 661. Diese Prüfung zeigt, daß die Kommission im vorliegenden Fall den Sachverhalt bezüglich der Preisinitiativen zutreffend beurteilt hat.
- Zum Ursprung des Kartells
[666] 662. Aus der vorangegangenen Untersuchung ergibt sich, daß sowohl hinsichtlich der Preise als auch der Quotenregelung, die die beiden wichtigsten Aspekte der beanstandeten Zuwiderhandlung sind, zwischen den in den Planungsdokumenten beschriebenen Vorhaben und den auf dem PVC-Markt tatsächlich festgestellten Verhaltensweisen schon von den ersten Monaten nach der Erstellung dieser Dokumente an eine Korrelation bestand. Zudem bestand, wenn auch in geringerem Umfang, eine Korrelation zwischen den in den Planungsdokumenten beschriebenen Vorhaben und den beanstandeten Verhaltensweisen beim Informationsaustausch zwischen Herstellern.
[667] 663. Das Vorbringen der Klägerinnen zum Ursprung des Kartells ist unter Berücksichtigung des Wortlauts der Planungsdokumente, der Angaben von ICI in ihrer als Anlage 4 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügten Antwort vom 30. April 1984 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission und dieser Korrelation zwischen den Planungsdokumenten und den auf dem Markt tatsächlich festgestellten Verhaltensweisen in den Wochen nach Erstellung dieser Dokumente zu prüfen.
[668] 664. ICI hat in ihrer Antwort auf das Auskunftsverlangen ausgeführt, wenn man bedenke, wo die Unterlagen von der Kommission gefunden worden seien, liege es nahe, daß sich diese auf PVC bezögen. Die Korrelation zwischen den Planungsdokumenten und den auf dem PVC-Markt tatsächlich festgestellten Verhaltensweisen bestätigt diese Feststellung.
[669] 665. Die genaue Identität des Verfassers der Planungsdokumente ist nicht entscheidend. Entscheidend ist allein, ob diese Dokumente als ein Plan für die Bildung eines Kartells angesehen werden können, wie die Kommission behauptet. Im übrigen steht auf dem Schriftstück "response to proposals" der Name des Verfassers; dieser, Herr Sheaff, war Leiter des Geschäftsbereichs "Kunststoffe" von ICI Anfang der 80er Jahre. ICI hat in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen angegeben, daß es naheliege, daß Herr Sheaff auch Verfasser der "checklist" gewesen sei.
[670] 666. Das Gericht kann den Einwand nicht gelten lassen, daß die Planungsdokumente nur den britischen Markt oder den britischen und den italienischen Markt beträfen. Zu beachten ist, daß Nummer 1 der "response to proposals" sich auf ein "gemeinsames Preisniveau für Westeuropa" bezieht. Nummer 2 dieser Antwort betrifft die Möglichkeit eines Quotensystems "auf betrieblicher statt auf nationaler Basis", was zumindest die Möglichkeit ausschließt, daß nur ein einziger geographischer Markt betroffen war. Zudem wird in Nummer 6 der "response to proposals" bei der Prüfung der Möglichkeit einer Preiserhöhung im letzten Quartal 1980 auf Schwierigkeiten insbesondere wegen eines Rückgangs "der Nachfrage in Westeuropa" insgesamt hingewiesen. Auch wenn die "checklist" sich speziell in zwei Punkten auf den britischen und den italienischen Markt bezieht, enthält sie doch eine Nummer 3 mit der Überschrift "Vorschlag für einen neuen Rahmen für die Sitzungen"; die Vorschläge dort sind allgemein gefaßt, so daß nichts dafür spricht, daß sie auf einen oder zwei geographische Märkte beschränkt gewesen wären. Die Tatsache, daß diese Vorschläge unmittelbar auf die Liste der wichtigsten europäischen PVC-Hersteller folgen, bestätigt im Gegenteil den Schluß, daß nicht allein der britische und/oder der italienische Markt gemeint waren. Schließlich werden in den Planungsdokumente namentlich zwei Verhaltensweisen erwähnt, von denen die eine Preisinitiativen, deren erste für das letzte Quartal 1980 geplant war, und die andere eine Quotenregelung in Verbindung mit einer Ausgleichsregelung betraf. Wie die vorangegangene Untersuchung gezeigt hat, erfolgte eine Initiative zum 1. November 1980, um "alle PVC-Preise der Sorte Suspension in Westeuropa auf mindestens 1,50 DM anzuheben", und schon in den ersten Monaten des Jahres 1981 wurde eine Ausgleichsregelung eingeführt, an der sämtliche europäischen Hersteller mit Ausnahme von Shell teilnahmen. Diese Korrelation bestätigt die Feststellung, daß die Planungsdokumente sich nicht bloß auf einen oder zwei nationale Märkte bezogen.
[671] 667. Die Behauptung der Klägerinnen, daß die Planungsdokumente selbst niemals außerhalb der Geschäftsräume von ICI verteilt worden seien, ist nicht entscheidend. Entscheidend ist allein, ob der Inhalt dieser Dokumente ein Vorhaben belegt, das die Organisation des PVC-Marktes unter Ausschluß des freien Wettbewerbs zum Ziel hatte.
[672] 668. Das Argument, die beiden Planungsdokumente ständen in keiner Beziehung zueinander, ist zurückzuweisen. Zunächst wurden diese Dokumente in den Geschäftsräumen von ICI gefunden und waren körperlich miteinander verbunden. Sodann sind in der "checklist" verschiedene Themen aufgezählt, die allgemein Regelungen zur Kontrolle des Absatzvolumens und zur Preisfestsetzung betreffen. Diese Themen werden dann genauer in der "response to proposals" behandelt. Überdies finden sich bestimmte, im einzelnen dargestellte Punkte in beiden Schriftstücken, so der Hinweis auf einen Zeitraum der Stabilisierung von drei Monaten, die Möglichkeit einer Preiserhöhung im letzten Quartal 1980, die Notwendigkeit, zu einer Einigung zu gelangen, um den neuen Produktionskapazitäten Rechnung zu tragen, oder die Möglichkeit von Schwankungen bei den im voraus festgelegten Marktanteilen mit dem gleichen Hinweis auf eine Schwelle von 5 % und die dazu geäußerten Vorbehalte. Somit ist die Ansicht nicht haltbar, daß es keine Beziehung zwischen diesen beiden Schriftstücken gebe.
[673] 669. Die Klägerinnen machen jedoch geltend, daß die Kommission aus den Planungsdokumenten zu Unrecht geschlossen habe, daß das zweite Planungsdokument die Antwort der PVC-Hersteller auf die Vorschläge von ICI (Randnr. 7, letzter Absatz, der Entscheidung) zusammenfasse. Die Planungsdokumente könnten sehr wohl nur der Ausdruck der Meinungen oder Feststellungen von Angestellten von ICI oder von Angestellten dieses Unternehmens und von Solvay sein, die in den Nummern 5 und 6 der "checklist" konkret genannt sei. Im übrigen sei die "response to proposals" vor der "checklist" entstanden, was das Vorbringen der Kommission in sich zusammenfallen lasse.
[674] 670. Der Wortlaut der Planungsdokumente erlaubt nicht den Schluß, den die Kommission in Randnummer 7, letzter Absatz, und Randnummer 10, erster Absatz, der Entscheidung gezogen hat, nämlich daß das zweite Planungsdokument die Antwort der anderen PVC-Hersteller auf die Vorschläge von ICI sei; ebensowenig läßt sich aus dem Wortlaut aber folgern, daß diese Unterlagen nur die Ansichten von Angestellten von ICI wiedergäben.
[675] 671. Selbst wenn die Auffassung der Klägerinnen richtig wäre, würde dies die Beweisführung der Kommission nicht erschüttern. Wie sich nämlich aus der vorangegangenen Prüfung ergibt, hat die Kommission zahlreiche Schriftstücke vorgelegt, die die in der Entscheidung beschriebenen Verhaltensweisen belegen. Zudem bleibt die Tatsache, daß die Planungsdokumente, insbesondere die "checklist", die von einem hochgestellten Manager von ICI stammen, klar den Plan dieses Unternehmens, das zum Zeitpunkt der Ausarbeitung dieser Unterlagen eines der wichtigsten europäischen PVC-Hersteller war, zur Bildung eines Kartells zum Ausdruck bringen. Außerdem wurden die in diesen Unterlagen vorgesehenen Verhaltensweisen in den darauffolgenden Wochen auf dem PVC-Markt in Westeuropa beobachtet. Somit ergibt sich zumindest, daß diese Planungsdokumente die Grundlage für die Beratungen und Erörterungen der Hersteller waren und zur tatsächlichen Umsetzung der geplanten rechtswidrigen Maßnahmen geführt haben.
[676] 672. Die Unterlagen, die die Kommission zur Stützung ihrer tatsächlichen Feststellungen hinsichtlich der Verhaltensweisen auf dem PVC-Markt vorgelegt hat, enthalten zwar keinen Hinweis auf die Planungsdokumente, doch beweist die Korrelation zwischen diesen Verhaltensweisen und den in diesen Unterlagen beschriebenen doch hinreichend, daß zwischen ihnen eine Verbindung besteht.
[677] 673. Die Kommission ist daher zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Planungsdokumente als Ursprung des Kartells angesehen werden können, das in den Wochen nach deren Ausarbeitung in die Tat umgesetzt wurde.
- Zu den Herstellersitzungen
[678] 674. Zunächst ist festzustellen, daß die Klägerinnen nicht bestritten haben, daß informelle Sitzungen der Hersteller außerhalb des Rahmens von Wirtschaftsverbänden stattgefunden haben.
[679] 675. Zudem muß die Kommission bei der Würdigung des Sachverhalts im Hinblick auf Artikel 85 EG-Vertrag nicht unbedingt nachweisen, wann oder gar wo die Sitzungen der Hersteller stattgefunden haben. Im übrigen ergibt sich aus der Antwort von ICI vom 5. Juni 1984 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission (Anlage 4 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), daß diese Sitzungen "ziemlich regelmäßig auf verschiedenen Verwaltungsebenen, d. h. ungefähr einmal monatlich", stattfanden. ICI hat sich namentlich aufgrund der Tatsache, daß keine Unterlagen über diese Sitzungen auffindbar waren, außerstande gesehen, Zeitpunkte und Orte der Sitzungen seit August 1980 anzugeben. Dagegen hat sie Ort und Zeitpunkt von neun informellen Sitzungen der Hersteller in den ersten zehn Monaten des am kürzesten zurückliegenden Jahres, 1983, angeben können. Sechs Sitzungen hätten in Zürich am 15. Februar, 11. März, 18. April, 10. Mai, 18. Juli und 11. August 1983, zwei in Paris am 2. März und 12. September 1983 und eine in Amsterdam am 10. Juni 1983 stattgefunden. ICI hat darüber hinaus die Unternehmen genannt, die zumindest an einigen dieser informellen Sitzungen teilgenommen haben, nämlich, in alphabetischer Reihenfolge: Anic, Atochem, BASF, DSM, Enichem, Hoechst, Hüls, ICI, Kemanord, LVM, Montedison, Norsk Hydro, PCUK, SAV, Shell, Solvay und Wacker.
[680] 676. Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen (Anlage 42 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) ihre Teilnahme an den Sitzungen in Paris am 2. März 1983 und in Zürich am 11. August 1983 bestätigt, für die die Kommission Beweise in Form von Angaben in einem Kalender gefunden hat.
[681] 677. BASF hat in ihrer Antwort vom 8. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen der Kommission (Anlage 5 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) ebenfalls angegeben, daß zwischen 1980 und Oktober 1983 "zeitweise wohl bis zu einmal im Monat" Sitzungen der PVC-Hersteller stattgefunden hätten. Sie hat ebenfalls die Unternehmen angeführt, die an diesen Sitzungen regelmäßig oder unregelmäßig teilgenommen haben; dies sind, in alphabetischer Reihenfolge: Anic, Atochem, Enichem, Hoechst, Hüls, ICI, LVM, Montedison, Norsk Hydro, Shell, Solvay und Wacker.
[682] 678. Schließlich räumt Montedison im Rahmen der vorliegenden Klagen ein, daß die in der Fachpresse genannten informellen Herstellersitzungen stattgefunden hätten.
[683] 679. Die Klägerinnen bestreiten zwar diese informellen Herstellersitzungen nicht, machen jedoch geltend, der ihnen von der Kommission unterstellte Zweck sei nicht bewiesen.
[684] 680. Trotz der Zahl von Sitzungen, die in dem genannten Zeitraum stattgefunden haben, und trotz der Untersuchungen gemäß den Artikeln 11 und 14 der Verordnung Nr. 17 hat die Kommission eine Niederschrift oder einen Bericht über diese Sitzungen nicht finden können. Entgegen der Ansicht der Klägerinnen ergibt sich aus Randnummer 9 der Entscheidung nicht, daß die Kommission allein daraus den Schluß gezogen hat, daß diese Sitzungen einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt hätten.
[685] 681. ICI hat in ihrer Antwort auf die Auskunftsverlangen erklärt, daß in diesen Sitzungen eine Vielzahl von Fragen behandelt "und auch über Preise und Mengen diskutiert" worden sei. Im einzelnen hat sie ausgeführt, daß "in dem betroffenen Zeitraum auf diesen Herstellersitzungen sicherlich über das Preisniveau und die Margen geredet worden ist, die erforderlich sind, um die Verluste der Hersteller verringern zu können. Jeder Hersteller hat dazu seine Gesichtspunkte vorgetragen, die erörtert worden sind. Oft hatten die Hersteller unterschiedliche Ansichten über das angemessene Preisniveau … Jedoch zeichnete sich eine scheinbare Übereinstimmung in bezug auf das mögliche Preisniveau ab, das die Hersteller anstreben könnten. Diese Diskussionen führten jedoch nicht zur Festlegung auf einen Festpreis. Nach den Einschätzungen von ICI damals und auch noch heute war eine solche Übereinstimmung mehr Schein als Wirklichkeit. Feststeht, soweit ICI bekannt ist, daß jedes an diesen Diskussionen beteiligte Unternehmen sich frei gefühlt hat, eigenständig jede Maßnahme zu treffen, die es im Hinblick auf die Besonderheiten seiner Lage für angemessen hielt."
[686] 682. Shell hat in ihrer Antwort vom 3. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen ihre Beteiligung an zwei von ICI aufgeführten Sitzungen eingeräumt. Zu der ersten Sitzung in Paris am 2. März 1983 hat sie ausgeführt: "Auf dieser Sitzung wurden die Schwierigkeiten der Branche diskutiert und Vorschläge von anderen Herstellern für eine Preiserhöhung und eine Mengenkontrolle gemacht. [Der Vertreter von Shell] hat diese Vorschläge nicht unterstützt. [Er] kann sich nicht erinnern, ob eine Vereinbarung oder Übereinstimmung über eine Preisinitiative oder Mengen zustande gekommen ist." Zur zweiten Sitzung in Zürich am 11. August 1983 hat Shell ausgeführt: "Einige Hersteller haben sich zu einer Preisinitiative geäußert. [Der Vertreter von Shell] hat diese Standpunkte nicht unterstützt. [Er] kann sich nicht erinnern, ob eine Vereinbarung oder Übereinstimmung zustande gekommen ist."
[687] 683. Entgegen der Ansicht der Klägerinnen hat die Kommission den Sinn der Antworten einiger Unternehmen auf die Auskunftsverlangen nicht entstellt. So hat sie darauf hingewiesen, daß alle diese Hersteller trotz des Zweckes dieser Sitzungen behauptet hätten, daß keine "Verpflichtungen" eingegangen worden seien (vgl. Randnrn. 8, zweiter Absatz, der Entscheidung für ICI und 9, erster Absatz, insbesondere für Shell und Hoechst).
[688] 684. Im übrigen ist darauf hinzuweisen, daß die Planungsdokumente ausdrücklich darauf abzielten, "einen neuen Rahmen für die Sitzungen" der Hersteller aufzustellen, in denen über Preisvereinbarungen, Absatzkontrolle und Informationsaustausch gesprochen werden sollte. Die Kommission hat solche Sitzungen der Hersteller für den betreffenden Zeitraum nachgewiesen. Wie sich aus der vorangegangenen Untersuchung ergibt, hat die Kommission für den betreffenden Zeitraum Quotenregelungen, Preisregulierung und Informationsaustausch der Hersteller nachgewiesen.
[689] 685. Aus der engen Übereinstimmung zwischen dem, was in den Planungsdokumenten vorgesehen war, und den tatsächlichen Verhaltensweisen auf dem PVC-Markt hat die Kommission zutreffend den Schluß gezogen, daß die informellen Herstellersitzungen tatsächlich die in den Planungsdokumenten genannten Themen zum Gegenstand hatten.
[690] 686. Nach alledem ist festzustellen, daß die Kommission den Zweck der Herstellersitzungen, die zwischen 1980 und 1984 stattgefunden haben, zutreffend ermittelt hat.
[691] 687. Somit sind die Einwände der Klägerinnen bezüglich des Teils "Sachverhalt" der Entscheidung zurückzuweisen.
2. Rechtliche Würdigung
[692] 688. Die Klägerinnen werfen der Kommission mehrere Rechtsfehler bei der Anwendung des Artikels 85 EG-Vertrag vor. Erstens habe die Kommission die den Unternehmen zur Last gelegten Verhaltensweisen rechtsfehlerhaft als Vereinbarung "und/oder" abgestimmte Verhaltensweise qualifiziert (a). Zweitens habe die Kommission im vorliegenden Fall weder den Tatbestand einer Vereinbarung noch den einer abgestimmten Verhaltensweise zutreffend festgestellt (b). Drittens habe sie bei der Bestimmung des Zweckes oder der Wirkung der angeblichen Absprache auch Artikel 85 EG-Vertrag verkannt (c). Schließlich habe sie auch rechtsfehlerhaft eine Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten festgestellt (d).
a) Zur Qualifizierung als Vereinbarung "und/oder" abgestimmte Verhaltensweise
Vorbringen der Parteien
[693] 689. Nach Ansicht von LVM, Elf Atochem, DSM, Hüls und Enichem hat die Kommission gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen, indem sie sich im verfügenden Teil der Entscheidung auf den Hinweis beschränkt habe, daß die Unternehmen an einer Vereinbarung "und/oder" aufeinander abgestimmten Verhaltensweise beteiligt gewesen seien.
[694] 690. Zwar räumen die Klägerinnen ein, daß das Gericht die Möglichkeit einer doppelten Qualifizierung zuläßt (namentlich Urteil des Gerichts vom 17. Dezember 1991 in der Rechtssache T-8/89, DSM/Kommission, Slg. 1991, II-1833, Randnrn. 234 und 235).
[695] 691. Nach Ansicht von Enichem ist die Kommission jedoch über diese Rechtsprechung hinausgegangen, indem sie eine alternative und keine kumulative rechtliche Qualifizierung vorgenommen habe.
[696] 692. LVM, Elf Atochem, DSM und Hüls machen geltend, daß die genannte Rechtsprechung nur unter besonderen Umständen übertragbar sei. So sei eine solche Lösung nur möglich, wenn der Beweis erbracht sei, daß beide Tatbestände erfüllt seien. Im vorliegenden Fall habe die Kommission aber weder den Tatbestand einer Vereinbarung noch den einer abgestimmten Verhaltensweise festgestellt.
[697] 693. LVM, DSM und Enichem tragen vor, die Unterscheidung zwischen diesen beiden rechtlichen Tatbeständen bedinge auch Unterschiede bei der Beweisführung.
Würdigung durch das Gericht
[698] 694. LVM, Elf Atochem, DSM und Hüls zielen mit ihrer Argumentation nicht darauf ab, die Qualifizierung des Sachverhalts als Vereinbarung "und/oder" abgestimmte Verhaltensweise in Artikel 1 der Entscheidung grundsätzlich in Frage zu stellen, sondern machen geltend, daß eine solche Qualifizierung im vorliegenden Fall nicht möglich sei, da weder eine Vereinbarung noch eine abgestimmte Verhaltensweise bewiesen sei. Die Antwort auf diesen Klagegrund hängt daher von der Beurteilung des folgenden Klagegrundes ab.
[699] 695. Nur Enichem wendet sich somit schon grundsätzlich gegen eine Qualifizierung als Vereinbarung "und/oder" abgestimmte Verhaltensweise.
[700] 696. Bei einer komplexen Zuwiderhandlung, an der mehrere Hersteller über mehrere Jahre beteiligt waren und deren Ziel die gemeinsame Regulierung des Marktes war, kann von der Kommission nicht verlangt werden, daß sie die Zuwiderhandlung für jedes Unternehmen zu den einzelnen Zeitpunkten entweder als Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise qualifiziert, da jedenfalls beide Formen der Zuwiderhandlung von Artikel 85 EG-Vertrag umfaßt werden.
[701] 697. Die Kommission kann daher eine solche komplexe Zuwiderhandlung zu Recht als Vereinbarung "und/oder" abgestimmte Verhaltensweise qualifizieren, wenn diese Zuwiderhandlung sowohl Einzelakte aufwies, die als "Vereinbarung" anzusehen sind, als auch Einzelakte, die "abgestimmte Verhaltensweisen" dargestellt haben.
[702] 698. In einem solchen Fall ist die doppelte Qualifizierung nicht so zu verstehen, daß für jeden Einzelakt gleichzeitig und kumulativ der Nachweis erforderlich ist, daß er sowohl die Tatbestandsmerkmale einer Vereinbarung als auch die einer abgestimmten Verhaltensweise erfüllt. Sie bezieht sich vielmehr auf einen Komplex von Einzelakten, von denen einige als Vereinbarung und andere als abgestimmte Verhaltensweisen im Sinne von Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag anzusehen sind, der ja für diesen Typ einer komplexen Zuwiderhandlung keine spezifische Qualifizierung vorschreibt.
[703] 699. Somit ist der Klagegrund von Enichem zurückzuweisen.
b) Zu der im vorliegenden Fall vorgenommenen Qualifizierung als "Vereinbarung" und/oder "abgestimmte Verhaltensweise"
Vorbringen der Klägerinnen
[704] 700. Nach Ansicht der Klägerinnen hat die Kommission weder eine Vereinbarung noch eine abgestimmte Verhaltensweise nachgewiesen.
[705] 701. BASF und ICI sind der Ansicht, daß für die Qualifizierung als Vereinbarung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag Anhaltspunkte für das Eintreten für gemeinsame Ziele und für eine gegenseitige Verpflichtung vorliegen müßten (Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970 in der Rechtssache 44/69, Buchler/Kommission, Slg. 1970, 733, Randnr. 25, und Van Landewyck u. a./Kommission, Randnr. 86). Nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag müsse eine Vereinbarung zwischen mindestens zwei Parteien geschlossen werden, die, selbst wenn dies nicht verbindlich geschehe, ihren Willen zu einem bestimmten Verhalten zum Ausdruck gebracht hätten, das den Wettbewerb verfälschen könne (Urteil des Gerichtshofes vom 20. Juni 1978 in der Rechtssache 28/77, Tepea/Kommission, Slg. 1978, 1391). Somit sei der Nachweis einer gemeinsamen Sicht der Hersteller nicht ausreichend.
[706] 702. Im vorliegenden Fall sei, wie sich aus der Prüfung des Sachverhalts ergebe, nicht bewiesen, daß die "checklist", die nicht erkennen lasse, ob sie an andere Unternehmen gerichtet oder ihnen wenigstens zur Kenntnis gebracht worden sei, den Vorschlag einer geheimen Abrede darstelle. Nichts spreche dafür, daß die "checklist", die ein Vorschlag sei, erörtert, im Einvernehmen erstellt oder von anderen Herstellern angenommen worden sei. Schließlich könne die "response to proposals" nicht die Zustimmung zu dem angeblichen Kartell sein, wie schon der Inhalt des Schriftstücks zeige. Ebenfalls sei nicht bewiesen, daß die in der "response to proposals" zum Ausdruck gebrachten Ansichten von einem der anderen PVC-Hersteller stammten.
[707] 703. Die Tatsache, daß Sitzungen stattgefunden hätten, erlaubt nach Ansicht der Klägerinnen keinen Schluß auf deren Zweck. Im übrigen gebe es kein Bindeglied zwischen diesen Sitzungen und dem angeblichen Gesamtplan. Tatsächlich zeigten die von der Kommission für die Preisinitiativen herangezogenen Schriftstücke, daß die Unternehmen eine eigenständige Preispolitik entsprechend der Marktentwicklung verfolgt hätten. Dagegen gebe es keine Beweise für eine vorherige Abstimmung der Hersteller.
[708] 704. Elf Atochem macht geltend, die Kommission habe eine Vereinbarung nicht zweifelsfrei nachgewiesen. Allein die Tatsache, daß Sitzungen stattgefunden hätten, genüge nicht, um den Zweck solcher Sitzungen oder die Beteiligung der einzelnen Interessenten aufzuzeigen. Die Kommission könne angesichts von Umständen, die höchstens Verhaltensweisen zeigten, die weder allgemein noch einheitlich, noch von Dauer gewesen seien, nicht von einer "fortdauernden umfassenden Vereinbarung" ausgehen. Allenfalls hätte es dann eine Vielzahl einzelner, aufeinander folgender Vereinbarungen gegeben.
[709] 705. Die Klägerinnen wenden sich nicht gegen die Definition der abgestimmten Verhaltensweise in Randnummer 32, dritter Absatz, der Entscheidung (Urteile des Gerichtshofes vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnr. 112, Suiker Unie u. a./Kommission, Randnr. 174, vom 14. Juli 1981 in der Rechtssache 172/80, Züchner, Slg. 1981, 2021, Randnrn. 12 bis 14, und CRAM und Rheinzink/Kommission, Randnr. 20). Nach Ansicht von Elf Atochem, BASF, ICI und Hüls enthält der Begriff der abgestimmten Verhaltensweise jedoch zwei Tatbestandsmerkmale, und zwar ein subjektives (die Abstimmung) und ein objektives (ein Marktverhalten, d. h. eine Verhaltensweise). Im vorliegenden Fall habe die Kommission weder das eine noch das andere Merkmal nachgewiesen. Da die Kommission insbesondere nicht das Marktverhalten der Unternehmen untersucht habe, habe sie den Nachweis einer abgestimmten Verhaltensweise nicht erbracht.
[710] 706. LVM und DSM machen geltend, die Kommission habe unter Verstoß gegen Artikel 85 EG-Vertrag, den Versuch einer Zuwiderhandlung ahnden wollen. Da es nämlich um den Zweck oder die Wirkung gehe, müßten zwangsläufig Ausführungshandlungen vorliegen. Somit fielen der Versuch oder die Absicht, eine unzulässige Vereinbarung zu schließen, und naturgemäß jede Form der Abstimmung, die nicht in Form von "Verhaltensweisen" zur Ausführung gelangt sei, nicht unter Artikel 85 EG-Vertrag. Nach Ansicht von LVM und DSM kann somit die bloße Teilnahme an Sitzungen mit einem unzulässigen Ziel nicht als strafbar angesehen werden.
[711] 707. Elf Atochem trägt vor, daß die Parallelität von Verhaltensweisen nur ein unzureichender Beweis einer abgestimmten Verhaltensweise sein könne (Urteil Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission). Zudem könne die Beweislast nicht allein durch die Feststellung einer solchen Parallelität umgekehrt werden (Schlußanträge des Generalanwalts Darmon, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Slg. 1993, I-1445). Im übrigen sei selbst diese Parallelität der Verhaltensweisen bei Preisen, Quoten und beim Ausgleich von der Kommission nicht nachgewiesen worden.
[712] 708. Nach Ansicht von BASF bedeutet allein die Tatsache, daß konkurrierende Unternehmen ihre Preise erhöhten, nicht, daß sie sich abgesprochen hätten (Urteil vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission). Die Klägerin verweist dazu auf die ausschlaggebende Rolle des Preises für den Absatz von PVC, da es sich um ein austauschbares Massengut handele. Der Preis pendele sich somit auf einem Niveau ein, auf dem sich Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht befänden. Senke ein Hersteller den Preis – die einzige Möglichkeit für ihn, seine Marktanteile zu vergrößern –, führe dies wegen der geringen Zahl von Anbietern zwangsläufig zu einem allgemeinen Preisverfall. Umgekehrt sei eine Preiserhöhung nur erfolgreich, wenn die Marktbedingungen dies zuließen; sei dies nicht der Fall, würden die anderen Hersteller der Erhöhung nicht folgen, und der Hersteller, der den Vorstoß unternommen habe, verliere entweder Marktanteile oder sei gezwungen, seine Preise wieder zurückzunehmen.
[713] 709. Wacker und Hoechst machen geltend, die Kommission habe zu Unrecht darauf verzichtet, das tatsächliche Marktverhalten der Unternehmen zu untersuchen.
[714] 710. SAV wirft der Kommission vor, gegen ihre Verpflichtung zu einer gründlichen und objektiven Prüfung des wirtschaftlichen Kontexts des angeblichen Kartells verstoßen zu haben (Urteile LTM, Suiker Unie u. a./Kommission, Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission und SIV u. a./Kommission). Die Kommission habe im vorliegenden Fall nur einige allgemeine Aussagen über den Markt gemacht (Randnrn. 5 und 6 der Entscheidung), das tatsächliche Funktionieren des Marktes aber nicht untersucht.
[715] 711. Nach Ansicht von Montedison hat die Kommission nicht die Bedingungen berücksichtigt, die für die Festsetzung von Preisen für Erzeugnisse gälten, die für gewerbliche Abnehmer bestimmt seien. Tatsächlich würden die Preislisten regelmäßig veröffentlicht, wobei der vom Branchenführer praktizierte Preis den anderen erlaube, ihre Position festzulegen, ohne daß dies einen Verzicht auf eigenständiges Verhalten bedeuten würde (Urteil Suiker Unie u. a./Kommission). Die Kommission führe gegen diese offenkundigen Tatsachen lediglich den Zweck der Sitzungen, wie er in den Planungsdokumenten beschrieben sei, die Teilnahme fast aller PVC-Hersteller an diesen Sitzungen und die internen Geschäftsberichte der Hersteller an (Entscheidung, Randnr. 21). Es gebe keinen Anhaltspunkt dafür, daß der in einem Unternehmen verfaßte Vorschlag von 1980 akzeptiert und ausgeführt worden sei, wobei die Klägerin im übrigen dort nicht erwähnt worden sei; allein die Tatsache, daß fast alle Hersteller an Sitzungen teilgenommen hätten, sage nichts über den Inhalt dieser Sitzungen aus; schließlich beträfen die geschäftsinternen Berichte nicht die Klägerin. Selbst wenn man unterstelle, daß diese Berichte nach den Sitzungen erstellt worden seien, bedeute dies nicht, daß die Erhöhungen der Listenpreise abgestimmt gewesen seien.
[716] 712. Nach Ansicht von Enichem liegt die Tatsache, daß keine Preisinitiative jemals erfolgreich gewesen sei, nahe, daß es sich um individuelle Bemühungen gehandelt habe. Zudem zeigten die von der Kommission aufgefundenen Schriftstücke (Anlagen P zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), wie stark der Wettbewerb auf dem Markt gewesen sei, was nicht einfach der mangelnden Disziplin eines Kartells zugeschrieben werden könne; mangels unmittelbarer Beweise müßte die Behauptung eines Kartells durch das tatsächliche abgesprochene Verhalten der vermuteten Teilnehmer belegt werden, woran es im vorliegenden Fall fehle.
[717] 713. LVM, Elf Atochem, DSM, SAV, ICI, Hüls und Enichem tragen vor, daß die beschuldigten Unternehmen, selbst wenn man die tatsächlichen Feststellungen der Kommission als bewiesen unterstellte, nur Umstände nachzuweisen brauchten, die diesen Sachverhalt in einem anderen Licht erschienen ließen und damit eine andere Erklärung als die der Kommission ermöglichten (Urteile CRAM und Rheinzink/Kommission, Randnr. 16, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, namentlich Randnrn. 70 und 72).
[718] 714. Bei den Preisinitiativen habe die Kommission die Erklärung der Klägerinnen, die sich auf die wirtschaftliche Theorie der "barometrischen Preisführung" stütze, ohne Erhebung irgendwelcher Beweise zurückgewiesen. Nach dieser Theorie seien die Preisinitiativen jedoch nur die Folge eines normal funktionierenden Marktes ohne irgendeine Abstimmung der Hersteller.
Würdigung durch das Gericht
[719] 715. Nach ständiger Rechtsprechung reicht es für eine Vereinbarung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag aus, daß die betreffenden Unternehmen ihren gemeinsamen Willen zum Ausdruck gebracht haben, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten (namentlich Urteile ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 112, und Van Landewyck u. a./Kommission, Randnr. 86).
[720] 716. Die Klägerinnen versuchen mit ihrer Argumentation zumindest teilweise nachzuweisen, daß die Planungsdokumente nicht als Vereinbarung im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag angesehen werden können. Diese Argumentation geht jedoch ins Leere.
[721] 717. Wie sich aus der Begründung der Entscheidung, insbesondere ihren Randnummern 29 bis 31 über die Struktur der Vereinbarung ergibt, hat die Kommission die Planungsdokumente nicht als Vereinbarung im Sinne dieser Bestimmung angesehen. Wie bereits festgestellt, hat die Kommission im "Sachverhalt" der Entscheidung darauf hingewiesen, daß sie diese Unterlagen als "Plan für das Kartell" betrachte.
[722] 718. Zudem wiederholen die Klägerinnen mit ihren Argumenten die von ihnen in tatsächlicher Hinsicht erhobenen Einwände, die vom Gericht bereits dargestellt und zurückgewiesen worden sind.
[723] 719. Somit können die Klägerinnen nicht mit Erfolg behaupten, daß die auf den Herstellersitzungen erfolgte gemeinsame Ausarbeitung von Quoten- und Ausgleichsregelungen, Preisinitiativen und eines Informationsaustauschs über die tatsächlichen Verkäufe sowie die gemeinsame Durchführung dieser Maßnahmen nicht Ausdruck eines gemeinsamen Willens waren, sich auf dem Markt in bestimmter Weise zu verhalten.
[724] 720. Artikel 85 EG-Vertrag stellt den Begriff "aufeinander abgestimmte Verhaltensweise" neben die Begriffe "Vereinbarungen zwischen Unternehmen" und "Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen", um durch seine Verbotsvorschrift eine Form der Koordinierung zwischen Unternehmen zu erfassen, die zwar noch nicht bis zum Abschluß eines Vertrages im eigentlichen Sinne gediehen ist, jedoch bewußt eine praktische Zusammenarbeit an die Stelle des mit Risiken verbundenen Wettbewerbs treten läßt (Urteil vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnr. 64). Die Kriterien der Koordinierung und der Zusammenarbeit, auf die in der Rechtsprechung des Gerichtshofes abgestellt wird, verlangen nicht die Ausarbeitung eines eigentlichen "Plans"; sie sind vielmehr im Sinne des Grundgedankens der Wettbewerbsvorschriften des Vertrages zu verstehen, wonach jeder Unternehmer selbständig zu bestimmen hat, welche Politik er auf dem Gemeinsamen Markt zu betreiben gedenkt. Es ist zwar richtig, daß dieses Selbständigkeitspostulat nicht das Recht der Unternehmen beseitigt, sich dem festgestellten oder erwarteten Verhalten ihrer Mitbewerber mit wachem Sinn anzupassen; es steht jedoch streng jeder unmittelbaren oder mittelbaren Fühlungnahme zwischen Unternehmen entgegen, die bezweckt oder bewirkt, entweder das Marktverhalten eines gegenwärtigen oder potentiellen Mitbewerbers zu beeinflussen oder einen solchen Mitbewerber über das Marktverhalten ins Bild zu setzen, zu dem man sich selbst entschlossen hat oder das man in Erwägung zieht (Urteil Suiker Unie u. a./Kommission, Randnrn. 173 und 174).
[725] 721. Die Klägerinnen stellen diese Rechtsprechung, auf die die Kommission in Randnummer 33 der Entscheidung verwiesen hat, nicht in Frage, wohl aber deren Übertragung auf den vorliegenden Fall.
[726] 722. Indem die Hersteller aber länger als drei Jahre Sitzungen, deren Zweck von der Kommission zutreffend festgestellt worden ist, veranstaltet und daran teilgenommen haben, haben sie sich an einer Abstimmung beteiligt, durch die sie die Risiken des Wettbewerbs bewußt durch eine praktische Zusammenarbeit untereinander ausgeschaltet haben.
[727] 723. Damit hat jeder Hersteller nicht nur das Ziel verfolgt, im voraus die Ungewißheit über das künftige Verhalten seiner Wettbewerber zu beseitigen, sondern er mußte bei der Festlegung der Politik, die er auf dem Markt verfolgen wollte, zwangsläufig auch unmittelbar oder mittelbar die in diesen Sitzungen erhaltenen Informationen berücksichtigen.
[728] 724. Die Klägerinnen führen jedoch gegen die Folgerungen der Kommission die genannten Urteile CRAM und Rheinzink/Kommission sowie Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission an.
[729] 725. Nach dieser Rechtsprechung brauchen, wenn die Kommission bei ihren Überlegungen unterstellt, daß sich die festgestellten Tatsachen nur mit einer Abstimmung zwischen den Unternehmen erklären lassen, die Kläger nur Umstände nachzuweisen, die den von der Kommission festgestellten Sachverhalt in einem anderen Licht erscheinen lassen und damit eine andere Erklärung dieses Sachverhalts ermöglichen, als sie die Kommission gegeben hat (Urteile CRAM und Rheinzink/Kommission, Randnr. 16, sowie Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, insbesondere Randnrn. 126 und 127).
[730] 726. Diese Rechtsprechung ist auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar.
[731] 727. Wie die Kommission nämlich in Randnummer 21 der Entscheidung festgestellt hat, stützt sich der Beweis der Abstimmung der Unternehmen nicht auf die bloße Feststellung eines parallelen Marktverhaltens, sondern auf Unterlagen, die belegen, daß die Verhaltensweisen abgesprochen waren (vgl. vorstehend, Randnrn. 582 ff.).
[732] 728. In diesem Fall können sich die Klägerinnen nicht darauf beschränken, eine vermeintlich andere Erklärung für den von der Kommission festgestellten Sachverhalt zu geben, sondern müssen diese durch die von der Kommission vorgelegten Schriftstücke nachgewiesenen Tatsachen entkräften. Wie die Prüfung des Sachverhalts zeigt, ist dies hier nicht geschehen.
[733] 729. Somit hat die Kommission zu Recht die Zuwiderhandlung hilfsweise als abgestimmte Verhaltensweise im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag qualifiziert.
[734] 730. Wie sich aus Randnummer 31 der Entscheidung ergibt, beruhen die Verhaltensweisen auf einer Absprache, die mehrere Jahre lang wirksam war, auf dem gleichen Verfahren beruhte und das gleiche gemeinsame Ziel hatte. Daher ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß diese Verhaltensweisen als eine einzige fortdauernde Absprache und nicht als eine Reihe einzelner Vereinbarungen anzusehen waren.
[735] 731. Somit ist dieser Klagegrund insgesamt zurückzuweisen.
c) Zur Qualifizierung des Zweckes oder der Wirkung als wettbewerbswidrig
Vorbringen der Parteien
[736] 732. LVM und DSM machen geltend, daß der Begriff der Wettbewerbsbeschränkung als wesentliche Merkmale für die Feststellung einer Zuwiderhandlung ein offenkundiges Verhalten und dessen Auswirkung auf den Markt voraussetze. Da im vorliegenden Fall kein bestimmtes Verhalten nachgewiesen sei, hätte die Kommission sich darum bemühen müssen, eine Auswirkung auf den PVC-Markt nachzuweisen. Dies habe die Kommission nicht getan, sondern sich mit im übrigen rein spekulativen Behauptungen begnügt.
[737] 733. LVM, DSM, Wacker und Hoechst führen aus, die Kommission habe zu Unrecht keine wirtschaftliche Analyse der Wirkungen des angeblichen Kartells durchgeführt oder durchführen lassen, obwohl sie verpflichtet sei, die Auswirkungen auf einen Markt zu beurteilen und dem wirtschaftlichen Kontext Rechnung zu tragen (namentlich Urteile LTM, und Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 70). Im übrigen habe sie, ohne irgendwelche Beweise anzuführen, sämtliche wirtschaftlichen Schlußfolgerungen zurückgewiesen, zu denen ein von den beschuldigten Unternehmen beauftragter Sachverständiger gelangt sei und nach denen der PVC-Markt durch einen lebhaften Wettbewerb gekennzeichnet gewesen sei. Wacker und Hoechst beantragen wegen der von der Kommission durchgeführten unzureichenden Untersuchung der Kartellwirkungen die Einholung eines Sachverständigengutachtens hierüber oder die Einräumung einer Frist für die Vorlage eines solchen Gutachtens. Nach Ansicht von SAV hat sich die Kommission auf einige allgemeine Feststellungen hinsichtlich des Marktes beschränkt (Randnrn. 5 und 6 der Entscheidung), aber nicht untersucht, wie dieser tatsächlich funktioniert habe.
[738] 734. ICI macht geltend, die Kommission habe bei der Beurteilung der Wirkungen des angeblichen Kartells auf die Preise nicht den vorgelegten wirtschaftlichen Beweisen Rechnung getragen. Diese hätten gezeigt, daß der PVC-Markt durch einen lebhaften Wettbewerb gekennzeichnet gewesen sei, was bestätige, daß die PVC-Preise keinem anderen Einfluß als dem freien Wettbewerb ausgesetzt gewesen seien. Die Kommission habe nichts zur Stützung ihrer Auffassung vorgetragen, was über bloße Behauptungen hinausgegangen sei. Tatsächlich habe, was auch immer in den Sitzungen vor sich gegangen sei, dies keine Auswirkung auf die Preise gehabt.
[739] 735. Nach Ansicht von BASF hat die Kommission die Wirkungen des angeblichen Kartells unzureichend aufgeklärt, wie die Streichung einer Stelle in Randnummer 37 der deutschen Fassung der angefochtenen Entscheidung gegenüber der Entscheidung 1988 zeige.
[740] 736. Montedison führt aus, daß der PVC-Sektor nach der erheblichen Erhöhung der Ölpreise 1979 in eine schwere Krise geraten sei. Sämtliche Unternehmen hätten von 1980 bis 1986 mit Verlust produziert, so daß einige von ihnen gezwungen gewesen seien, sich vom Markt zurückzuziehen. Angesichts dieser Situation hätten sie von ihrem Versammlungsrecht und ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht. Daher seien die beanstandeten Verhaltensweisen nicht das Ergebnis rechtswidriger Abstimmungen; sie seien nur der Versuch eines teilweisen Ausgleichs der Verluste, was das einzig vernünftige Verhalten auf einem von einer Krise betroffenen Markt darstelle. Im übrigen hätten die beanstandeten Verhaltensweisen keine Auswirkung auf den Wettbewerb gehabt; die Kommission habe selbst festgestellt, daß die Preisinitiativen nur teilweise oder überhaupt nicht erfolgreich gewesen seien.
[741] 737. Hüls macht geltend, die angeblichen Preisinitiativen seien wirkungslos geblieben, da die Marktpreise die angeblichen Zielpreise nicht erreicht hätten.
[742] 738. Nach Ansicht von Enichem hat die Kommission Auswirkungen auf den Markt nicht nachweisen können. Der angebliche psychologische Effekt, auf den sich die Kommission berufe, sei rechtlich nicht genau faßbar. Im übrigen hätten sich die Preise von Januar 1981 bis Oktober 1984 nur geringfügig entwickelt.
Würdigung durch das Gericht
[743] 739. Die Würdigung des Sachverhalts ergibt, daß die den Unternehmen vorgeworfene Zuwiderhandlung namentlich in der gemeinsamen Festsetzung der Preise und Verkaufsmengen für den PVC-Markt bestand. Eine solche Zuwiderhandlung, die als Beispiel ausdrücklich in Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag genannt ist, verfolgt einen wettbewerbswidrigen Zweck.
[744] 740. Die Tatsache, daß sich der PVC-Sektor zum Zeitpunkt der entscheidungserheblichen Ereignisse in einer schweren Krise befand, kann nicht zu dem Schluß führen, daß die Bedingungen für die Anwendung des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag nicht erfüllt waren. Zwar kann diese Marktlage gegebenenfalls berücksichtigt werden, um ausnahmsweise eine Freistellung nach Artikel 85 Absatz 3 EG-Vertrag zu erlangen, doch ist festzustellen, daß die PVC-Hersteller niemals einen solchen Freistellungsantrag nach Artikel 4 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 gestellt haben. Schließlich hat die Kommission bei ihrer Würdigung die Krise, von der die Branche betroffen war, nicht außer acht gelassen, wie sich insbesondere aus Randnummer 5 der Entscheidung ergibt; im übrigen hat sie ihr auch bei der Bemessung der Geldbuße Rechnung getragen.
[745] 741. Nach ständiger Rechtsprechung brauchen bei der Anwendung von Artikel 85 Absatz 1 die tatsächlichen Auswirkungen einer Vereinbarung nicht berücksichtigt zu werden, wenn sich ergibt, daß diese eine Verhinderung, Einschränkung oder Verfälschung des Wettbewerbs bezweckt (namentlich Urteil des Gerichtshofes vom 13. Juli 1966 in den Rechtssachen 56/64 und 58/64, Consten und Grundig/Kommission, Slg. 321, 390). Da der wettbewerbswidrige Zweck der den Klägerinnen vorgeworfenen Verhaltensweisen bewiesen ist, ist der Klagegrund, soweit er dahin zu verstehen ist, daß mit ihm der Nachweis tatsächlicher wettbewerbswidriger Wirkungen verlangt wird, somit zurückzuweisen.
[746] 742. In der deutschen Fassung der angefochtenen Entscheidung sind zwei Sätze der Randnummer 37 der deutschen Fassung der Entscheidung 1988 über die Kartellwirkungen gestrichen worden. Da mit dieser Streichung lediglich die verschiedenen Sprachfassungen der angefochtenen Entscheidung angeglichen werden sollten, können die Klägerinnen dies nicht als Beweis einer unzureichenden Untersuchung der Wirkungen der Zuwiderhandlung anführen.
[747] 743. Schließlich hat sich die Kommission entgegen den Behauptungen einiger Klägerinnen nicht auf Spekulationen über die Wirkungen der beanstandeten Zuwiderhandlung beschränkt. Sie hat nämlich in Randnummer 37 der Entscheidung nur festgestellt, daß es eine Frage von Spekulationen bleibe, ob im Fall fehlenden kollusiven Zusammenwirkens die Preise im Langzeitvergleich niedriger gewesen wären.
[748] 744. Deswegen ist die Kommission genau zu dem Ergebnis gelangt, daß die Zuwiderhandlung nicht wirkungslos geblieben ist.
[749] 745. So hat die Festsetzung europäischer Zielpreise den freien Wettbewerb auf dem PVC-Markt zwangsläufig beeinträchtigt. Die Käufer hatten auf diese Weise nur einen begrenzten Verhandlungsspielraum hinsichtlich der Preise. Wie im übrigen bereits festgestellt worden ist (vorstehend, Randnr. 655), belegen mehrere der Anlagen P1 bis P70, daß die Käufer sich oft vor dem Inkrafttreten einer Preisinitiative eindeckten. Dies bestätigt die Schlußfolgerung der Kommission, daß die Käufer sich der Tatsache bewußt waren, daß die Preisinitiativen der Hersteller ihren Verhandlungsspielraum einschränken und daher nicht wirkungslos bleiben würden.
[750] 746. Wenn die Hersteller auch einige Initiativen als gescheitert angesehen haben (vgl. vorstehend, Randnr. 654), was die Kommission in ihrer Entscheidung keineswegs verkannt hat, wird in mehreren der Anlagen P1 bis P70 doch von einem vollständigen oder teilweisen Erfolg der Preisinitiativen gesprochen. Tatsächlich haben die Hersteller selbst verschiedentlich festgestellt, daß eine Preisinitiative entweder einen Zeitraum des Preisrückgangs beendet oder zu einem Ansteigen der Marktpreise geführt habe. Als Beispiele hierfür lassen sich anführen die Anlagen P3 (5Der Preiserhöhungsschritt per 1. November [1980] hat sich durchgesetzt, weshalb ein zweiter Schritt eingeleitet wurde …"), P5 (5Die Preiserhöhungen zum 1. November [1980] waren kein vollständiger Erfolg, doch sind die Preise erheblich gestiegen"), P17 (5Die Preiserhöhungen von Juni [1981] sind allmählich in ganz Europa akzeptiert worden"), P23 (5Der Preisverfall ist zum Ende des Monats [April 1982] aufgrund der Ankündigung einer allgemeinen Anhebung der europäischen Preise auf 1,35 DM zum 1. Mai gestoppt worden") oder P33 (5Die zum 1. September [1982] eingeleitete Preiserhöhung für homopolymeres PVC auf mindestens DM 150, – % kg hatte von der Tendenz her Erfolg …").
[751] 747. Somit ergibt sich aus den objektiven Feststellungen der Hersteller im entscheidungserheblichen Zeitraum selbst, daß die Preisinitiativen die Höhe der Marktpreise beeinflußt haben.
[752] 748. Wie die Kommission im übrigen festgestellt hat (Randnr. 38 der Entscheidung), wurden die beanstandeten Verhaltensweisen über mehr als drei Jahre immer wieder beschlossen. Es ist daher unwahrscheinlich, daß die Hersteller diese Verhaltensweisen seinerzeit als völlig wirkungs- und nutzlos angesehen haben.
[753] 749. Infolgedessen hat die Kommission die Wirkungen der den Klägerinnen zur Last gelegten Zuwiderhandlung zutreffend beurteilt. Unter Berücksichtigung der objektiven Feststellungen der Hersteller selbst im entscheidungserheblichen Zeitraum war die Kommission somit nicht verpflichtet, eine eingehende Wirtschaftsstudie über die Auswirkungen des Kartells auf den Markt zu erstellen. Somit ist dem Antrag von Wacker und Hoechst, die Einholung eines solchen Gutachtens anzuordnen, nicht stattzugeben.
[754] 750. Daher ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
d) Zur Feststellung einer Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten
Vorbringen der Parteien
[755] 751. Nach Ansicht von LVM und DSM hat die Kommission nicht nachgewiesen, daß die von ihr beanstandeten Verhaltensweisen den Handel zwischen Mitgliedstaaten beeinträchtigt hätten. So sei für die Beeinträchtigung des Handels zwischen Mitgliedstaaten nicht entscheidend, daß die Vereinbarung "geeignet" gewesen sei, den Handel zu beeinflussen, sondern maßgeblich sei die wirtschaftliche Auswirkung der Vereinbarung; diese Auswirkung oder die Möglichkeit einer solchen müsse bewiesen werden (Urteile des Gerichtshofes LTM, und vom 11. Juli 1985 in der Rechtssache 42/84, Remia u. a./Kommission, Slg. 1985, 2545, Randnr. 22).
[756] 752. Nach Ansicht von ICI hat sich die Kommission bei der Prüfung der Spürbarkeit der Beeinträchtigung mit unbewiesenen Behauptungen begnügt. Sie habe die Beweise wirtschaftlicher Art, die die Klägerin in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte vorgelegt habe, nicht berücksichtigt. Tatsächlich hätte, was auch immer sich in den Herstellersitzungen möglicherweise zugetragen habe, dies den Handel zwischen Mitgliedstaaten nicht beeinflussen können.
Würdigung durch das Gericht
[757] 753. Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verlangt, daß die Vereinbarungen und abgestimmten Verhaltensweisen geeignet sind, den Handel zwischen Mitgliedstaaten zu beeinträchtigen. Daher muß die Kommission nicht nachweisen, daß eine solche Beeinträchtigung tatsächlich stattgefunden hat (Urteil des Gerichtshofes vom 17. Juli 1997 in der Rechtssache C-219/95 P, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1997, I-4411, Randnrn. 19 und 20).
[758] 754. Zudem fallen nach der Rechtsprechung Vereinbarungen, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen und aufeinander abgestimmte Verhaltensweisen nicht unter die Verbotsvorschrift des Artikels 85, wenn sie den Markt mit Rücksicht auf die schwache Stellung der Beteiligten auf dem Markt der fraglichen Erzeugnisse nur geringfügig beeinträchtigen (Urteil des Gerichtshofes vom 9. Juli 1969 in der Rechtssache 5/69, Völk, Slg. 1969, 295, Randnr. 7).
[759] 755. Wie die Kommission in Randnummer 39 ihrer Entscheidung festgestellt hat, erstreckten sich die beanstandeten Verhaltensweisen auf alle Mitgliedstaaten und deckten praktisch den gesamten innergemeinschaftlichen Handel mit diesem Industrieerzeugnis ab. Zudem verkauften die meisten Hersteller ihre Erzeugnisse in mehr als einem Mitgliedstaat. Schließlich ist unbestritten, daß wegen des Ungleichgewichts von Angebot und Nachfrage auf den verschiedenen nationalen Märkten ein reger innergemeinschaftlicher Handel herrschte.
[760] 756. Somit ist die Kommission in Randnummer 39 der Entscheidung zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die beanstandeten Verhaltensweisen geeignet waren, den Handel zwischen Mitgliedstaaten spürbar zu beeinträchtigen.
e) Zu den anderen Klagegründen rechtlicher Art
Zum Klagegrund eines Ermessensmißbrauchs
[761] 757. Nach Ansicht von BASF hat die Kommission ermessensmißbräuchlich gehandelt, indem sie nicht die erforderlichen Nachprüfungen durchgeführt habe, um ihre Behauptungen hinsichtlich der Marktauswirkungen des Kartells, des wirtschaftlichen Zusammenhangs, der Dauer der Zuwiderhandlung und der Beschränkung des freien Spiels der Marktkräfte zu belegen. Damit habe sie das ihr durch Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 eingeräumte Ermessen mißbraucht.
[762] 758. Die Kommission macht geltend, dieser Klagegrund sei nur eine Wiederholung vorangegangener Klagegründe und müsse daher aus den gleichen Gründen zurückgewiesen werden. Jedenfalls habe sie von ihren Befugnissen nicht zu anderen als den angegebenen Zwecken Gebrauch gemacht.
[763] 759. Da keine objektiven, überzeugenden und schlüssigen Anhaltspunkte dafür vorliegen, daß die Kommission die Entscheidung ausschließlich oder überwiegend zu anderen als den angegebenen Zwecken erlassen hat, ist dieser Klagegrund zurückzuweisen.
Zum Klagegrund der fehlenden Übereinstimmung zwischen dem verfügenden Teil und der Begründung der Entscheidung
[764] 760. Shell rügt die mangelnde Übereinstimmung zwischen Artikel 1 des verfügenden Teils der Entscheidung und deren Begründung. In der Begründung der Entscheidung sei Shell erstens nur wegen einer abgestimmten Verhaltensweise und nicht wegen einer Vereinbarung zwischen Unternehmen gerügt worden (Entscheidung, Randnr. 34), zweitens sei dort ihre Teilnahme bei der Ausarbeitung der Planungsdokumente ausgeschlossen worden (Randnr. 48), drittens habe sich die Teilnahme von Shell von Januar 1982 bis Oktober 1983 erstreckt (Randnrn. 48 und 54) und schließlich werde ihre Beteiligung dort als begrenzt bezeichnet (Randnrn. 48 und 53). Alle diese Punkte würden im verfügenden Teil anders behandelt.
[765] 761. Der verfügende Teil einer Entscheidung ist unter Berücksichtigung der ihn tragenden Gründe auszulegen.
[766] 762. Im vorliegenden Fall besteht zwischen Artikel 1 des verfügenden Teils, da er sich nicht nur auf eine Vereinbarung, "sondern auch auf" eine abgestimmte Verhaltensweise bezieht, und Randnummer 34 der Entscheidung kein Widerspruch. Da dieser Artikel Zuwiderhandlungen "in den in dieser Entscheidung genannten Zeiträumen" betrifft, kann Shell sich nicht mit Erfolg auf einen Widerspruch zur Begründung der Entscheidung berufen, soweit es um ihre fehlende Beteiligung an dem Plan für ein Kartell 1980 und die Dauer ihrer Beteiligung geht. Schließlich enthält der verfügende Teil keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Kommission der begrenzten Rolle der Klägerin, wie sie in den Randnummern 48 und 53 der Entscheidung beschrieben wird, nicht Rechnung getragen hätte.
[767] 763. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
C – Zur Beteiligung der Klägerinnen an der festgestellten Zuwiderhandlung §
[768] 764. Die Klägerinnen werfen der Kommission erstens vor, vom Grundsatz einer kollektiven Verantwortlichkeit ausgegangen zu sein (1). Zweitens machen sie geltend, daß ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung jedenfalls nicht bewiesen sei (2).
1. Zu der angeblichen Zurechnung einer kollektiven Verantwortlichkeit
Vorbringen der Parteien
[769] 765. Elf Atochem, BASF, SAV, ICI und Enichem sind der Ansicht, daß die Verantwortlichkeit eines Unternehmens nach einem weltweit anerkannten Grundsatz nur individuell sein könne.
[770] 766. Im vorliegenden Fall habe die Kommission gegen diesen Grundsatz verstoßen. In Randnummer 25 der Entscheidung vertrete sie nämlich die Ansicht, es brauche nicht nachgewiesen zu werden, daß jedes Kartellmitglied an jeder Veranstaltung teilgenommen habe; vielmehr reiche es aus, die Beteiligung der Unternehmen an dem Kartell "insgesamt" zu würdigen.
[771] 767. Die Kommission entgegnet, sie sei sich, wie sich insbesondere aus den Randnummern 25, zweiter Absatz, 26, erster Absatz, und 31 a. E. der Entscheidung ergebe, durchaus der Notwendigkeit bewußt gewesen, die individuelle Beteiligung der einzelnen Klägerinnen an dem beanstandeten Kartell nachzuweisen.
Würdigung durch das Gericht
[772] 768. In Randnummer 25, zweiter Absatz, der Entscheidung hat die Kommission folgendes festgestellt: "Hinsichtlich der praktischen Verwertbarkeit der Beweise ist die Kommission der Auffassung, daß neben dem Hinweis des Bestehens eines Kartells durch überzeugende Beweise auch bewiesen werden muß, daß alle verdächtigen Teilnehmer der gemeinsamen Regelung beigetreten waren. Dies bedeutet jedoch nicht, daß schriftliches Beweismaterial dafür beigebracht werden muß, daß jeder Teilnehmer an allen die Zuwiderhandlung darstellenden Sitzungen usw. teilnahm … Im vorliegenden Fall war es wegen des Fehlens von Unterlagen über die Preise nicht möglich, die tatsächliche Beteiligung aller Hersteller an abgestimmten Preisinitiativen nachzuweisen. Die Kommission hat deshalb bei den einzelnen verdächtigen Teilnehmern geprüft, ob ausreichend zuverlässige Beweise für ihre Beteiligung an dem Kartell insgesamt vorliegen, anstatt nach Nachweisen für seine Teilnahme an den einzelnen Veranstaltungen zu fahnden."
[773] 769. In Randnummer 31 der Entscheidung heißt es am Ende: "Entscheidend ist im vorliegenden Fall das lange Zeit andauernde Zusammenwirken der Hersteller in Richtung auf ein gemeinsames gesetzwidriges Ziel. Jeder Teilnehmer ist nicht nur für seine eigene unmittelbare Rolle, sondern auch für die Durchführung des Kartells insgesamt verantwortlich."
[774] 770. Wie sich insbesondere aus der Randnummer 25, zweiter Absatz, erster Satz, der Entscheidung ergibt, hat die Kommission die Notwendigkeit des Nachweises der Beteiligung jedes einzelnen Unternehmens an dem beanstandeten Kartell durchaus erkannt.
[775] 771. Sie hat dazu auf den Begriff des "Kartells insgesamt" zurückgegriffen. Daraus läßt sich aber nicht herleiten, daß sie vom Grundsatz einer kollektiven Verantwortlichkeit in dem Sinne ausgegangen ist, daß sie einigen Unternehmen die Beteiligung an Handlungen, zu denen sie keinen Beitrag geleistet haben, nur zugerechnet hätte, weil die Beteiligung anderer Unternehmen an diesen Handlungen bewiesen ist.
[776] 772. Der Begriff des "Kartells insgesamt" ist nämlich untrennbar mit dem Wesen der fraglichen Zuwiderhandlung verbunden. Diese besteht, wie die Sachverhaltswürdigung ergeben hat, in der über mehrere Jahre andauernden regelmäßigen Veranstaltung von Sitzungen konkurrierender Hersteller mit dem Ziel der Festlegung unzulässiger Praktiken zur künstlichen Regulierung des PVC-Marktes.
[777] 773. Ein Unternehmen kann für ein solches Gesamtkartell zur Verantwortung gezogen werden, auch wenn es nachweislich nur an einem oder mehreren Bestandteilen dieses Kartells unmittelbar mitgewirkt hat, sofern es wußte oder zwangsläufig wissen mußte, daß die Absprache, an der es insbesondere durch die Teilnahme an regelmäßig über mehrere Jahre stattfindenden Sitzungen beteiligt war, Teil eines Gesamtsystems war, das auf die Verfälschung des normalen Wettbewerbs gerichtet war, und daß sich dieses System auf sämtliche Bestandteile des Kartells erstreckte.
[778] 774. Auch wenn die Kommission im vorliegenden Fall wegen des Fehlens von Unterlagen die Beteiligung jedes einzelnen Unternehmens an der Durchführung der Preisinitiativen, einer der Erscheinungsformen des Kartells, nicht nachweisen konnte, meinte sie doch, beweisen zu können, daß jedes Unternehmen jedenfalls an den Herstellersitzungen teilgenommen hatte, die namentlich die gemeinsame Preisfestlegung zum Ziel hatten.
[779] 775. In Randnummer 20, vierter und fünfter Absatz, heißt es: "Die Kommission kann daher wegen der fehlenden Preisunterlagen der Hersteller nicht beweisen, daß alle Hersteller gleichzeitig identische Preislisten einführten oder die 'europäischen' DM-Ziele anwandten. Es kann jedoch nachgewiesen werden, daß eines der Hauptziele der Sitzungen, an denen alle Hersteller teilnahmen, darin bestand, Preisziele zu setzen und die Preisinitiativen zu koordinieren."
[780] 776. Die gleiche Auffassung kommt in Randnummer 26, fünfter Absatz, zum Ausdruck: "Das Maß an Verantwortung jedes Teilnehmers hängt jedoch nicht von den Unterlagen ab, die zufällig oder auf andere Weise bei dem betreffenden Unternehmen aufgefunden werden, sondern eher von seiner Beteiligung an dem Kartell insgesamt. Die Tatsache, daß die Kommission keine Beweise für das Preisverhalten einiger Unternehmen erlangte, vermindert somit nicht den Umfang ihrer Beteiligung, da sie als Vollmitglieder eines Kartells ausgewiesen wurden, bei dem Preisinitiativen geplant waren."
[781] 777. Die Kommission macht somit in der Entscheidung geltend, daß sie die Teilnahme jedes einzelnen Unternehmens an bestimmten Veranstaltungen des Kartells und aufgrund einer Vielzahl schlüssiger Indizien auch an den Herstellersitzungen, in denen sich die Unternehmen vor allem über die in den folgenden Tagen anzuwendenden Preise verständigten, habe nachweisen können. Die Kommission hat sich dabei zulässigerweise darauf gestützt, daß das jeweilige Unternehmen in den Planungsdokumenten erwähnt wird, in denen Maßnahmen vorgesehen waren, die in den Wochen nach der Erstellung dieser Dokumente durchgeführt und auf dem PVC-Markt festgestellt wurden, daß die Beteiligung des Unternehmens an den anderen Veranstaltungen des Kartells nachgewiesen ist oder daß das Unternehmen von BASF und ICI als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt wurde.
[782] 778. Aus alledem ergibt sich, daß die Kommission dem einzelnen Unternehmen keine kollektive Verantwortlichkeit oder eine Verantwortlichkeit für eine Veranstaltung des Kartells, zu der das Unternehmen keinen Beitrag geleistet hat, angelastet hat, sondern es nur für die Handlungen verantwortlich gemacht hat, an denen es beteiligt war.
2. Zur individuellen Beteiligung der Klägerinnen an der Zuwiderhandlung
[783] 779. Alle Klägerinnen in den vorliegenden Rechtssachen mit Ausnahme von ICI bestreiten entweder im Rahmen eines besonderen Klagegrundes oder im Rahmen anderer Klagegründe, die z. B. die Sachverhaltsfeststellung oder die Regeln der Beweislast betreffen, daß ihre Teilnahme an der beanstandeten Zuwiderhandlung bewiesen sei.
[784] 780. Somit ist nacheinander der Fall jeder einzelnen Klägerin mit Ausnahme von ICI zu prüfen. Diese Prüfung läßt sich nicht von der des Beweiswerts der von der Kommission angeführten Unterlagen und der von ihr daraus gezogenen rechtlichen Folgerungen, die bereits untersucht worden sind, trennen.
a) DSM
Vorbringen der Klägerinnen
[785] 781. Erstens bestreiten die Klägerinnen, an Herstellersitzungen teilgenommen zu haben, auf denen Preise und Marktanteile erörtert worden seien. Die Beweismittel der Kommission hierfür seien nämlich offenkundig unzureichend. So beweise die Erwähnung des Namens DSM in der "checklist", deren Beweiswert bereits in Frage gestellt worden sei, weder, daß die dort vorgesehene Sitzung stattgefunden, noch daß DSM daran teilgenommen habe. Die Erklärungen von ICI, die im übrigen mit allem Vorbehalt abgegeben worden seien, beträfen Ereignisse aus dem Jahr 1983, dem Jahr, in dem DSM den PVC-Markt verlassen habe. Schließlich sei DSM von BASF nicht als einer der Teilnehmer an den Sitzungen genannt worden.
[786] 782. Zweitens sei für das angebliche Quotensystem das Schriftstück von DSM, das allein von der Kommission gegen die Klägerinnen verwertet worden sei und in dem der Begriff "Ausgleich" erscheine, ohne Beweiswert. Selbst wenn der Begriff die Bedeutung hätte, die die Kommission ihm beilege, hieße dies nicht, daß die Klägerinnen sich an einem solchen System beteiligt hätten.
[787] 783. Drittens habe die Kommission das Bestehen einer Regelung für die Überwachung der Verkäufe nicht nachgewiesen.
[788] 784. Was schließlich die Zielpreise und Preisinitiativen betreffe, so sei nicht bewiesen, daß es abgestimmte Preisinitiativen überhaupt gegeben habe.
Würdigung durch das Gericht
[789] 785. DSM ist von ICI als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675), deren Rechtswidrigkeit die Kommission nachgewiesen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686). Entgegen der Auffassung der Klägerinnen betreffen die Erklärungen von ICI nicht nur den Zeitraum nach Januar 1983, sondern vielmehr die informellen Sitzungen, die "von August 1980" an fast einmal monatlich, wie BASF bestätigt hat, stattgefunden haben (vgl. vorstehend, Randnrn. 675 und 677).
[790] 786. Zudem erscheint DSM in den Planungsdokumenten ausdrücklich als möglicher Teilnehmer an dem von ICI geplanten "neuen Rahmen für die Sitzungen". Aufgrund der engen Korrelation zwischen den in diesen Dokumenten geplanten Verhaltensweisen und den in den folgenden Wochen auf dem PVC-Markt festgestellten Verhaltensweisen (vorstehend, Randnrn. 662 ff.) kann die Erwähnung des Namens von DSM als Indiz für ihre Beteiligung an der beanstandeten Zuwiderhandlung gewertet werden.
[791] 787. Mehrere Schriftstücke, die von der Kommission zu Recht als Beweis für die gemeinsamen Preisinitiativen herangezogen worden sind (vgl. vorstehend, Randnrn. 637 bis 661), stammen von DSM. Mehrere dieser Unterlagen, insbesondere die Anlagen P5, P13, P28 und P41, verweisen zudem darauf, daß DSM diese Preisinitiativen "fest unterstützt" hat.
[792] 788. Das Alcudia-Dokument, das neben anderen Unterlagen das Bestehen einer Regelung zur Überwachung der Verkaufsmengen der PVC-Hersteller belegt, führt indirekt DSM an, da es dort heißt: "An der PVC-Regelung [über den Ausgleich] ist nur ein Hersteller nicht beteiligt" (vgl. vorstehend, Randnr. 589). ICI hat in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen angegeben, daß dieser Hersteller Shell gewesen sei. Zudem ist das Schriftstück von DSM, das die Kommission zu Recht als Beweis für eine Ausgleichsregelung zwischen den Herstellern angesehen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 594 bis 598), ein Monatsbericht über die Marktsituation, der von einer Abteilung von DSM erstellt worden ist.
[793] 789. Bezüglich der Überwachung der Verkäufe ziehen die Klägerinnen nur das Bestehen einer solchen Regelung in Zweifel. Dieser Einwand ist vom Gericht bereits geprüft und zurückgewiesen worden (vgl. vorstehend, Randnrn. 618 bis 636).
[794] 790. Nach alledem ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß DSM an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt war.
b) Atochem
Vorbringen der Klägerin
[795] 791. Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission nicht bewiesen, daß Elf Atochem dem beanstandeten Kartell zugestimmt oder sich daran beteiligt habe.
[796] 792. Zu den Preisinitiativen trägt die Klägerin vor, daß ihr Name oder der Name der in ihr zusammengeschlossenen Gesellschaften in keinem Schriftstück erwähnt sei. Die Akten enthielten keinen Anhaltspunkt dafür, daß Elf Atochem sein Verhalten dem der anderen PVC-Hersteller angeglichen hätte. Mehrere Unterlagen zeigten im Gegenteil ein wettbewerbsorientiertes und nicht abgestimmtes Verhalten von ihrer Seite.
[797] 793. Was die angebliche Quoten-, Ausgleichs- und Marktüberwachungsregelung angehe, so seien die beiden Schriftstücke, auf die sich die Vorwürfe gegen Atochem stützten (Atochem-Tabelle und Solvay-Tabellen), ohne Beweiswert. Die Kommission räume in Randnummer 11 der Entscheidung selbst ein, daß von einer Disziplin kaum die Rede gewesen sein könne. Die sich ständig verändernden Marktanteile von Elf Atochem seien mit einer solchen Regelung, an der das Unternehmen beteiligt gewesen sein solle, ganz offenkundig unvereinbar.
[798] 794. Die Kommission habe weder die Anwesenheit der Klägerin bei den Herstellersitzungen noch deren aktive oder passive Teilnahme an den dort möglicherweise getroffenen Entscheidungen bewiesen.
Würdigung durch das Gericht
[799] 795. Atochem wird von ICI als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt (vgl. vorstehend, Randnr. 675), deren Rechtswidrigkeit die Kommission bewiesen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
[800] 796. Die Anwesenheit der Klägerin auf diesen Sitzungen ist von BASF bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
[801] 797. Zudem wird in den Planungsdokumenten unter den von ICI für die Teilnahme am "neuen Rahmen für die Sitzungen" in Betracht gezogenen Mitgliedern die "neue französische Gesellschaft" aufgeführt, bei der es sich unstreitig um das Unternehmen Chloé handelte, das später Atochem geworden ist.
[802] 798. Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das Alcudia-Dokument indirekt Atochem an.
[803] 799. Die Atochem-Tabelle, die den Absatz der einzelnen im ersten Halbjahr 1984 noch produzierenden Unternehmen und die entsprechenden Ziele wiedergibt (vgl. vorstehend, Randnrn. 602 ff.), ist am Hauptsitz dieses Unternehmens entdeckt worden. Selbst wenn die Behauptung der Klägerin, daß diese Tabelle nicht von einer ihrer Abteilungen erstellt worden sei, zuträfe, bleibt die Tatsache bestehen, daß in ihr sowohl ein Absatzziel als auch Verkaufszahlen für dieses Unternehmen angegeben sind.
[804] 800. Das Argument von Atochem, daß "in der Entwicklung der Produktion sich die angeblichen Quoten nicht widerspiegeln" (Klageschrift, S. 12), gründet sich auf eine Tabelle, die die Anlage 1 zu der Antwort der Klägerin auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte war. Dazu genügt die Feststellung, daß diese Tabelle die Jahre 1986 und 1987 betrifft, um die es in der vorliegenden Rechtssache nicht geht.
[805] 801. Schließlich betrifft eine der Absatzzahlen in den Solvay-Tabellen, die die Kommission überprüfen konnte, Atochem und ist zutreffend (vgl. vorstehend, Randnr. 628).
[806] 802. Wenn die Kommission auch keine Preislisten von Atochem erlangen konnte, die die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die französischen Hersteller sich von diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngehalten haben. So wird, abgesehen von den Schriftstücken wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf "allgemeine Initiativen" zur Anhebung "sämtlicher europäischer Preise" oder auch auf "Initiativen der Branche" Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der französische Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und durchgeführt wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P21, P23, P24, P30, P31 und P38.
[807] 803. Zwar wird in zwei Schriftstücken das aggressive Preisverhalten französischer Hersteller angeführt, doch kann dies die Schlußfolgerungen der Kommission nicht erschüttern. Erstens hat diese dem nämlich bei der Sachverhaltsprüfung namentlich in Randnummer 22, dritter Absatz, der Entscheidung Rechnung getragen: "Es ist auch zutreffend, daß eine Reihe der an den Sitzungen teilnehmenden Hersteller von anderen Herstellern auf einigen Märkten als 'aggressiv' oder 'zerstörerisch' bezeichnet wurden. Diese anderen Hersteller betrachteten sich selbst als starke Verteidiger von Preisinitiativen und waren bereit, zur Durchsetzung einer Preiserhöhung Einbußen des Auftragsvolumens hinzunehmen." Die Kommission hat auf diesen Umstand auch bei ihrer rechtlichen Würdigung namentlich in Randnummer 31, erster Absatz, der Entscheidung verwiesen: "Außerdem kann es sein, daß ein bestimmter Hersteller oder eine Gruppe von Herstellern von Zeit zu Zeit in bezug auf den einen oder anderen Aspekt der Vereinbarung Vorbehalte erhob oder in einem spezifischen Punkt unzufrieden war …" Das gelegentlich aggressive Verhalten einiger Hersteller trug zum Scheitern einiger Initiativen bei, wie sich aus den Randnummern 22, 37 und 38 der Entscheidung ergibt. Zweitens entkräftet der Umstand, daß die Klägerin gelegentlich eine Preisinitiative nicht durchgeführt hat, nicht die Schlußfolgerung der Kommission; diese hat sich nämlich bei den Unternehmen, für die sie keine Preislisten erlangen konnte, auf die Feststellung beschränkt, daß diese Unternehmen jedenfalls an den Herstellersitzungen teilgenommen haben, die in erster Linie der Festsetzung von Preiszielen (vgl. vorstehend, Randnrn. 774 ff.) und nicht der tatsächlichen Durchführung dieser Initiativen dienten (Urteil Atochem/Kommission, Randnr. 100).
[808] 804. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
c) BASF
Vorbringen der Klägerin
[809] 805. Nach Ansicht der Klägerin liegen keine hinreichenden Beweise dafür vor, daß sie dem Kartell insgesamt beigetreten sei. Im vorliegenden Fall beschränkten sich diese Beweise auf die Planungsdokumente, auf die Beteiligung an regelmäßigen Sitzungen, auf die Atochem-Tabelle und die Tabellen von Solvay.
[810] 806. Erstens sei der Beweiswert der Planungsdokumente bereits bestritten worden. In Ermangelung eines Beweises, daß die Klägerin diese Dokumente gekannt und gebilligt habe, könnten sie nicht als Beweis für ihre Beteiligung am Kartell dienen.
[811] 807. Zweitens rechtfertige keines der Beweismittel den Schluß, daß die Klägerin an wettbewerbswidrigen Absprachen während einer dieser Sitzungen beteiligt gewesen sei, was sich jedenfalls nicht aus der bloßen Tatsache herleiten lasse, daß Sitzungen stattgefunden hätten. Jedenfalls habe die Klägerin in ihrer Antwort vom 8. Dezember 1987 auf ein Auskunftsverlangen bereits darauf hingewiesen, daß sie nach Oktober 1983 an keiner Sitzung mehr teilgenommen habe, falls solche Zusammenkünfte überhaupt noch stattgefunden hätten.
[812] 808. Drittens genüge die bloße Erwähnung des Namens der Klägerin in der Atochem-Tabelle, die ohne ihr Wissen erfolgt sei, nicht als Beweis für ihre Beteiligung an einem rechtswidrigen Kartell. Dieses Schriftstück belege weder, daß BASF eine eigene Quote zugeteilt worden sei, noch, daß sie einem Quotensystem beigetreten sei. Die Tabellen von Solvay ließen nicht die Feststellung zu, daß die Klägerin an einem Informationsaustausch mit ihren Konkurrenten beteiligt gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
[813] 809. Die Klägerin hat eingeräumt, an den informellen Herstellersitzungen teilgenommen zu haben, deren Rechtswidrigkeit nach Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag von der Kommission nachgewiesen worden ist (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
[814] 810. Die Anwesenheit der Klägerin in den Sitzungen ist von ICI bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675).
[815] 811. Die Klägerin ist in den Planungsdokumenten als möglicher Teilnehmer an dem "neuen Rahmen für die Sitzungen" genannt worden. Wenn diese Dokumente, wie bereits festgestellt, auch höchstens "einen Plan für ein Kartell" (vgl. vorstehend, Randnrn. 670 bis 673) darstellen und daher nicht als Beweis für die Beteiligung der Klägerin an der beanstandeten Zuwiderhandlung betrachtet werden können, kann die Erwähnung der Klägerin in diesen Schriftstücken doch als Indiz für diese Teilnahme gewertet werden.
[816] 812. Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das Alcudia-Dokument indirekt BASF an.
[817] 813. BASF wird auch in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch zusammengefaßt, die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier deutschen Hersteller enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
[818] 814. BASF wird auch in den Tabellen von Solvay genannt. Von den aufgeführten Verkaufszahlen, die die Kommission überprüfen konnte, betreffen zwei die Klägerin und sind zutreffend (vgl. vorstehend, Randnr. 627).
[819] 815. Auch wenn die Kommission keine Preislisten von BASF erlangen konnte, die die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die deutschen Hersteller diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngeblieben sind. So wird, abgesehen von den Schriftstücken wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf "allgemeine Initiativen" zur Anhebung "sämtlicher europäischer Preise" oder auch auf "Initiativen der Branche" Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der deutsche Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und durchgeführt wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P23, P24, P26, P29, P30, P41 und P58.
[820] 816. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt war.
d) Shell
Vorbringen der Klägerin
[821] 817. Mit der ersten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes wirft die Klägerin der Kommission vor, die besondere Struktur der Shell-Gruppe außer Betracht gelassen zu haben. Zwar sei Shell Adressat der Entscheidung, doch sei sie weder Hersteller noch Lieferant von PVC. Sie sei nur eine Dienstleistungsgesellschaft, die in ihrer Beraterrolle nicht die Möglichkeit gehabt habe, die Produktionsgesellschaften von Shell zur Durchführung eines Preis- und Quotenkartells zu zwingen. Zudem sei die Kommission nicht zu der Annahme berechtigt gewesen, daß die Produktionsgesellschaften der Gruppe, soweit sie von der Klägerin vielleicht den Rat erhalten hätten, in einem bestimmten Fall einen besonderen Preis anzustreben, sich auch tatsächlich entsprechend verhalten hätten.
[822] 818. Mit der zweiten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, daß der Nachweis ihrer Teilnahme an den Herstellersitzungen sich weitgehend auf das Eingeständnis ihrer Vertreter gründe, an zwei Sitzungen teilgenommen zu haben.
[823] 819. Ziel der ersten Sitzung in Paris am 2. März 1983 sei es lediglich gewesen, die Krise in der europäischen petrochemischen Industrie und die Notwendigkeit einer Neuordnung dieses Sektors zu erörtern, insbesondere unter Berücksichtigung des ersten Entwurfs eines Berichts der Arbeitsgruppe Gatti/Grenier, der nach Sitzungen mit der Kommission erstellt worden sei. Eine gemeinsame Initiative könne auf dieser Sitzung nicht beschlossen worden sein, da die Fachpresse zwei Wochen vorher über die Preiserhöhung berichtet habe; so sei in der Ausgabe der European Chemical News vom 21. Februar 1983 zu lesen gewesen: "Die Hersteller planen offensichtlich eine Anhebung der Preise auf 1, 50 bis 1,65 DM/kg, doch stehen die Termine noch nicht fest." Jedenfalls habe der Vertreter von Shell keine der angeblichen Initiativen unterstützt, wie sich aus der Tatsache ergebe, daß weniger als vier Wochen nach der Sitzung die Gesellschaften des Shell-Konzerns einen Zielpreis von 1,35 DM/kg festgelegt hätten, der eindeutig unter dem angeblichen Zielpreis von 1,60 DM/kg oder dem angeblichen Mindestpreis der Branche von 1,50 DM/kg liege.
[824] 820. In der zweiten Sitzung in Zürich im August 1983 seien die Bedingungen des Absatzes von PVC, die seinerzeitigen Marktpreise und die Notwendigkeit einer Preisanhebung für die Branche erörtert worden. Der Vertreter von Shell habe keine dieser Meinungen unterstützt. Es gebe kein internes Schriftstück der Klägerin, das als Beleg für irgendeinen Zielpreis in diesem Zeitraum dienen könne, und alle in den Unterlagen der Klägerin in diesem Zeitraum aufgeführten Branchenpreise stammten offenkundig aus unabhängigen Wirtschaftsquellen.
[825] 821. Mit der dritten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, daß die einzigen Beweismittel für das Quotensystem die Planungsdokumente von 1980 und die Atochem-Tabelle seien; letztere beziehe sich eindeutig auf 1984. Laut der Entscheidung habe Shell an der Ausarbeitung des Planes 1980 nicht mitgewirkt, und ihre angebliche Teilnahme sei im Oktober 1983 beendet gewesen. Daß Shell an der Ausgleichsregelung nicht teilgenommen habe, werde in der Entscheidung (Randnr. 26, zweiter Absatz a. E.) ausdrücklich anerkannt.
[826] 822. Mit der vierten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes trägt die Klägerin zu den Regelungen über die Überwachung der Verkäufe auf den inländischen Märkten vor, daß der Nachweis dieser Regelungen sich zum einen auf die Tabellen von Solvay und zum anderen auf Telefongespräche zwischen Solvay und Shell gründe, die letztere in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen eingeräumt habe.
[827] 823. Die Tabellen von Solvay beträfen folgende großen nationalen Märkte: Deutschland, Italien, Benelux und Frankreich. Im vorliegenden Fall könnten nur die beiden letztgenannten Märkte von Bedeutung sein, da Shell in Deutschland und in Italien nicht als inländischer Hersteller vertreten sei. In bezug auf Benelux räume die Kommission jedoch selbst ein, daß die angegebenen Zahlen nicht den individuellen Fides-Meldungen entsprächen. In bezug auf Frankreich unterschieden sich die Zahlen, die Shell in den Solvay-Tabellen zugeordnet seien, entgegen der Behauptung der Kommission klar von denen in den Meldungen von Shell an Fides.
[828] 824. Im übrigen habe die Kommission die Antwort von Shell auf das Auskunftsverlangen entstellt. Zum einen seien Solvay keine genauen Informationen mitgeteilt worden; diese Mitteilungen hätten nur die Verkäufe in Westeuropa betroffen und könnten somit nicht die Quelle für die Tabellen von Solvay sein, die eine Aufteilung nach Ländern enthielten. Zum anderen seien diese Informationen nur gelegentlich zwischen Januar 1982 und Oktober 1983 übermittelt worden, während die Tabellen von Solvay die Zahlen für den Zeitraum von 1980 bis 1984 enthielten. Dies bestätige, daß diese Tabellen nur aufgrund der veröffentlichten offiziellen Statistiken und aufgrund von Kontakten mit Kunden erstellt worden seien.
[829] 825. Mit der fünften Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin zu den Preisinitiativen geltend, daß die Entscheidung widersprüchliche Aussagen zum Umfang der Beteiligung von Shell enthalte. Dort werde nämlich gleichzeitig behauptet, daß Shell an diesen Preisinitiativen teilgenommen habe (Randnr. 20), daß sie über diese unterrichtet gewesen sei (Randnr. 26) und daß sie lediglich Kenntnis davon gehabt habe (Randnr. 48).
[830] 826. Abgesehen von zwei Einzelfällen habe die Klägerin an den Herstellersitzungen nicht teilgenommen.
[831] 827. Die Gesellschaften der Shell-Gruppe hätten ihre Preise unabhängig festgesetzt. Was die vier Initiativen angehe, für die die Kommission Unterlagen besitze, die von Shell stammten, so seien die Initiativen der Branche stets vorher in der Fachpresse angekündigt worden. Zudem hätten die von Shell festgesetzten Zielpreise nicht den angeblichen Zielpreisen der Branche entsprochen. Nur einmal, am 1. September 1982, hätten die Zahlen übereingestimmt; in diesem Fall habe Shell jedoch ihren Zielpreis erst am 9. September 1982 festgesetzt, und dieser Zielpreis habe erst am 1. Oktober 1982 wirksam werden sollen; schon im November 1982 habe Shell ihren Zielpreis wieder gesenkt (1,40 DM/kg statt 1,50 DM/kg).
[832] 828. Mit der sechsten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, daß eine abgestimmte Verhaltensweise mit der Strategie von Shell unvereinbar gewesen wäre, da das Unternehmen 1981 eine neue PVC-Fabrik in Betrieb genommen habe, deren sofortige Kapazität von 100 kt je Jahr habe voll ausgenutzt werden müssen. Die beiden PVC-Fabriken von Shell seien stärker ausgelastet gewesen als der Durchschnitt der Branche, und die Marktanteile von Shell seien daher stark gewachsen. Unter diesen Bedingungen hätte die Annahme einer Quote, der die 1979 erreichte Stellung zugrunde gelegen hätte, keinen Sinn gehabt. Tatsächlich hätte kein Jahr als akzeptabler Bezugspunkt dienen können, da Shell eine neue Fabrik in Betrieb genommen habe.
Würdigung durch das Gericht
[833] 829. Mit der ersten Rüge im Rahmen dieses Klagegrundes macht die Klägerin geltend, daß sie wegen der Besonderheiten der Royal-Dutch-Shell-Gruppe den Produktionsgesellschaften dieser Gruppe kein bestimmtes Verhalten, auch kein wettbewerbswidriges, habe vorschreiben können.
[834] 830. Die Kommission hat in Randnummer 46 der Entscheidung bei der Untersuchung der Besonderheiten der Royal-Dutch-Shell-Gruppe durchaus zur Kenntnis genommen, daß "die einzelnen Produktions- und Absatzunternehmen auf dem Chemiesektor in Fragen des Managements allem Anschein nach autonom sind" und daß die Klägerin "eine 'Dienstleistungs'-Gesellschaft" ist.
[835] 831. Sie hat jedoch darauf hingewiesen, daß die Klägerin unstreitig "für die Koordinierung und strategische Planung im Thermoplast-Sektor des … Konzerns zuständig ist". Somit kommt der Klägerin die Aufgabe der Beratung der Produktionsgesellschaften der Gruppe zu.
[836] 832. Weiter hat die Kommission in Randnummer 46 der Entscheidung ausgeführt, daß die Klägerin "mit dem Kartell in Verbindung stand" und "an den Sitzungen im Jahre 1983 teilnahm". Mehrere Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte über die Preisinitiativen stammen von der Klägerin (Anlagen P35, P36, P49, P50, P51, P53, P54, P55 und P59). Vor allem diese Anlagen sind der Beweis für zwischen den Herstellern abgestimmte Initiativen (vgl. vorstehend, Randnrn. 637 ff.) und zeigen, daß die Klägerin zumindest über die festgesetzten Zielpreise und die dafür vorgesehenen Termine genau unterrichtet war. Zudem wurde Shell auf den beiden Sitzungen, an denen die Klägerin 1983 nach ihrem eigenen Eingeständnis teilgenommen hat, von ihrem damaligen stellvertretenden Generaldirektor Lane vertreten.
[837] 833. Nach Ansicht der Kommission läßt sich die "Definition des Gerichtshofes einer 'aufeinander abgestimmten Verhaltensweise' … besonders gut auf die Beteiligung des Unternehmens Shell anwenden, das mit dem Kartell zusammengearbeitet hat, ohne Vollmitglied zu sein, und so in der Lage war, sein eigenes Marktverhalten aufgrund seiner Kontakte zum Kartell entsprechend anzupassen" (Entscheidung, Randnr. 34). Auch wenn die Klägerin ihren Verkaufsgesellschaften keine Preise vorschreiben konnte, stand sie aufgrund ihrer Verbindung zu dem Kartell und durch die Übermittlung der auf diese Weise erlangten Informationen an ihre Tochtergesellschaften als treibende Kraft hinter der Beteiligung der Shell-Gruppe an der abgestimmten Verhaltensweise. Die genannten Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die von der Klägerin stammen und in denen sowohl die Zielpreise als auch der Zeitpunkt ihrer Durchführung aufgeführt sind, waren ihrem Wortlaut nach an sämtliche Tochtergesellschaften der Gruppe in Europa gerichtet.
[838] 834. Somit steht die geltend gemachte besondere Struktur der Royal-Dutch-Shell-Gruppe als solche nicht der Feststellung entgegen, daß es der Klägerin möglich war, sich an einer Verhaltensweise zu beteiligen, die gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß, und daß sie damit erst recht Adressat der Entscheidung sein konnte.
[839] 835. Was die Beteiligung der Klägerin an dem Kartell betrifft, so hat die Kommission namentlich in den Randnummern 48 und 53 der Entscheidung die geringere Bedeutung der Rolle der Klägerin bei der beanstandeten Zuwiderhandlung eingeräumt. Somit ist zu prüfen, ob die Kommission hinreichend Beweise für die Feststellung erbracht hat, daß die Klägerin "nur am Rande beteiligt war" (Randnr. 53 der Entscheidung).
[840] 836. ICI und BASF haben die Klägerin als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt (vgl. vorstehend, Randnrn. 675 und 677). Shell räumt ein, an zwei Sitzungen teilgenommen zu haben, für die die Kommission den Beweis in Form von Angaben in einem Kalender gefunden hat (vorstehend, Randnr. 676). Allerdings bestreitet Shell, daß diese Sitzungen einen wettbewerbswidrigen Zweck gehabt hätten oder daß sie an irgendeiner Absprache bei dieser Gelegenheit beteiligt gewesen sei.
[841] 837. Bezüglich der ersten Sitzung in Paris am 2. März 1983 hat das Gericht festgestellt, daß die Kommission deren wettbewerbswidrigen Zweck nachgewiesen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 650 und 652).
[842] 838. Daran ändert auch der von der Klägerin angeführte Presseartikel in der Zeitschrift European Chemical News vom 21. Februar 1983 nichts. Der von der Klägerin zitierte Artikel ist nämlich insoweit unklar, als er nicht den Schluß auf individuelle Initiativen zuläßt. Außerdem ist der Zeitpunkt der Initiativen in dem Artikel nur vage angegeben; dagegen enthalten die einige Tage später nach der Sitzung vom 2. März 1983 verfaßten Schriftstücke, die die Kommission in den Geschäftsräumen der Unternehmen, namentlich bei Shell gefunden hat, den genauen Zeitpunkt der Initiativen.
[843] 839. Schließlich behauptet Shell, jedenfalls keine Preisinitiative unterstützt zu haben. Sie führt dazu aus, daß sie am 31. März 1983 ihren Zielpreis auf 1,35 DM/kg festgesetzt habe, d. h. unterhalb des von den Herstellern einvernehmlich festgesetzten Niveaus. Es bleibt aber die Tatsache bestehen, daß Shell über den von den Herstellern am 2. März 1983 beschlossenen Preis und über den Zeitpunkt der Durchführung dieser Initiative unterrichtet war, wie sich aus der Anlage P49 vom 13. März 1983 ergibt. Angesichts der Ungewißheit über das Verhalten ihrer Konkurrenten konnte die Klägerin ihre Preispolitik keineswegs selbständig bestimmen, sondern mußte daher aufgrund ihrer Teilnahme an der Sitzung vom 2. März 1983 zwangsläufig die dort erlangten Informationen unmittelbar oder mittelbar berücksichtigen.
[844] 840. Bezüglich der zweiten Sitzung in Zürich im August 1983 hat die Klägerin in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen der Kommission eingeräumt, daß dort "einige Hersteller sich zu einer Preisinitiative geäußert haben". Wie mehrere Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, etwa die Anlagen P53, P54, P55, P56, P57, P58 und P60 belegen, wurde eine Initiative tatsächlich für September 1983 vorgesehen und auch durchgeführt. Den Anlagen P53, P54 und P55, die von der Klägerin stammen, läßt sich entnehmen, daß diese entgegen ihrer Behauptung an diesen Initiativen teilgenommen hat. Sie hatte von der Initiative Kenntnis, bevor diese in der Öffentlichkeit bekanntgegeben wurde. Die Fachpresse, auf die sich die Klägerin in ihrer Antwort auf die Mitteilung der Beschwerdepunkte beruft, berichtete erst Ende September hierüber.
[845] 841. Das Alcudia-Dokument über die Ausgleichsregelung hat im Hinblick auf die Klägerin keinen Beweiswert, da Shell nach der Antwort von ICI auf ein Auskunftsverlangen der einzige Hersteller war, der daran nicht teilnahm (vgl. vorstehend, Randnr. 788). Wie sich namentlich aus Randnummer 48 der Entscheidung ergibt, hat dies die Kommission in ihrer Ansicht bestärkt, daß die Klägerin nur am Rande am Kartell beteiligt war.
[846] 842. Die Atochem-Tabelle betrifft das erste Quartal 1984 und stammt möglicherweise vom Mai 1984 (vgl. vorstehend, Randnr. 606); Shell zog sich dagegen nach Randnummer 54, dritter Absatz, der Entscheidung im Oktober 1983 vom Kartell zurück. Tatsächlich enthält die Atochem-Tabelle nur abgerundete Zahlen über den Absatz von Shell. Da diese Tabelle jedoch ein prozentuales Ziel für die Klägerin angibt, das nicht vor dem ersten Quartal 1984 beschlossen worden sein konnte, spricht dies dafür, daß Shell sich Ende 1983 von der Quotenregelung nicht ferngehalten hatte.
[847] 843. Was die Regelung der Überwachung der Verkäufe (vgl. vorstehend, Randnrn. 618 bis 636) betrifft, so sind nur zwei der in den Tabellen von Solvay aufgeführten geographischen Märkte im Hinblick auf Shell von Bedeutung, nämlich der Benelux-Markt und Frankreich.
[848] 844. Die Kommission hat in Beantwortung einer Frage des Gerichts bestätigt, daß der Vorwurf der Überwachung der Verkäufe nicht den Benelux-Markt betreffe, wie sich bereits aus der Mitteilung der Beschwerdepunkte ergebe.
[849] 845. Dagegen ist die Genauigkeit der Zahlen zu beachten, die den Absatz von Shell für 1982 und für 1983 auf dem französischen Markt betreffen (vgl. vorstehend, Randnr. 628). Diese Genauigkeit bestätigt, daß Shell zumindest bezüglich des französischen Marktes an dem Informationsaustausch teilgenommen hat. Die Klägerin hat in ihrer Antwort auf ein Auskunftsverlangen vom 3. Dezember 1987 erklärt, daß "Solvay sie zwischen Januar 1982 und Oktober 1983 gelegentlich anrief, um eine Bestätigung ihrer Schätzungen von Shells Verkaufstonnagen zu erhalten". Die Klägerin verweist darauf, daß sie auch erklärt habe, "keine genauen Angaben gemacht zu haben". Die Genauigkeit der Absatzzahlen für den französischen Markt widerlegt jedoch diese Behauptung.
[850] 846. Zu dem angeblichen Widerspruch in der Entscheidung über den Umfang der Beteiligung von Shell an den Preisinitiativen ist festzustellen, daß Randnummer 20 der Entscheidung nur den Nachweis des gemeinsamen Vorgehens bei den Preisinitiativen betrifft. In Randnummer 26 der Entscheidung wird darauf hingewiesen, daß die Klägerin von diesen Initiativen gewußt habe, und in Randnummer 48 heißt es, daß sie von den Initiativen gewußt und sie unterstützt habe. Randnummer 48 ergänzt also die Randnummer 26 und steht somit nicht im Widerspruch zu dieser.
[851] 847. Wie bereits festgestellt, beweisen die von der Kommission vorgelegten Schriftstücke, daß die Klägerin an den Preisinitiativen beteiligt war, die auf den Herstellersitzungen vom 2. März 1983 und 11. August 1983 beschlossen wurden (vgl. vorstehend, Randnrn. 836 bis 840). Ebenso zeigt die Anlage P59, ein Schriftstück der Klägerin vom 28. Oktober 1983, daß diese über die für den 1. November 1983 beschlossene Initiative zur Anhebung der PVC-Preise auf 1,90 DM/kg vollständig unterrichtet war. Was die für September 1982 vorgesehene Initiative betrifft, so hatte die Zeitschrift European Chemical News zwar schon im Juli 1982 die Preisinitiative sowie Höhe und Zeitpunkt angekündigt. Dieser Artikel stützt jedoch nicht die Behauptung, daß es sich um individuelle Initiativen gehandelt habe. So heißt es dort u. a.: "Die [PVC-] Hersteller diskutieren eine Preiserhöhung im September und Oktober (die Spalte 'Herstellerpreis' in der nachstehenden Tabelle gibt die vorgesehenen Zielpreise wieder)." Tatsächlich sprechen, wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnr. 649), die von der Kommission vorgelegten Schriftstücke dafür, daß diese Initiative auf einer Abstimmung der Hersteller dieser Branche beruhte. Die Tatsache, daß Shell erst Anfang September beschloß, den vereinbarten Zielpreis anzunehmen und im Oktober 1982 anzuwenden, ist unter diesen Umständen nicht von Bedeutung. Die Anlage P34 und P39, die von ICI bzw. DSM stammen, zeigen, daß "die Preisinitiative im Oktober fortgesetzt worden ist".
[852] 848. Nach alledem ist festzustellen, daß die Klägerin sich von den Regelungen, die die PVC-Hersteller abgesprochen haben, nicht ferngehalten hat. Die Kommission hat die Beteiligung der Klägerin an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung zutreffend festgestellt.
[853] 849. Somit kann das Argument der Klägerin, das sich auf ihre Verkaufsstrategie zu Beginn der achtziger Jahre bezieht, nicht überzeugen. Tatsächlich konnte die Klägerin durch ihre Teilnahme an der beanstandeten Zuwiderhandlung ihr Geschäftsverhalten aufgrund ihrer Kenntnis der Haltung der anderen Hersteller entsprechend anpassen.
e) LVM
Vorbringen der Klägerin
[854] 850. Erstens bestreitet die Klägerin, an den Herstellersitzungen teilgenommen zu haben, auf denen die Marktpreise und -anteile erörtert worden seien. Die Beweismittel der Kommission seien offenkundig unzureichend. So seien zunächst die Planungsdokumente etwa 30 Monate vor der Gründung von LVM erstellt worden. Die Erwähnung des Namens von DSM und von SAV, der Muttergesellschaften der Klägerin, sage nicht das geringste über LVM aus. Die Erklärungen von ICI und BASF, in denen LVM als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt werde, seien unter Vorbehalt abgegeben worden. Es treffe nicht zu, daß die Klägerin in ihrem Schreiben vom 28. Januar 1988 eine Antwort auf das Auskunftsverlangen vom 23. Dezember 1987 gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 abgelehnt habe; jedenfalls sei dies kein Beweis für ihre Teilnahme an den Sitzungen.
[855] 851. Was zweitens das angebliche Quotensystem betreffe, so sei das einzige Schriftstück, das die Kommission gegen sie angeführt habe, die Atochem-Tabelle, nicht beweiskräftig. Die Tabelle enthalte nämlich Verkaufszahlen, die erheblich von den tatsächlichen Verkäufen abwichen.
[856] 852. Drittens wären die Solvay-Tabellen nur dann ein Beweis für die Überwachung der Verkäufe, wenn sie zutreffend wären, was aber nicht der Fall sei.
[857] 853. Schließlich verweist die Klägerin bezüglich der Zielpreise und Preisinitiativen darauf, daß schon das Bestehen abgestimmter Preisinitiativen nicht bewiesen sei. In Wirklichkeit habe sie sich nur vernünftig den Marktbedingungen angepaßt (vgl. Anlagen P13, P21 und P29 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte).
Würdigung durch das Gericht
[858] 854. LVM ist erst Anfang 1983 gegründet worden. Daher ist die Tatsache, daß der Name der Klägerin in den früheren Schriftstücken, die die Kommission zur Stützung ihrer Schlußfolgerungen vorgelegt hat, z. B. in den Planungsdokumenten, nicht erwähnt ist, ohne Bedeutung für die Beurteilung der Frage, ob dieses Unternehmen an der Zuwiderhandlung beteiligt war. Die Klägerin kann sich zur Rechtfertigung ihrer Behauptungen nicht mit Erfolg auf die Anlagen P13, P21 und P29 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte berufen, die sich auf Ereignisse beziehen, die vor der Gründung von LVM liegen und DSM betreffen.
[859] 855. LVM ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
[860] 856. Die Anwesenheit der Klägerin bei diesen Sitzungen ist von BASF bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
[861] 857. Einige Schriftstücke, die von der Kommission zu Recht als Nachweis für gemeinsame Preisinitiativen herangezogen worden sind, z. B. die Anlagen P57, P58 und P64, stammen von diesem Unternehmen.
[862] 858. Die Atochem-Tabelle enthält den Namen der Klägerin und die ihr zugeteilten prozentualen Verkaufsziele; die dort angegebenen Verkaufszahlen kommen den tatsächlichen Verkaufszahlen dieses Unternehmens sehr nahe (vgl. vorstehend, Randnr. 608).
[863] 859. Die Tabellen von Solvay verweisen ausdrücklich auf LVM. Von den dort genannten Zahlen, die die Kommission überprüfen konnte, betreffen zwei die Klägerin und entsprechen abgerundet in Kilotonnen den tatsächlichen Verkaufszahlen (vgl. vorstehend, Randnrn. 625 und 628).
[864] 860. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
f) Wacker
Vorbringen der Klägerin
[865] 861. Nach Ansicht der Klägerin läßt sich den Planungsdokumenten nicht entnehmen, daß sie an Diskussionen, Verhandlungen oder Sitzungen teilgenommen habe, auf die sich die Vorwürfe der Kommission bezögen. Die Auskünfte von ICI und BASF, in denen sie als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt werde, seien weder genau noch glaubwürdig.
[866] 862. Die Klägerin sei weder an einer Quotenregelung noch an einer Ausgleichsregelung, noch an einem Preiskartell beteiligt gewesen. Es gebe keine Unterlagen, die die entsprechenden Behauptungen der Kommission bestätigten.
Würdigung durch das Gericht
[867] 863. Wacker ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß (vgl. vorstehend, Randnummern 679 bis 686).
[868] 864. Die Anwesenheit der Klägerin bei diesen informellen Sitzungen ist von BASF bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
[869] 865. Wacker wird in den Planungsdokumenten als möglicher Teilnehmer an dem "neuen Rahmen für die Sitzungen" mit dem Anfangsbuchstaben 5W" genannt. Im entscheidungserheblichen Zeitraum begann nur die Firma Wacker mit diesem Anfangsbuchstaben.
[870] 866. Mehrere Schriftstücke, die die Kommission zu Recht für den Nachweis gemeinsamer Preisinitiativen herangezogen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 637 bis 661), z. B. die Anlagen P2, P3, P8, P15, P25, P31, P32, P33, P47, P62 und P65, stammen von diesem Unternehmen. In diesen Unterlagen wird ausführlich auf Preisinitiativen, Beschlüsse über Preisanhebungen und intensive Bemühungen der Branche zur Konsolidierung der Preise Bezug genommen.
[871] 867. Aus den gleichen Gründen, wie sie bereits dargelegt worden sind (vgl. vorstehend, Randnr. 788), führt das Alcudia-Dokument indirekt Wacker an.
[872] 868. Die Klägerin wird in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch zusammengefaßt, die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier deutschen Hersteller enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
[873] 869. Die Tabellen von Solvay enthalten die Verkaufszahlen der Klägerin, die nicht bestritten worden sind.
[874] 870. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
g) Hoechst
Vorbringen der Klägerin
[875] 871. Nach Ansicht der Klägerin ergibt sich aus den Planungsdokumenten nicht, daß sie an den Diskussionen, Verhandlungen oder Sitzungen teilgenommen habe, auf die sich die Vorwürfe der Kommission bezögen. Die Auskünfte von ICI und BASF, die die Klägerin als Teilnehmer an den Herstellersitzungen genannt hätten, seien weder genau noch glaubwürdig.
[876] 872. Die Klägerin sei weder an einem Quotensystem noch an einer Ausgleichsregelung noch an einem Preiskartell beteiligt gewesen. Es gebe keine Unterlagen, die die entsprechenden Behauptungen der Kommission bestätigten.
Würdigung durch das Gericht
[877] 873. Hoechst ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
[878] 874. Die Anwesenheit der Klägerin bei diesen informellen Sitzungen ist von BASF bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
[879] 875. Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das Alcudia-Dokument indirekt Hoechst an.
[880] 876. Die Klägerin wird in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch zusammengefaßt, die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier deutschen Hersteller enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
[881] 877. Die Solvay-Tabellen enthalten die Verkaufszahlen der Klägerin, die nicht bestritten worden sind.
[882] 878. Wenn die Kommission auch keine Preislisten von Hoechst hat erhalten können, die die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die deutschen Hersteller sich von diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngehalten haben. So wird, abgesehen von den Schriftstücken, wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf "allgemeine Initiativen" zur Anhebung "sämtlicher europäischer Preise" oder auf "Initiativen der Branche" Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der deutsche Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und durchgeführt wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P23, P24, P26, P29, P30, P41 und P58.
[883] 879. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
h) SAV
Vorbringen der Klägerin
[884] 880. Die Klägerin bestreitet, daß es Beweise für ihre Beteiligung an dem angeblichen Kartell gebe. Die drei Schriftstücke, die die Kommission gegen sie herangezogen habe, seien nicht beweiskräftig.
[885] 881. Die "checklist", eines der Planungsdokumente, sei nur ein internes Schriftstück von ICI. Es handele sich nur um einen einseitigen Vorschlag dieses Unternehmens. Die Klägerin werde dort nur als PVC-Hersteller oder Unternehmen, dessen Teilnahme an der in diesem Dokument genannten Gruppe von Unternehmen von ICI für möglich gehalten worden sei, nicht aber als Teilnehmerin an dem Kartell genannt. Es gebe keinen Beweis dafür, daß dieser Vorschlag an andere Hersteller gerichtet oder von diesen angenommen worden sei. Die "response to proposals" könne keine Antwort auf die "checklist" sein, da sie vor dieser erstellt worden sei. Jedenfalls beweise die "response to proposals" nicht, daß SAV sich daran beteiligt habe, da ihr Name dort nicht genannt werde.
[886] 882. In der Antwort von ICI vom 5. Juni 1984 auf das Auskunftsverlangen der Kommission vom 30. April 1984 werde nur für das Jahr 1983 genau angegeben, wann und wo die Sitzungen stattgefunden hätten; SAV habe aber jede unmittelbare Produktions- und Vertriebstätigkeit auf dem PVC-Markt zum 1. Januar 1983 eingestellt. Zudem sei diese Antwort unbestimmt formuliert und unter Vorbehalt abgegeben worden. Die Klägerin habe dagegen stets bestritten, an Sitzungen teilgenommen zu haben, und sei von BASF nicht als Teilnehmer an den Sitzungen genannt worden (Entscheidung, Randnr. 26, Fußnote 10). Unterstellt, daß SAV an einigen Sitzungen teilgenommen hätte, sei jedenfalls nicht bewiesen, daß dort über Preise oder Mengen diskutiert worden sei. Die Kommission habe im übrigen die Ausführungen von ICI entstellt, die stets erklärt habe, daß die Sitzungen keinen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgt hätten.
[887] 883. Was die Solvay-Tabellen betreffe, so seien die der Klägerin für den französischen Markt zugewiesenen Verkaufszahlen keineswegs genau, wie die Kommission behaupte, sondern wichen um 8 % bis 25 % von den tatsächlichen Verkäufen der Klägerin ab. Somit sei nicht bewiesen, daß die Klägerin an einem Informationsaustausch, der eine eigene Zuwiderhandlung darstelle, oder an einer Absprache beteiligt gewesen sei, die sich auf den Informationsaustausch gestützt habe.
[888] 884. Eine Teilnahme der Klägerin an dem angeblichen Kartell wäre jedenfalls nicht einleuchtend. Seit 1977 als Neuling auf dem PVC-Markt habe sie unter den ungünstigen Bedingungen eines durch Überkapazität gekennzeichneten Marktes eine aggressive Politik geführt, die durch eine Erhöhung der verkauften Mengen und ihrer Marktanteile zum Ausdruck gekommen sei. Tatsächlich habe die Klägerin kein Interesse an einer Teilnahme an einem Kartell wie dem von der Kommission behaupteten gehabt. Die Kommission könne sich im übrigen nicht hinter der Behauptung verschanzen, daß die Herstellersitzungen jedenfalls einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgten, da gerade kein oder kein ausreichender Beweis für die Teilnahme von SAV an diesen Sitzungen vorliege.
Würdigung durch das Gericht
[889] 885. Die Klägerin ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß diese Sitzungen einen Zweck verfolgten, der gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686). Zwar hat ICI nur für das Jahr 1983 genau angegeben, wann und wo die Sitzungen stattgefunden haben, doch hat sie auch erklärt, daß informelle Sitzungen "vom August 1980 an" ungefähr monatlich stattgefunden haben (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission sieht daher zu Recht in der Antwort von ICI einen Beleg für die Teilnahme der Klägerin an der Zuwiderhandlung.
[890] 886. Die Klägerin erscheint in den Planungsdokumenten als möglicher Teilnehmer an dem geplanten "neuen Rahmen für die Sitzungen". Wie sich aus der Entscheidung ergibt, sind die Planungsdokumente nur ein "Plan für ein Kartell" und können daher nicht als Beweis für die Teilnahme der Klägerin an der beanstandeten Zuwiderhandlung angesehen werden. Die Tatsache, daß die Klägerin dort genannt wird, stellt jedoch angesichts der engen Korrelation zwischen den dort beschriebenen Verhaltensweisen und den in den folgenden Wochen auf dem Markt festgestellten Verhaltensweisen (vgl. vorstehend, Randnrn. 662 bis 673) ein Indiz für die Teilnahme dar.
[891] 887. Aus den vorstehend dargelegten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das Alcudia-Dokument, das zusammen mit anderen Unterlagen Regelungen über den Ausgleich zwischen den PVC-Herstellern belegt, indirekt die Klägerin an.
[892] 888. Was die Solvay-Tabellen angeht, so hat SAV eine Tabelle vorgelegt, bei der es sich um einen Auszug aus ihrer Buchführung handelt und die belegen soll, daß die für die Klägerin genannten Verkaufszahlen, d. h. die für den französischen Markt zwischen 1980 und 1982, erheblich und zwar in einer Größenordnung von 8 % bis 25 % von den tatsächlichen Verkaufszahlen abweichen. Zwar läßt sich nicht feststellen, ob die von SAV vorgelegten Zahlen, die aus ihrer Buchführung stammen, in der gleichen Weise wie die in den Solvay-Tabellen berechnet sind. Da die Kommission die Zahlen jedoch nicht ernsthaft bestritten hat, können die Solvay-Tabellen nicht als Beweis gegenüber der Klägerin angesehen werden.
[893] 889. Wenn die Kommission auch keine Preislisten von SAV hat erlangen können, die die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die französischen Hersteller diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngeblieben sind. So wird, abgesehen von den Dokumenten, wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf "allgemeine Initiativen" zur Anhebung "sämtlicher europäischer Preise" oder auch auf "Initiativen der Branche" Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der französische Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und durchgeführt wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P21, P23, P24, P30, P31 und P38.
[894] 890. Zwar ist in zwei Schriftstücken von dem aggressiven Preisverhalten französischer Hersteller die Rede, doch kann dies die Feststellung der Kommission nicht entkräften. Erstens hat die Kommission dem nämlich bei ihrer Prüfung des Sachverhalts und ihrer rechtlichen Würdigung Rechnung getragen (vgl. vorstehend, Randnr. 801). Zweitens entkräftet die Tatsache, daß die Klägerin gelegentlich eine Preisinitiative nicht durchgeführt hat, nicht die Schlußfolgerung der Kommission; diese hat sich nämlich bei den Unternehmen, für die sie keine Preislisten erlangen konnte, auf die Feststellung beschränkt, daß diese Unternehmen jedenfalls an den Herstellersitzungen teilgenommen haben, die in erster Linie der Festsetzung von Preiszielen (vgl. vorstehend, Randnrn. 774 ff.) und nicht der tatsächlichen Durchführung dieser Initiativen dienten (Urteil Atochem/Kommission, Randnr. 100).
[895] 891. Aufgrund all dessen ist festzustellen, daß die von der Kommission vorgelegten Unterlagen hinreichend beweisen, daß sich die Klägerin entgegen ihren Behauptungen an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat. Das Gericht wird jedoch zu prüfen haben, ob die vorstehenden Ausführungen insbesondere zu den Solvay-Tabellen die Feststellungen der Kommission zur Dauer der Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung berühren.
i) Montedison
Vorbringen der Klägerin
[896] 892. Die Klägerin verweist zunächst darauf, daß sie weder in den Planungsdokumenten noch in der Atochem-Tabelle genannt sei.
[897] 893. Zudem seien die gegen sie verwendeten Beweismittel nicht beweiskräftig.
[898] 894. Erstens beweise die Tatsache, daß sie von ICI und BASF als Teilnehmer zumindest an einigen Sitzungen genannt worden sei, nichts, was vorwerfbar wäre. Zudem sei nur Montedison und nicht Montedipe von ICI und BASF aufgeführt worden, da Montedison ihre PVC-Produktion zum 1. Januar 1981 eingestellt habe; dies bedeute, daß ihre Teilnahme vor diesem Zeitpunkt beendet gewesen sei.
[899] 895. Was zweitens den Austausch von im übrigen allgemein zugänglichen Informationen über den italienischen Markt angehe, so habe die Kommission nicht die Anmerkungen am Ende der Seite des von ihr herangezogenen Schriftstücks wiedergegeben, wo ausdrücklich der lebhafte Wettbewerb auf dem Markt erwähnt werde.
[900] 896. Drittens beweise das Alcudia-Dokument nicht die Teilnahme an einer Ausgleichsregelung. Die Klägerin bestreitet, daß eine solche Regelung jemals angewandt worden sei; kein italienisches Unternehmen sei einer solchen Regelung einzeln beigetreten, wie die Tatsache belege, daß das streitige Schriftstück die italienischen Hersteller nur allgemein erwähne. Selbst wenn eine solche Regelung tatsächlich angewandt worden wäre, hätte es sich nur um eine dieser aufgrund zweiseitiger Vereinbarungen getroffenen Rationalisierungsmaßnahmen gehandelt, die die Kommission selbst anstelle des Krisenkartells empfohlen habe.
[901] 897. Viertens betreffe keine der von der Kommission festgestellten Preisinitiativen Montedipe, die damalige Eigentümerin des Unternehmens. Jedenfalls hätten die begangenen Zuwiderhandlungen nur darin bestanden, einen Idealpreis zu finden, der die Verluste der Hersteller habe verringern sollen. Tatsächlich sei der von Montedipe tatsächlich verlangte Preis stets eindeutig niedriger als der Zielpreis gewesen und sei auch stets vom Marktpreis abgewichen, was offenkundig belege, daß die Klägerin völlig selbständig gehandelt habe.
Würdigung durch das Gericht
[902] 898. Tatsächlich wird, wie die Klägerin ausgeführt hat, Montedison weder in den Planungsdokumenten noch in der Atochem-Tabelle genannt. Letztere betrifft einen Zeitraum, in dem Montedison den PVC-Markt bereits verlassen hatte. Dies ergibt sich namentlich aus den Randnummern 7 und 13 der Entscheidung.
[903] 899. Montedison ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Klägerin hat diese Sitzungen bestätigt, und die Kommission hat nachgewiesen, daß deren Zweck gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstieß (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
[904] 900. Die Anwesenheit von Montedison bei diesen Sitzungen ist von BASF bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
[905] 901. Zwar haben ICI und BASF Montedison und nicht Montedipe angeführt, die die PVC-Produktion von Montedison vom 1. Januar 1981 an übernommen hatte. Dies rechtfertigt jedoch nicht den Schluß, daß sich Montedison schon vom 1. Januar 1981 an von der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung ferngehalten hat.
[906] 902. Auch wenn Montedison ihre Produktionstätigkeit auf Montedipe im Januar 1981 übertragen hatte, stellte sie doch erst 1983 jede Tätigkeit im PVC-Bereich ein (vgl. namentlich Randnr. 13, erster Absatz, der Entscheidung). Die Klägerin hat zudem auf eine Frage des Gerichts eingeräumt, daß sie in diesem gesamten Zeitraum unmittelbar oder über von ihr kontrollierte Gesellschaften das gesamte Gesellschaftskapital von Montedipe in Besitz hatte. Schließlich ist der Vermerk von ICI vom 15. April 1981, der zusätzlich ein Beleg für die Regelungen zur Überwachung der Verkaufsmengen der Hersteller ist, die Abschrift einer Mitteilung des Leiters des petrochemischen Geschäftsbereichs von Montedison (vgl. vorstehend, Randnrn. 599 bis 601), was bestätigt, daß dieses Unternehmen entgegen seiner Behauptung der ihm vorgeworfenen Zuwiderhandlung nicht ferngeblieben ist.
[907] 903. Aus den bereits dargestellten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das Alcudia-Dokument, das einer der Belege für die Durchführung einer Ausgleichsregelung der PVC-Hersteller ist, indirekt Montedison an. Die Klägerin kann nicht mit Erfolg behaupten, daß die Kommission eine solche Regelung im Juli 1982 bei Gesprächen mit neun europäischen Herstellern über die Umstrukturierung des petrochemischen Sektors empfohlen habe. Die Kommission hat bei dieser Gelegenheit nämlich nicht nur jede Preis- oder Verkaufsquotenregelung der Hersteller abgelehnt, sondern diese Gespräche haben darüber hinaus stattgefunden, nachdem die von der Kommission im vorliegenden Fall nachgewiesene Ausgleichsregelung angewandt worden war.
[908] 904. Zudem wird in dem Vermerk von ICI vom 15. April 1981 auf die Quotenregelung verwiesen. Dieser Vermerk ist die Abschrift einer Mitteilung von Herrn Diaz, dem ehemaligen Generaldirektor des Geschäftsbereichs Petrochemie von Montedison, an ICI (vgl. vorstehend, Randnrn. 599 bis 601).
[909] 905. Was die Solvay-Tabellen bezüglich des italienischen Marktes betrifft (Anlagen 33 bis 41 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte), kann die Klägerin aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnrn. 629 bis 635) nicht behaupten, daß die dort enthaltenen Verkaufszahlen anhand allgemein zugänglicher Informationen hätten bestimmt werden können. Zwar weist die zweite Fußnote in der Anlage 34 auf einen lebhaften Wettbewerb hin, doch erklärt dies noch nicht, wie Solvay die Verkaufszahlen jedes ihrer Konkurrenten kennen konnte. In der ersten Fußnote in diesem Schriftstück heißt es: "Die Aufteilung des nationalen Marktes unter die verschiedenen Hersteller für 1980 wurde auf der Grundlage eines Informationsaustauschs mit unseren Kollegen vorgenommen" (vgl. vorstehend, Randnr. 629).
[910] 906. Bezüglich der Preisinitiativen, die, wie die Kommission nachgewiesen hat, unter Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag abgesprochen waren (vgl. vorstehend, Randnrn. 637 bis 661), hat die Klägerin eine Tabelle vorgelegt, in der die von der Kommission behaupteten Zielpreise mit den tatsächlich von Montedison verlangten Preisen verglichen werden (Nr. 10 der Klageschrift). Die Klägerin schließt aus dem Unterschied zwischen diesen, daß sie an den Preisinitiativen nicht habe beteiligt sein können. Sie gibt jedoch weder die Quelle der Zahlen, die angeblich die tatsächlich von ihr verlangten Preise darstellen, noch den genauen Zeitpunkt an, für den diese tatsächlich verlangten Preise belegt sind. Jedenfalls zeigt diese Tabelle, daß die tatsächlich von der Klägerin verlangten Preise, selbst wenn man sie als richtig unterstellt, unter den Zielpreisen lagen; die Kommission hat aber stets eingeräumt, daß es den Unternehmen nicht gelungen ist, die Zielpreise auch zu erreichen. Schließlich wird der Klägerin ebenso wie anderen Herstellern nicht die Durchführung der Preisinitiativen vorgeworfen, da die Kommission von ihr keine Unterlagen über die Preise hat erlangen können, sondern die Beteiligung an den informellen Herstellersitzungen, auf denen die Festsetzung von Zielpreisen beschlossen wurde (vgl. vorstehend, Randnrn. 774 bis 777).
[911] 907. Im übrigen zeigen die Anlagen P1 bis P70, daß die italienischen Hersteller diesen Maßnahmen des Kartells nicht ferngeblieben sind. So wird, abgesehen von den Schriftstücken, wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf "allgemeine Initiativen" zur Anhebung "sämtlicher europäischer Preise" oder auch auf "Initiativen der Branche" Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der italienische Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen in Italien durchgeführt werden sollten, selbst wenn diese Anlagen zeigen, daß die vorgesehene Erhöhung gelegentlich ausblieb, was zu kritischen Äußerungen der Konkurrenten führte. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P9, P24, P26 und P28.
[912] 908. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
j) Hüls
Vorbringen der Klägerin
[913] 909. Die Klägerin macht erstens geltend, es lasse sich nicht die geringste Verbindung zwischen ihr und den Planungsdokumenten herstellen. So sei nicht bewiesen, daß die "checklist", die von einem Dritten erstellt worden sei, die Klägerin erreicht habe oder daß diese an der Ausarbeitung der "response to proposals" mitgewirkt und damit den angeblichen Planungen zugestimmt habe. Die Abkürzung 5H" auf diesen Schriftstücken bedeute nicht zwangsläufig "Hüls": Zum einen seien Hüls und Hoechst 1984 zwei ungefähr gleich große deutsche Hersteller gewesen, und zum anderen sei der Buchstabe H 1980 der Anfangsbuchstabe von fünf PVC-Herstellern gewesen. Die Vermutung der Kommission falle somit in sich zusammen, zumal bis 1985 die Firma der Klägerin nicht Hüls AG, sondern Chemische Werke Hüls AG, allgemein bekannt unter der Abkürzung CWH, gewesen sei.
[914] 910. Zweitens sei der Beweis für die Teilnahme der Klägerin an rechtswidrigen Sitzungen und für die Regelmäßigkeit dieser Beteiligung nicht erbracht, da es keine Protokolle gebe. Die Erklärungen von ICI und BASF seien nicht beweiskräftig, da diese beiden Unternehmen stets einen rechtswidrigen Zweck der Sitzungen bestritten hätten.
[915] 911. Drittens sei die Beteiligung der Klägerin an den Preisinitiativen nicht bewiesen, da keine unternehmensinternen Preisunterlagen vorlägen. Eine solche Beteiligung könne auch nicht aus der Beteiligung an den Sitzungen hergeleitet werden, da die Klägerin an den rechtswidrigen Sitzungen gerade nicht teilgenommen habe.
[916] 912. Viertens sei der Vermerk von ICI vom 15. April 1981 kein Beleg für die Beteiligung der Klägerin an einem Quotensystem. Die Beteiligung an der angeblichen Ausgleichsregelung zur Verstärkung der Quotenregelung sei ebenfalls nicht bewiesen. Im übrigen sei die Atochem-Tabelle nicht beweiskräftig, da die dort aufgeführten Zahlen erheblich von den tatsächlichen Verkäufen abwichen.
[917] 913. Schließlich habe die Kommission nicht den Beweis erbracht, daß die Klägerin an dem angeblichen Informationsaustausch beteiligt gewesen sei. Die Solvay-Tabellen seien nämlich nicht beweiskräftig.
Würdigung durch das Gericht
[918] 914. Hüls ist von ICI als Teilnehmer an den informellen Herstellersitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675), deren wettbewerbswidrigen Zweck die Kommission nachgewiesen hat (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
[919] 915. Die Anwesenheit von Vertretern der Klägerin bei den Sitzungen ist von BASF bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
[920] 916. Nach den Planungsdokumenten sollte die "Planungsgruppe der 6" sich aus 5S", "ICI", 5W", 5H" und "der neuen französischen Gesellschaft" zusammensetzen. Nach dem Hinweis, daß ICI es abgelehnt habe, die Identität der auf diese Weise bezeichneten Unternehmen zu bestätigen, führt die Kommission in der Entscheidung (Randnr. 7) aus, daß "sich aus dem Kontext und aus der Liste der voraussichtlichen Teilnehmer [ergab], daß. … H" aller Wahrscheinlichkeit nach Hüls, der größte westdeutsche PVC-Hersteller (Hoechst als der einzige andere in Frage kommende Hersteller war nur ein unbedeutender PVC-Produzent)", bedeute.
[921] 917. Die Klägerin bestreitet zunächst, daß 5H" Hüls bedeuten kann. Bis 1985 sei nämlich die vollständige Bezeichnung der Klägerin Chemische Werke Hüls AG und die entsprechende Abkürzung CWH gewesen. Dieses Argument greift nicht durch. In den Planungsdokumenten werden nämlich die voraussichtlichen Teilnehmer an dem "neuen Rahmen für die Sitzungen" mit bloßen Anfangsbuchstaben und nicht unter der offiziellen, anerkannten Abkürzung genannt. Zudem beziehen sich sowohl die Atochem-Tabelle als auch die Antwort von ICI auf ein Auskunftsverlangen, die aus dem Jahr 1984 stammen, auf Hüls. Ebenso zeigen mehrere Anlagen zur Klageschrift, die vom Beginn der achtziger Jahre stammen, ein Geschäftspapier, auf dem in Großbuchstaben der Name Hüls und in Kleinbuchstaben die Abkürzung "CWH" stehen. Wenn "Hüls" somit nicht die offizielle Bezeichnung der Klägerin war, war sie offenkundig doch die gebräuchliche.
[922] 918. Wie die Kommission in ihrer Entscheidung ausgeführt hat, war Hüls zum Zeitpunkt der Ausarbeitung der Planungsdokumente der wichtigste deutsche Hersteller und Verkäufer von PVC und einer der größten Hersteller in Europa. Dies wird durch die Antworten der Klägerinnen auf eine Frage des Gerichts bestätigt. Zudem waren die vier anderen als mögliche Teilnehmer an der "Planungsgruppe" genannten Unternehmen ebenfalls die wichtigsten europäischen PVC-Hersteller im Jahr 1980.
[923] 919. Aus den bereits genannten Gründen (vgl. vorstehend, Randnummer 788) führt das Alcudia-Dokument über die Ausgleichsregelungen indirekt Hüls an.
[924] 920. Die Klägerin wird in der Atochem-Tabelle genannt, die, wenn auch zusammengefaßt, die Absatzdaten und die prozentualen Verkaufsziele der vier deutschen Hersteller enthält (vgl. vorstehend, Randnr. 612).
[925] 921. Hüls wird auch in den Solvay-Tabellen genannt. Von den angeführten Verkaufszahlen, die die Kommission überprüfen konnte, betreffen drei die Klägerinnen und sind zutreffend (vgl. vorstehend, Randnr. 627).
[926] 922. Wenn die Kommission auch keine Preislisten von Hüls hat erlangen können, die die Feststellung erlaubt hätten, daß dieses Unternehmen die gemeinsamen Preisinitiativen durchgeführt hat, zeigen die Anlagen P1 bis P70 doch, daß die deutschen Hersteller dieser Maßnahme des Kartells nicht ferngeblieben sind. So wird, abgesehen von den Schriftstücken, wie den Anlagen P1, P3, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf "allgemeine Initiativen" zur Anhebung "sämtlicher europäischer Preise" oder auf "Initiativen der Branche" Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der deutsche Markt angeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen dort angekündigt und angewandt wurden. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P23, P24, P26, P29, P30, P41 und P58.
[927] 923. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin sich an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt hat.
k) Enichem
Vorbringen der Klägerin
[928] 924. Nach Ansicht der Klägerin hat die Kommission nicht bewiesen, daß sie an einer der Maßnahmen des Kartells beteiligt gewesen sei.
[929] 925. Erstens könne der Klägerin keinerlei Verantwortung für den Ursprung des Kartells angelastet werden. Sie habe nämlich an der Abfassung der Planungsdokumente nicht mitgewirkt. Allein die Tatsache, daß sie ohne ihr Wissen von dritten Unternehmen, die sie zur Teilnahme an den Sitzungen hätten einladen wollen, genannt worden sei, könne eine solche Verantwortung nicht begründen. Schließlich sei nicht bewiesen, daß die "response to proposals" tatsächlich die Antwort der Adressaten der "checklist" gewesen sei.
[930] 926. Was zweitens die Herstellersitzungen angehe, so hätten ICI und BASF die Namen von Anic oder Enichem angeführt. Von Oktober 1981 bis Februar 1983 habe es keine Produktionsgesellschaft gegeben, die vollständig oder teilweise so geheißen habe. Jedenfalls hätte die Kommission noch nachweisen müssen, wer die Teilnehmer gewesen seien und mit welcher Regelmäßigkeit sie zusammengekommen seien.
[931] 927. Drittens gebe es keinen Beweis dafür, daß die Klägerin an den Preisinitiativen beteiligt gewesen sei. Das Fehlen interner Preisunterlagen von Enichem brauche nicht, wie die Kommission meine, zu bedeuten, daß diese Unterlagen, weil belastend, versteckt oder zerstört worden seien. Dieses Argument, das reine Spekulation sei, verstoße gegen den Grundsatz, nach dem die Kommission die Beweislast trage. Im übrigen gebe es nicht einmal einen Anhaltspunkt für eine Beteiligung der Klägerin an den Sitzungen, die nach Meinung der Kommission den Preiserhöhungen vorangegangen seien. Vielmehr zeigten mehrere Schriftstücke, daß Enichem auf dem italienischen Markt eine aggressive Preispolitik verfolgt habe.
[932] 928. Was viertens die Quoten betreffe, so würden Enichem oder Anic nur in der Atochem-Tabelle erwähnt. Dieses Schriftstück allein sei aber nicht nur unzureichend, um die Beteiligung der Klägerin zu belegen, sondern darüber hinaus auch ohne Beweiswert, wenn man den erheblichen Unterschied zwischen den dort genannten Verkaufszahlen (alle über 14 %) und den tatsächlichen Zahlen (12, 3 %) betrachte. Unter diesen Umständen zeige die Feststellung, wonach während des Untersuchungszeitraums sich die Marktanteile erheblich geändert hätten, daß es kein Quotenkartell gegeben habe.
[933] 929. Fünftens seien das einzige Beweismittel für die Beteiligung von Enichem an der Absatzkontrolle die Solvay-Tabellen. Diese seien aber nicht beweiskräftig.
[934] 930. Da es keine Beweise gegen Enichem gebe, sei es ohne Bedeutung, daß diese Beweise in ihrer Gesamtheit und nicht einzeln zu würdigen seien. Jedenfalls seien die vier Schriftstücke, in denen der Name der Klägerin auftauche (Anlagen 3, 10 und 34 sowie die Erklärungen von BASF und ICI) zu vereinzelt, um die anhaltende Beteiligung der Klägerin an einem komplexen Kartell zu belegen, zumal die aggressive Politik von Enichem bewiesen sei.
Würdigung durch das Gericht
[935] 931. Sowohl Anic als auch Enichem, der das Verhalten von Anic zugerechnet worden ist, sind von ICI als Teilnehmer an den Sitzungen genannt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 675). Die Kommission hat nachgewiesen, daß diese Sitzungen einen wettbewerbswidrigen Zweck verfolgten (vgl. vorstehend, Randnrn. 679 bis 686).
[936] 932. Die Anwesenheit von Anic und Enichem bei den Sitzungen ist von BASF bestätigt worden (vgl. vorstehend, Randnr. 677).
[937] 933. Enichem trägt jedoch vor, daß es zwischen Oktober 1981 und Februar 1983 keine PVC-Produktionsgesellschaft mit dem Namen Anic oder Enichem gegeben habe, so daß die Antworten von ICI und BASF einen Schluß auf die Teilnahme der Klägerin in dieser Zeit nicht zuließen. Dieses Argument ist zurückzuweisen. Tatsächlich hatte, wie die Kommission ausgeführt hat, die Gruppe, zu der die Klägerin gehört, den PVC-Bereich in dieser Zeit nicht verlassen, sondern ihre Tätigkeiten in diesem Sektor auf ein gemeinsames Unternehmen übertragen. Sämtliche Tätigkeiten dieses Unternehmens im PVC-Bereich stammten von der Gruppe ENI und wurden von dieser im Februar 1983 wieder übernommen. Im übrigen zeigen die Solvay-Tabellen für das Jahr 1982 für den italienischen Markt, daß dieses gemeinsame Tochterunternehmen die Teilnahme an der beanstandeten Zuwiderhandlung fortgesetzt hat. Schließlich war Anic selbst nicht verschwunden, da sie erst Ende 1982 das Kapital einer anderen Gesellschaft der Gruppe ENI, nämlich SIL, die selbst Produktionsanlagen für PVC in Italien besaß, auf das betreffende Gemeinschaftsunternehmen übertragen hatte.
[938] 934. Anic ist eines der Unternehmen, die in den Planungsdokumenten genannt werden. Angesichts der engen Korrelation zwischen den in diesen Dokumenten beschriebenen Verhaltensweisen und den in den darauf folgenden Wochen auf dem PVC-Markt festgestellten sind diese Schriftstücke, auch wenn es sich, wie die Klägerinnen behaupten, um interne Unterlagen von ICI handeln sollte, ein Indiz für die Beteiligung der Klägerin an der beanstandeten Zuwiderhandlung.
[939] 935. In der Atochem-Tabelle, die ein zusätzlicher Beleg für eine Quotenregelung ist, sind sowohl der Name der Klägerin als auch ihre Verkaufszahlen für das erste Quartal 1984 sowie ein ihr zugewiesenes prozentuales Verkaufsziel angegeben. Die Behauptung der Klägerin, daß die sie betreffenden Verkaufszahlen nicht richtig seien, ist bereits geprüft und zurückgewiesen worden (vgl. vorstehend, Randnr. 615).
[940] 936. Aus den bereits dargelegten Gründen (vgl. vorstehend, Randnr. 788) führt das Alcudia-Dokument über die Ausgleichsregelungen der Hersteller indirekt Enichem an.
[941] 937. Das Argument, daß die Marktanteile der Hersteller sich im Untersuchungszeitraum grundlegend geändert hätten, was gegen eine Quotenregelung spreche, wird auf den bloßen Hinweis auf die "tatsächlichen Gegebenheiten" gestützt (Erwiderung, S. 23), ohne daß ein Beweismittel hierfür angeführt wird. Jedenfalls lassen, wie sich aus der Entscheidung selbst ergibt, die Schriftstücke, die Ausgleichsregelungen der Hersteller belegen, auch die Schlußfolgerung zu, daß diese Regelungen nicht richtig funktioniert haben (vgl. vorstehend, Randnr. 588 und 597). Schließlich ist die Entwicklung der Marktanteile in dem besonderen Fall von Enichem ohne Bedeutung, da die Gruppe in dem Zeitraum der Zuwiderhandlung durch den Erwerb der Geschäftstätigkeiten von Konkurrenten im PVC-Sektor oft umstrukturiert worden ist.
[942] 938. In den Solvay-Tabellen werden der Name der Klägerin und ihr Absatz auf dem italienischen Markt genannt. Zudem enthält die Tabelle, die als Anlage 34 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt war, folgenden Kommentar: "Die Aufteilung des nationalen Marktes unter die verschiedenen Hersteller für 1980 wurde auf der Grundlage eines Informationsaustauschs mit unseren Kollegen vorgenommen …" Da das Kartell seinen Ursprung in den Planungsdokumenten hat, die vom August 1980 stammen, konnte der Austausch gerade für dieses Jahr 1980 erstmals wirksam werden (vgl. vorstehend, Randnr. 629).
[943] 939. Die Klägerin macht noch geltend, die Kommission hätte angeben müssen, welche Unternehmen an den einzelnen Sitzungen teilgenommen hätten, und folglich dartun müssen, mit welcher Regelmäßigkeit jedes Unternehmen daran teilgenommen habe. Die Feststellung, mit welcher Regelmäßigkeit ein Unternehmen an den Herstellersitzungen teilgenommen hat, berührt nicht dessen Beteiligung an der Zuwiderhandlung, sondern den Grad seiner Beteiligung. Zu verlangen, daß die Kommission nachweist, mit welcher Regelmäßigkeit ein Unternehmen an derartigen Sitzungen teilgenommen hat, würde die Ahndung eines Unternehmenskartells praktisch unmöglich machen, wenn nicht gerade Protokolle oder Berichte über rechtswidrige Sitzungen gefunden würden, in denen die Teilnehmer namentlich aufgeführt sind. Schließlich trifft es zwar zu, daß ICI und BASF in ihren Antworten auf die Auskunftsverlangen angegeben haben, daß die von ihnen genannten Unternehmen teils regelmäßiger, teils weniger regelmäßig an den Sitzungen teilgenommen hätten (vgl. vorstehend, Randnrn. 675 und 677), doch hat die Kommission dem gebührend Rechnung getragen (namentlich Randnr. 8, dritter Absatz, und Randnr. 26, dritter Absatz, der Entscheidung). Sie hat diesen Umstand auch bei der Bemessung der Geldbußen berücksichtigt (Randnr. 53 der Entscheidung), unbeschadet der Prüfung der Lage der Unternehmen, deren führende oder umgekehrt begrenzte Rolle zutage getreten ist. Hätte die Kommission den Beweis für die Teilnahme jedes Unternehmens an sämtlichen Herstellersitzungen erlangen können, in denen fast vier Jahre lang abgestimmte Preisinitiativen und Quotenregelungen festgelegt wurden, erschienen die verhängten Geldbußen, die 3 200 000 ECU nicht übersteigen, verhältnismäßig gering angesichts der Schwere der Zuwiderhandlung.
[944] 940. Schließlich zeigen die Anlagen P1 bis P70, daß die italienischen Hersteller den Preisinitiativen nicht ferngeblieben sind. So wird, abgesehen von den Schriftstücken, wie den Anlagen P1, P6, P15, P19, P22, P26, P29, P32, P45 und P48, in denen auf "allgemeine Initiativen" zur Anhebung "sämtlicher europäischer Preise" oder aber auf "Initiativen der Branche" Bezug genommen wird, in einigen Anlagen speziell der italienische Markt aufgeführt, so daß der Schluß zulässig ist, daß die Preisinitiativen in Italien durchgeführt werden sollten, selbst wenn die Anlagen zeigen, daß die vorgesehene Erhöhung gelegentlich ausblieb, was zu kritischen Äußerungen der Konkurrenten führte. Dies ergibt sich namentlich aus den Anlagen P9, P24, P26, P28 und P58.
[945] 941. Aufgrund all dessen ist die Kommission zu Recht zu dem Ergebnis gelangt, daß die Klägerin an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung beteiligt war.
D – Zur Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung und zur Frage des richtigen Adressaten der Entscheidung
1. Zur Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung
Vorbringen der Klägerinnen
[946] 942. Elf Atochem wendet sich gegen die Begründung der Entscheidung für ihre fehlende Verantwortlichkeit für die Handlungen von PCUK, deren Tätigkeit im Chemiebereich zum größten Teil auf Atochem bei deren Gründung im Jahr 1983 übertragen wurde. Diese Begründung gehe nämlich davon aus, daß Elf Atochem "für ATO Chimie, Chloe, Orgavyl verantwortlich ist" (Randnr. 42, sechster Absatz, der Entscheidung), und nicht von dem Grundsatz, daß dann, wenn das eine Tätigkeit veräußernde Unternehmen nach der Übertragung als getrennte Einheit fortbestehe, der Erwerber für eventuelle wettbewerbswidrige Handlungen des Veräußerers vor der Übertragung nicht hafte.
[947] 943. DSM verweist darauf, daß die PVC-Tätigkeiten von DSM NV zum 1. Januar 1983 auf LVM übertragen worden seien, eine gemeinsame Tochtergesellschaft der DSM NV und der EMC Belgique SA, und daß LVM als für ihre Handlungen verantwortlich angesehen worden sei. Im vorliegenden Fall stelle sich somit nur für die Zeit davor die Frage der Zurechenbarkeit der Zuwiderhandlung. Mit Urkunde vom 19. Dezember 1984 sei die DSM Kunststoffen BV, eine 100 % ige Tochtergesellschaft der DSM NV, gegründet worden. Die bis dahin dem Geschäftszweig "Kunststoffe" von DSM zugeordneten Rechte und Pflichten seien auf DSM Kunststoffen übertragen worden. Obwohl diese eine selbständige Tochtergesellschaft von DSM NV sei, sei letzterer die Zuwiderhandlung zugerechnet worden.
[948] 944. Damit habe die Kommission die Rechtsvorschriften der Gemeinschaft unzutreffend angewendet. Grundsätzlich müsse, wenn die Rechte und Pflichten sowie die Wirtschaftstätigkeiten, auf die sich die Zuwiderhandlung beziehe, auf ein anderes Unternehmen übertragen worden seien, die Zuwiderhandlung diesem anderen Unternehmen zugerechnet werden, das Rechtsnachfolger des ersten und damit Adressat der Entscheidung sei (CRAM und Rheinzink/Kommission, Randnrn. 6 bis 9; Urteil des Gerichts vom 28. April 1994 in der Rechtssache T-38/92, AWS Benelux/Kommission, Slg. 1994, II-211, Randnr. 30). Entscheidend für die Zurechnung einer Zuwiderhandlung sei das selbständige Marktverhalten des Unternehmens und nicht seine rechtliche Struktur (Urteil vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnr. 133, Urteil des Gerichts vom 10. März 1992 in der Rechtssache T-11/89, Shell/Kommission, Slg. 1992, II-757, Randnrn. 311 und 312). Die Klägerinnen hätten stets das selbständige Verhalten von DSM Kunststoffen herausgestellt, ohne daß die Kommission, die die Beweislast trage (Urteil AEG/Kommission, Randnr. 50), dem widersprochen hätte. Für den Zeitraum vom Beginn der Zuwiderhandlung bis zum Beginn des Jahres 1983 hätte die Zuwiderhandlung somit DSM Kunststoffen zugerechnet werden müssen.
[949] 945. Montedison erklärt, sie sei eine Einheit, die nur eine Vermittlerrolle zwischen der Holdinggesellschaft und der Produktionsgesellschaft gespielt habe, da sie ihre PVC-Produktion zum 31. Dezember 1980 eingestellt habe. In den folgenden beiden Jahren sei die Tochtergesellschaft Montedipe für diese Produktionstätigkeit zuständig gewesen, und 1983 sei dieser Unternehmenszweig endgültig der Kontrolle von Enichem unterstellt worden. Die Kommission habe niemals nachgewiesen, daß Montedipe bei ihrer Geschäftsführung nicht autonom gegenüber Montedison gewesen sei.
[950] 946. Enichem macht geltend, daß nach Ansicht der Kommission für die Frage, wer für eine Zuwiderhandlung verantwortlich sei, zunächst das zuwiderhandelnde Unternehmen zu bestimmen und dann zu ermitteln sei, was aus ihm geworden sei; wenn das Unternehmen, das die Zuwiderhandlung begangen habe, seinen PVC-Geschäftsbereich einfach auf einen Dritten übertrage, als unabhängiges Rechtssubjekt aber fortbestehe, bleibe es weiterhin für die Zuwiderhandlung verantwortlich; wenn dagegen das zuwiderhandelnde Unternehmen in einem anderen Unternehmen aufgehe und damit zu bestehen aufhöre, dann müsse der Erwerber die Verantwortung für die vergangenen Zuwiderhandlungen übernehmen. Dieses Konzept hat nach Ansicht der Klägerin zwei Seiten, da es je nach Lage des Falles eine rechtliche oder eine wirtschaftliche Prüfung verlange.
[951] 947. Sowohl der PVC-Geschäftsbereich von Enichem als auch allgemein der PVC-Sektor in Italien seien während und nach dem Untersuchungszeitraum tiefgreifenden Änderungen unterworfen gewesen.
[952] 948. So habe das Unternehmen, das derzeit die Firma Enichem Anic führe und der Adressat der Entscheidung hätte sein müssen, bis Ende 1981 und dann erneut von Anfang 1983 bis zur Übertragung der Geschäftstätigkeiten auf EVC, eine im Oktober 1986 gegründete gemeinsame Tochtergesellschaft von Enichem und ICI, PVC produziert. In der Zwischenzeit sei Enoxy, eine gemeinsame Tochtergesellschaft von ENI und der amerikanischen Firma Occidental, auf dem PVC-Markt tätig gewesen.
[953] 949. Enichem habe dagegen in diesem gesamten Zeitraum unter verschiedenen Firmennamen nur die Rolle einer Holdinggesellschaft für die Beteiligungen des italienischen Staates an den einzelnen Produktionsgesellschaften, die einander im PVC-Sektor abgelöst hätten, gespielt.
[954] 950. Schließlich seien die Unternehmenstätigkeiten im PVC-Bereich, die 1986 auf EVC übertragen worden seien, in dem von der Kommission berücksichtigten Zeitraum von mehreren selbständigen Unternehmen verwaltet worden (Anic; Occidental; Montedison, deren von ihrer Tochtergesellschaft Montedipe betriebenes PVC-Geschäft im März 1983 auf Enoxy übergegangen sei, ein Unternehmen, das nach der Veräußerung der Anteile von Occidental ebenfalls im März 1983 ganz in den Besitz von Enichem übergegangen sei; Sir, deren Tätigkeiten im Dezember 1981 auf die Gruppe ENI übergegangen seien, und Rumianca, einer Tochtergesellschaft von Sir, deren Chemiegeschäft ebenfalls auf die Gruppe ENI übertragen worden sei), die alle als Rechtssubjekte fortbestünden.
[955] 951. Die Kommission habe jedoch in Randnummer 43 der Entscheidung die Klägerin, Enichem, für die im Untersuchungszeitraum begangenen Zuwiderhandlungen verantwortlich gemacht, also für die Handlungen aller Unternehmen einschließlich von Sir, Rumianca und Enoxy (mit Ausnahme von Montedipe). Sir und Rumianca gehörten zur Gruppe Sir Finanziaria, die auch heute noch bestehe und die folglich weiterhin die Verantwortung für die Teilnahme ihrer ehemaligen Tochtergesellschaften tragen müsse. Ebenso müsse Occidental, die es als juristische Person immer noch gebe, die Mitverantwortung für die Zuwiderhandlung in der Zeit von Dezember 1981 bis Februar 1983 tragen, in der sie Enoxy gemeinschaftlich geleitet habe; statt dessen werde Occidental in der Entscheidung überhaupt nicht als verantwortlich angesehen, was gegen das Diskriminierungsverbot verstoße. Tatsächlich könne Enichem Anic nur für die Zuwiderhandlungen verantwortlich gemacht werden, die Anic bis Ende 1981 und Enoxy Chimica seit Februar 1983 begangen hätten (Urteile Suiker Unie u. a./Kommission, Randnrn. 74 bis 88, CRAM und Rheinzink/Kommission, und Enichem Anic/Kommission, Randnrn. 228 ff.).
Würdigung durch das Gericht
[956] 952. Elf Atochem wendet sich nicht gegen das Ergebnis, zu dem die Kommission gelangt ist, nämlich sie für Handlungen von PCUK nicht verantwortlich zu machen, sondern rügt nur die Begründung hierfür. Somit kann die Prüfung dieses Klagegrundes nicht zu einer – auch nur teilweisen – Nichtigerklärung einer Bestimmung der Entscheidung führen. Daher ist der Klagegrund mangels Rechtschutzinteresses zurückzuweisen.
[957] 953. Nach der Rechtsprechung ist, wenn eine Zuwiderhandlung bewiesen ist, die natürliche oder juristische Person zu ermitteln, die für den Betrieb des Unternehmens zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung verantwortlich war, damit sie zur Rechenschaft gezogen werden kann. Hat jedoch zwischen dem Zeitpunkt der Zuwiderhandlung und dem Zeitpunkt, zu dem das betreffende Unternehmen zur Rechenschaft gezogen werden soll, die für den Betrieb dieses Unternehmens verantwortliche Person aufgehört, rechtlich zu existieren, so ist zunächst die Gesamtheit der materiellen und personellen Faktoren festzustellen, die an der Zuwiderhandlung beteiligt waren, um sodann zu ermitteln, wem die Verantwortung für den Betrieb dieser Gesamtheit übertragen worden ist, damit sich das Unternehmen seiner Verantwortlichkeit für die Zuwiderhandlung nicht deshalb entziehen kann, weil die zum Zeitpunkt der Zuwiderhandlung für seinen Betrieb verantwortliche Person nicht mehr besteht.
[958] 954. Die von der Kommission in Randnummer 41, zweiter Absatz ff., der Entscheidung genannten Regeln entsprechen offensichtlich diesen Grundsätzen.
[959] 955. Somit ist nacheinander im Fall von DSM, Montedison und Enichem zu prüfen, wie die Kommission diese Grundsätze angewandt hat.
[960] 956. Das Vorbringen von DSM bezieht sich nur darauf, daß die beanstandete Zuwiderhandlung DSM zugerechnet worden ist, betrifft also nur die Zeit vor der Gründung von LVM (vgl. vorstehend, Randnr. 943).
[961] 957. Anders als in den Fällen, die in den von der Klägerin angeführten Urteilen geprüft worden sind, ist im vorliegenden Fall nicht bestritten, daß DSM das Unternehmen ist, das die beanstandete Zuwiderhandlung vor der Gründung von LVM begangen hat, und daß sie trotz ihrer Umstrukturierung, die sie nach den ihr vorgeworfenen Handlungen durch die Verlagerung ihres Geschäftsbereichs "Kunststoffe" auf eine Tochtergesellschaft vorgenommen hat, rechtlich fortbesteht. Daher ist die Kommission nach den vorstehend genannten Grundsätzen zu Recht von der Verantwortlichkeit von DSM für den streitigen Zeitraum ausgegangen.
[962] 958. Somit hat die Übertragung des Geschäftsbereichs keine Bedeutung für die Bestimmung des für die Zuwiderhandlung verantwortlichen Unternehmens.
[963] 959. Daher ist der Klagegrund von DSM zurückzuweisen.
[964] 960. Nach ständiger Rechtsprechung genügt der Umstand, daß eine Tochtergesellschaft eine eigene Rechtspersönlichkeit besitzt, nicht, um auszuschließen, daß ihr Verhalten der Muttergesellschaft zugerechnet werden kann, namentlich, wenn die Tochtergesellschaft trotz eigener Rechtspersönlichkeit ihr Marktverhalten nicht selbständig bestimmt, sondern im wesentlichen Weisungen der Muttergesellschaft befolgt (Urteil vom 14. Juli 1972, ICI/Kommission, Randnrn. 132 und 133).
[965] 961. Im vorliegenden Fall hat Montedison bestätigt, daß sie das gesamte Kapital an Montedipe und Montepolimeri hielt, so daß davon auszugehen ist, daß diese Tochtergesellschaften zwangsläufig eine Politik verfolgten, die von den satzungsmäßigen Organen vorgezeichnet wurde, die auch die Politik der Muttergesellschaft festlegten (Urteil AEG/Kommission, Randnr. 50).
[966] 962. Daher ist der Klagegrund von Montedison zurückzuweisen.
[967] 963. Der von Enichem geltend gemachte Klagegrund besteht hinsichtlich der Zurechenbarkeit der beanstandeten Zuwiderhandlung aus zwei Teilen. Der erste betrifft die Zurechenbarkeit der Handlungen, die die beiden Firmen Sir und Rumianca vor ihrer Eingliederung in den Konzern, dem die Klägerin angehört, begangen hatten. Der zweite betrifft die Zurechenbarkeit der Handlungen, die Enoxy von Januar 1982 bis Februar 1983 begangen hat.
[968] 964. Erstens rügt die Klägerin, die Kommission habe sie für Handlungen von Sir und Rumianca verantwortlich gemacht, deren PVC-Geschäft von der Gruppe ENI im Dezember 1981 über Anic erworben worden sei; da die ehemalige Muttergesellschaft dieser beiden Unternehmen fortbestehe, hätte diese die Verantwortung für die Zuwiderhandlung tragen müssen. Zur Stützung ihrer Auffassung beruft sich die Klägerin auf Randnummer 43 der Entscheidung, wo es heißt: "Enichem stellt einen Zusammenschluß des staatseigenen italienischen Chemiesektors dar, der zuvor unter der Bezeichnung Anic tätig war … Enichem trägt daher für die Aktivitäten von Anic [und damit aller anderen mit dieser Gesellschaft verbundenen Unternehmen] die Verantwortung."
[969] 965. Daraus folgt aber nicht, daß die Kommission die Verantwortlichkeit von Enichem mit den Handlungen begründet hat, die Sir und Rumianca vor ihrer Eingliederung in den Konzern begangen haben, zu dem die Klägerin gehört.
[970] 966. Sir und Rumianca sind von der Entscheidung nämlich nicht betroffen. Da gegen sie keine Vorwürfe erhoben worden sind, kann die Verantwortung für von ihnen begangene Zuwiderhandlungen nicht der Klägerin aufgebürdet worden sein. Randnummer 43 der Entscheidung bedeutet allenfalls, daß namentlich für die Berechnung des Marktanteils zum Zweck der Bemessung der Geldbußen die Tätigkeiten im PVC-Bereich von Sir und Rumianca der Klägerin erst von dem Tag an zugerechnet werden können, an dem die beiden genannten Unternehmen in das Unternehmen Anic eingegliedert wurden. Dagegen läßt sich dieser Randnummer nicht entnehmen, daß Enichem für eventuelle Zuwiderhandlungen, die Sir und Rumianca vor ihrer Eingliederung begangen haben, verantwortlich gemacht worden ist.
[971] 967. Was den zweiten Teil betrifft, so ergibt sich aus den Akten und den Antworten der Klägerin auf die Fragen des Gerichts in der Sitzung, daß ENI und Occidental am 29. Dezember 1981 ein Gemeinschaftsunternehmen, Enoxy, gegründet haben, auf das – über Anic – das gesamte von ENI kontrollierte PVC-Geschäft übertragen wurde; Occidental übertrug auf Enoxy andere Tätigkeiten als den PVC-Bereich. Im Februar 1983 übernahm ENI die Beteiligung von Occidental an Enoxy; einige Tage später veräußerte ENI ihre sämtlichen Anteile an der Gruppe Enoxy an die Enichimica SpA (heute Enichem SpA).
[972] 968. Die Klägerin wirft der Kommission zunächst vor, sie für Handlungen von Occidental, der anderen Muttergesellschaft von Enoxy, verantwortlich gemacht zu haben. Diese Rüge ist jedoch eine bloße Behauptung, die durch nichts in der Entscheidung gestützt wird.
[973] 969. Sodann wirft die Klägerin der Kommission vor, daß sie nicht auch Occidental für die Handlungen von Enoxy zur Verantwortung gezogen habe, obwohl diese eine der beiden Muttergesellschaften dieses Unternehmens gewesen sei. Da jedoch die Gruppe, zu der die Klägerin gehört, von Januar 1982 bis Oktober 1983 auf dem PVC-Markt über ein Gemeinschaftsunternehmen, dem Enichem ihr PVC-Geschäft übertragen hatte, verblieben war, schließt der Umstand, daß die Kommission nicht auch Occidental verfolgt hat, die Verantwortlichkeit der Gruppe, zu der die Klägerin gehört, nicht aus (Urteil Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 197).
[974] 970. Somit ist der Klagegrund von Enichem ebenfalls zurückzuweisen.
2. Zur Frage des richtigen Adressaten der Entscheidung
Vorbringen der Klägerinnen
[975] 971. Erstens macht DSM geltend, die Kommission habe einen Rechtsfehler begangen, indem sie die Entscheidung an DSM NV statt an DSM Kunststoffen gerichtet habe. Für die vor 1983 von DSM NV begangene Zuwiderhandlung sei allein DSM Kunststoffen, eine mit Urkunde vom 19. Dezember 1984 gegründete 100 % ige Tochtergesellschaft von DSM NV, verantwortlich zu machen. Diese Gesellschaft hätte daher Adressat der Entscheidung sein müssen.
[976] 972. Zweitens tragen die Klägerinnen vor, daß sie diskriminiert worden seien. Die Kommission habe nämlich ein dem ihren vergleichbares Argument im Falle von Shell akzeptiert (Entscheidung, Randnr. 46). Dagegen habe die Kommission Enichem und Montedison gleich behandelt, obwohl die Sachverhalte verschieden gewesen seien (Entscheidung, Randnr. 45).
[977] 973. Drittens hat die Kommission nach Ansicht der Klägerinnen gegen ihre Begründungspflicht verstoßen. Auch wenn sie nicht auf alle tatsächlichen Argumente der beschuldigten Unternehmen eingehen müsse (Urteil ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 77), habe sie doch auf ähnliche Rügen anderer Unternehmen geantwortet (Entscheidung, Randnrn. 45 und 46). Die Begründung hätte im Fall der Klägerinnen im übrigen um so ausführlicher ausfallen müssen, als diese diesen Klagegrund im Verwaltungsverfahren ausdrücklich vorgetragen hätten (Urteil AWS Benelux/Kommission, Randnr. 27).
[978] 974. Enichem macht geltend, daß eine Unternehmensgruppe nur dann der richtige Adressat einer Entscheidung sei, wenn sie eine einzige einheitliche Organisation persönlicher, materieller und immaterieller Mittel darstelle, die dauerhaft u. a. den Zweck verfolge, ein bestimmtes Erzeugnis herzustellen und zu verkaufen (Urteil Shell/Kommission, Randnrn. 312 und 313). Im vorliegenden Fall gebe es keinen Beweis dafür, daß Enichem an der Spitze all dieser Gesellschaften gestanden habe (Entscheidung, Randnr. 45 a. E.).
[979] 975. In Wirklichkeit habe Enichem als Holdinggesellschaft keine Verantwortung für die Tätigkeit des thermoplastischen Sektors, darunter PVC, getragen. Die Randnummern 43 und 45 der Entscheidung seien insoweit widersprüchlich, da nicht behauptet werden könne, daß Enichem als Holdinggesellschaft einer Gruppe und zugleich als Nachfolger der Produktionsgesellschaft derselben Gruppe verantwortlich sei.
[980] 976. In Wirklichkeit sei Enichem Anic, wie die Firma seit dem 27. Mai 1985 laute, das einzige Rechtssubjekt, das die Kontinuität zwischen den einzelnen Konzerngesellschaften verkörpern könne, die unter verschiedenen Firmen im PVC-Sektor tätig gewesen seien, bis dieser Bereich 1986 auf die mit ICI gegründete gemeinsame Tochtergesellschaft EVC übertragen worden sei. Enichem Anic (unter ihren verschiedenen Firmen) habe den gesamten Produktionszyklus im thermoplastischen Bereich und den unmittelbaren Vertrieb in Italien geleitet und sei dabei gegenüber Enichem selbständig gewesen. Im übrigen seien sämtliche Gesellschaften, die für den Vertrieb der Erzeugnisse von Enichem Anic im Ausland zuständig gewesen seien, einschließlich der Tochtergesellschaften von Enichem International, die keine 100 % ige Tochtergesellschaft von Enichem sei, auf der Grundlage von Vertriebs- oder Vertretungsverträgen mit Enichem Anic tätig gewesen. Nur Enichem Anic hätte daher Adressat der Entscheidung sein können.
[981] 977. Zur Unterstützung ihrer Auffassung verweist die Klägerin darauf, daß die Entscheidung vom 24. November 1987, die nach Artikel 11 Absatz 5 der Verordnung Nr. 17 ergangen sei, an Enichem Anic (seinerzeit Enichem Base) gerichtet gewesen sei. Die Nachprüfung vom 21. Januar 1987 sei in den Geschäftsräumen dieses Unternehmens erfolgt. Wenn die Mitteilung der Beschwerdepunkte an Enichem gerichtet worden sei, so nur deshalb, weil die Kommission geglaubt habe, daß dieses Unternehmen die Produktionsgesellschaft der Gruppe gewesen sei, und nicht, weil es die Holdinggesellschaft gewesen sei. Schließlich sei die Entscheidung 86/398 vom 23. April 1986 in der Polypropylen-Sache an Anic SpA, d. h. Enichem Anic, gerichtet gewesen, da dies die Firma der Gesellschaft seit dem 27. Mai 1985 gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
[982] 978. Wie die Kommission in Randnummer 44 der Entscheidung ausgeführt hat, fällt der Begriff des Unternehmens im Sinne des Artikels 85 Absatz 1 EG-Vertrag zwar nicht unbedingt mit dem Begriff der rechtsfähigen Gesellschaft zusammen, doch muß für die Anwendung und den Vollzug der Entscheidungen eine Einheit mit Rechtspersönlichkeit bestimmt werden, die Adressat der Handlung ist.
[983] 979. Da DSM die Zuwiderhandlung allein begangen hat und daher die einzige Gesellschaft mit Rechtspersönlichkeit ist, der die Zuwiderhandlung zugerechnet worden ist, stellt sich die Frage der Bestimmung des Adressaten nicht einmal. Adressat konnte nur die DSM NV sein, die allein die Zuwiderhandlung begangen hat.
[984] 980. Dies ergibt sich aus der unmittelbaren Anwendung der in Randnummer 44 der Entscheidung angeführten Grundsätze; der Hinweis auf diese stellt im Falle der Klägerin eine ausreichende Begründung dar.
[985] 981. Im Falle von DSM hat ein einziges Unternehmen, das rechtlich fortbesteht, die Zuwiderhandlung begangen. Weder Shell noch Enichem noch Montedison befinden sich in der gleichen Lage. Daher kann die andere Behandlung, die die Kommission diesen drei Unternehmen bei der Bestimmung des Adressaten der Entscheidung angeblich hat zuteil werden lassen, keine Diskriminierung von DSM darstellen.
[986] 982. Die Klagegründe und Argumente von DSM sind daher zurückzuweisen.
[987] 983. In Randnummer 45 der Entscheidung hat die Kommission festgestellt: "Enichem und Montedison machen geltend, daß der Adressat einer Entscheidung die Gesellschaft innerhalb des Konzerns sein soll, die zu der Zeit für die Thermoplast-Aktivitäten verantwortlich ist. Die Kommission stellt jedoch fest, daß sich in beiden Fällen andere Konzernunternehmen die Verantwortung für den PVC-Absatz teilten. Während beispielsweise Enichem Anic SpA für den PVC-Absatz von Enichem in Italien verantwortlich ist, leitet eine in Zürich ansässige Gesellschaft, Enichem International S. A., die internationalen Marketingaktivitäten des Unternehmens. In jedem Mitgliedstaat bestehen darüber hinaus entsprechende nationale Tochtergesellschaften von Enichem, die PVC vertreiben. Die Kommission hält es für sachgerecht, diese Entscheidung an die Holdinggesellschaft zu richten, die an der Spitze der Konzerne Enichem und Montedison steht."
[988] 984. Montedison hat bestätigt, daß sie in dem Zeitraum der Zuwiderhandlung das gesamte Kapital an Montedipe und Montepolimeri hielt. Somit erübrigt sich die Prüfung, ob die Klägerin das geschäftliche Verhalten ihrer Tochtergesellschaften entscheidend beeinflussen konnte (Urteil AEG/Kommission, Randnr. 50).
[989] 985. Die Kommission hat daher die Entscheidung zu Recht an Montedison gerichtet.
[990] 986. Wie Enichem einräumt, stellt der von ihr geltend gemachte Klagegrund "keinen Zweck an sich dar, sondern ist die entscheidende Grundlage für die späteren Ausführungen zur Höhe der Geldbuße, die offenkundig nach Maßgabe des Umsatzes der Holdinggesellschaft berechnet worden ist, der weit höher als der der Produktionsgesellschaft ist" (Erwiderung, S. 15). Im vorliegenden Fall hat die Kommission, wozu sie berechtigt ist (namentlich Urteile des Gerichtshofes vom 15. Juli 1970, Boehringer/Kommission, Randnr. 55, und vom 8. November 1983 in den Rechtssachen 96/82 bis 102/82, 104/82, 105/82, 108/82 und 110/82, IAZ u. a./Kommission, Slg. 1983, 3369, Randnrn. 51 bis 53), vorab den Gesamtbetrag der Geldbußen bestimmt, den sie dann auf die einzelnen Unternehmen entsprechend dem durchschnittlichen Marktanteil jedes Herstellers und unter Berücksichtigung der im Einzelfall vielleicht gegebenen mildernden oder erschwerenden Umstände aufgeteilt hat. Daher ist unbeschadet der Anwendung des Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 über die Höchstgrenze der Geldbuße, die von der Kommission verhängt werden kann, der Umsatz der Holdinggesellschaft bei der Bemessung der gegen die Klägerin verhängten individuellen Geldbuße nicht berücksichtigt worden. Folglich fehlt der Klägerin das Interesse an der Geltendmachung dieses Klagegrundes.
[991] 987. Wie sich aus Randnummer 45 der Entscheidung ergibt, war Enichem Anic im übrigen nur eine der Produktionsgesellschaften für PVC innerhalb der Gruppe ENI. Als solche kontrollierte sie Produktionsbetriebe in Italien und war für den Vertrieb in Italien zuständig. Andere Konzerngesellschaften, die über die Enichem International SA, eine Gesellschaft schweizerischen Rechts, kontrolliert wurden, waren dagegen für den Vertrieb außerhalb dieses geographischen Marktes zuständig. Daher ist die Ansicht nicht haltbar, daß eine Gesellschaft wie Enichem Anic, die nur für einen Teil des PVC-Geschäfts der Gruppe zuständig war, allein der Adressat der Entscheidung hätte sein müssen.
[992] 988. Zudem ist unbestritten, daß die Klägerin nur eine Holdinggesellschaft ohne operative Aufgaben ist. Die Klägerin hat bestätigt, daß "während des gesamten Untersuchungszeitraums Enichem SpA [unter verschiedenen Firmennamen] stets nur die Rolle einer Holdinggesellschaft für die staatlichen Beteiligungen an den einzelnen Produktionsgesellschaften, die einander im PVC-Sektor abgelöst haben, gespielt hat" (vgl. Klageschrift, S. 57).
[993] 989. In einem solchen Fall, in dem es eine Vielzahl operativer Gesellschaften sowohl im Produktions- als auch im Vertriebsbereich gibt, die zudem auf bestimmte geographische Märkte verteilt sind, begeht die Kommission keinen Rechtsfehler, wenn sie ihre Entscheidung an die Holdinggesellschaft der Gruppe und nicht, wie die Klägerin will, an eine der Produktionsgesellschaften der Gruppe richtet.
[994] 990. Es ist richtig, daß die Kommission in der Polypropylen-Sache die Entscheidung an Enichem Anic und nicht an die Klägerin gerichtet hat. Diese Feststellung allein rechtfertigt jedoch nicht die Schlußfolgerung, daß die Wahl der Klägerin als der Rechtsperson, an die die Entscheidung zu richten war, unbedingt falsch ist. Zum einen steht nämlich nicht fest, daß die Gruppe ENI seinerzeit im Polypropylen-Sektor genauso organisiert war wie im PVC-Sektor. Zum anderen kann jedenfalls die Tatsache, daß die Kommission in einer Sache die Entscheidung an eine bestimmte Gesellschaft gerichtet hat, sie in anderen Sachen nicht binden.
[995] 991. Der Umstand, daß eine Entscheidung über die Anforderung von Auskünften an Enichem Anic gerichtet und eine Nachprüfung am Sitz dieses Unternehmens durchgeführt worden ist, ist für die Bestimmung des Adressaten der Entscheidung nicht ausschlaggebend, da nach den Artikeln 11 und 14 der Verordnung Nr. 17 von jedem Unternehmen Auskünfte angefordert oder dort auch Nachprüfungen durchgeführt werden können.
[996] 992. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
III – Zu den Klagegründen, die die Akteneinsicht betreffen
A – Zu den Bedingungen, unter denen die Kommission im Verwaltungsverfahren Einsicht in ihre Akten gewährt hat
Vorbringen der Parteien
[997] 993. Einige Klägerinnen werfen der Kommission vor, ihnen keine Einsicht in einen Teil ihrer Verfahrensakten gewährt zu haben.
[998] 994. Diese Klägerinnen bekräftigen in ihrer Erwiderung unter Berufung auf die Urteile des Gerichts vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91 (Solvay/Kommission, Slg. 1995, II-1775) und T-36/91 (ICI/Kommission) ihren in der Klageschrift vertretenen Standpunkt, daß die begrenzte Akteneinsicht ein Verstoß gegen eine wesentliche Formvorschrift sei und sie in ihren Verteidigungsrechten verletzte. Allein die Möglichkeit, daß entlastende Unterlagen vorhanden seien, genüge nämlich für die Feststellung einer Verletzung der Verteidigungsrechte, die vom Gericht im Rahmen seiner richterlichen Kontrolle nicht mehr geheilt werden könne (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 98, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 108). Daher sei die Entscheidung für nichtig zu erklären.
[999] 995. Die Kommission hat in ihrer Klagebeantwortung in den einzelnen Rechtssachen auf Randnummer 27 der Entscheidung verwiesen, in der sie erläutert habe, warum sie den Anträgen der Unternehmen im Verwaltungsverfahren auf vollständige Akteneinsicht nicht stattgegeben habe.
[1000] 996. Unter Bekräftigung der dort angeführten Gründe macht die Kommission geltend, den Unternehmen ordnungsgemäß Einsicht in ihre Verfahrensakten gewährt zu haben.
[1001] 997. So gebe es nach der Rechtsprechung kein uneingeschränktes Recht auf Einsicht in diese Akten (Urteile des Gerichtshofes VBVB und VBBB/Kommission, vom 3. Juli 1991 in der Rechtssache C-62/86, AKZO/Kommission, Slg. 1991, I-3359, Urteil des Gerichts vom 1. April 1993 in der Rechtssache T-65/89, BPB Industries und British Gypsum/Kommission, Slg. 1993, II-389). Soweit die Klägerinnen mit ihrem Klagegrund vollständige Akteneinsicht verlangten, sei dieser nicht begründet.
[1002] 998. Die Kommission sei nur verpflichtet, Einsicht in all diejenigen Schriftstücke zu gewähren, auf die sie ihre Feststellungen gründe. Sie habe im vorliegenden Fall nicht nur dies getan, sondern sei über diese Anforderungen noch hinausgegangen, indem sie diesen Unternehmen am 3. Mai 1988 zusätzliche Unterlagen, die sie für die Verteidigung für hilfreich angesehen habe, übersandt habe (Entscheidung, Randnr. 27, letzter Absatz a. E.).
[1003] 999. In einigen Rechtssachen zieht die Kommission den Grundsatz in Zweifel, den das Gericht in dem Urteil vom 17. Dezember 1991 in der Rechtssache T-7/89 (Hercules Chemicals/Kommission, Slg 1991 II-1711) aufgestellt hat und nach dem sie verpflichtet ist, die von ihr im Zwölften Bericht über die Wettbewerbspolitik selbst festgelegten Grundsätze zu beachten und folglich über die belastenden Schriftstücke hinaus die in ihren Verfahrensakten enthaltenen Schriftstücke – mit gewissen Einschränkungen – zu übermitteln.
[1004] 1000. Die Klägerinnen hätten eine Bösgläubigkeit der Bediensteten der Kommission nicht dargetan.
[1005] 1001. Wenn für die Verteidigung nützliche Unterlagen in den Akten der anderen Unternehmen vorhanden gewesen wären, hätte sich das Unternehmen, von dem sie stammten, auf sie berufen.
[1006] 1002. Zudem sei den Unternehmen erlaubt worden, auf der Grundlage eines gegenseitigen Verzichts auf die Vertraulichkeit Schriftstücke untereinander auszutauschen, jedoch unter dem Vorbehalt, daß dieser Austausch keine sensiblen Geschäftsinformationen umfasse, deren Weitergabe eine Wettbewerbsbeschränkung darstellen könnte (vgl. Entscheidung, Randnr. 27, dritter Absatz).
[1007] 1003. Schließlich seien die Schriftstücke in den Verfahrensakten der Kommission vertraulich. Da es sich um interne Geschäftspapiere der einzelnen Unternehmen handele, sei die Kommission sowohl nach Artikel 214 EG-Vertrag als auch nach Artikel 20 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 gehalten gewesen, sie nicht zu übermitteln. Im übrigen habe die Kommission im Verwaltungsverfahren ein Verzeichnis der in den Akten enthaltenen Schriftstücke vorgelegt.
[1008] 1004. Die Unternehmen müßten zumindest die Schriftstücke angeben, die sie als für ihre Verteidigung möglicherweise nützlich ansähen.
[1009] 1005. In ihrer Gegenerwiderung trägt die Kommission vor, daß die Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, und T-36/91, ICI/Kommission, bestätigten, daß ein uneingeschränktes Recht auf Akteneinsicht nicht bestehe. Insbesondere hätten die Unternehmen kein Recht auf Einsicht in Schriftstücke, die Geschäftsgeheimnisse oder andere vertrauliche Informationen enthielten, oder in kommissionsinterne Schriftstücke. Somit habe die Kommission zu Recht den Klägerinnen die Geschäftsunterlagen der einzelnen Unternehmen nicht übermittelt.
[1010] 1006. Die Unterscheidung zwischen belastenden und entlastenden Schriftstücken sei von grundlegender Bedeutung. Während der etwaige Nichtzugang zu belastenden Schriftstücken nur zum Ausschluß der betreffenden Schriftstücke als Beweismittel führe (Urteil vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-37/91, ICI/Kommission, Randnr. 71), ziehe die Verweigerung des Zugangs zu entlastenden Schriftstücken die Rechtswidrigkeit der Entscheidung nach sich, da das Gericht die Verletzung der Verteidigungsrechte im Verwaltungsverfahren nicht heilen könne (Urteil vom 29. Juni 1995 in der Rechtssache T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 98).
[1011] 1007. Um jedoch zu entscheiden, ob in den nicht übermittelten Dokumenten entlastende Schriftstücke enthalten gewesen seien, genüge es nicht, daß eine derartige Möglichkeit behauptet werde, sondern es sei eine Art Plausibilitätsprüfung anzustellen. Da die Umstände, die für die Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91 und T-36/91 maßgebend gewesen seien – die Feststellung der Verstöße habe sich auf das Parallelverhalten und nicht auf unmittelbare Beweise gestützt, und den nach Artikel 85 EG-Vertrag betroffenen Unternehmen sei zusätzlich ein Mißbrauch ihrer beherrschenden Stellung vorgeworfen worden –, hier nicht vorlägen, spreche nichts dafür, daß sich in den nicht übermittelten Unterlagen eventuell entlastende Schriftstücke finden könnten.
[1012] 1008. Die Tatsache, daß Schriftstücke im Verwaltungsverfahren nicht übermittelt worden seien, könne somit allein nicht zur Nichtigerklärung der Entscheidung führen.
Würdigung durch das Gericht
[1013] 1009. Montedison hat in ihrer Klageschrift keinen die Akteneinsicht betreffenden Klagegrund geltend gemacht.
[1014] 1010. Zwischen den Parteien ist unstreitig, daß die Kommission den Unternehmen im Verwaltungsverfahren Einsicht nur in einen Teil ihrer Verfahrensakten gewährt hat. So verfügte jede Klägerin neben den aus ihrem eigenen Unternehmen stammenden Unterlagen über sämtliche Schriftstücke, auf die die Kommission ihre Feststellungen gestützt hat, sowie über eine Reihe anderer, mit Schreiben vom 3. Mai 1988 übermittelter Schriftstücke.
[1015] 1011. In Wettbewerbssachen soll die Akteneinsicht den Adressaten der Mitteilung der Beschwerdepunkte in die Lage versetzen, von den in den Akten der Kommission vorhandenen Beweisstücken Kenntnis zu nehmen, um aufgrund dieser Beweisstücke in zweckmäßiger Weise zu den Schlußfolgerungen Stellung nehmen zu können, zu denen die Kommission in der Mitteilung ihrer Beschwerdepunkte gelangt ist. Die Akteneinsicht gehört somit zu den Verfahrensgarantien, die die Verteidigungsrechte schützen sollen. Die Wahrung dieser Verteidigungsrechte stellt in allen Verfahren, die zu Sanktionen führen können, einen fundamentalen Grundsatz des Gemeinschaftsrechts dar, der unter allen Umständen, auch in einem Verwaltungsverfahren, beachtet werden muß. Die tatsächliche Beachtung dieses allgemeinen Grundsatzes erfordert es, dem betroffenen Unternehmen bereits im Verwaltungsverfahren Gelegenheit zu geben, zum Vorliegen und zur Erheblichkeit der von der Kommission angeführten Tatsachen, Rügen und Umstände gebührend Stellung zu nehmen (Urteile des Gerichts vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 59, T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 69, T-37/91, ICI/Kommission, Randnr. 49, und die dort zitierte Rechtsprechung).
[1016] 1012. Im Rahmen eines nach der Verordnung Nr. 17 durchgeführten kontradiktorischen Verfahrens kann die Kommission nicht allein entscheiden, welche Schriftstücke der Verteidigung dienlich sind (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 81, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 91). Angesichts des allgemeinen Grundsatzes der Waffengleichheit kann nicht zugelassen werden, daß die Kommission allein entscheidet, ob sie Schriftstücke gegen die Klägerinnen verwendet, während diese keinen Zugang zu den Schriftstücken haben und somit die entsprechende Entscheidung, ob sie von ihnen für ihre Verteidigung Gebrauch machen sollen, nicht treffen können (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 83, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 93).
[1017] 1013. Eine eventuelle Verletzung der Verteidigungsrechte stellt einen objektiven Tatbestand dar und hängt nicht von der Gut- oder Bösgläubigkeit der Beamten der Kommission ab (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 84, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 94).
[1018] 1014. Die Verteidigung eines Unternehmens kann nicht vom guten Willen eines anderen Unternehmens abhängen, das als sein Konkurrent gilt und gegen das die Kommission gleichartige Vorwürfe erhebt. Die ordnungsgemäße Durchführung eines Wettbewerbsverfahrens ist Aufgabe der Kommission, und sie kann diese nicht den Unternehmen übertragen, deren wirtschaftliche und verfahrensrechtliche Interessen oft entgegengesetzt sind. Infolgedessen ist es im Hinblick auf einen Verstoß gegen die Verteidigungsrechte ohne Bedeutung, daß den beschuldigten Unternehmen ein Austausch von Unterlagen erlaubt wurde. Eine solche im übrigen zufallsbedingte Zusammenarbeit zwischen Unternehmen kann die Kommission nicht von ihrer Pflicht entbinden, im Rahmen der Aufklärung eines wettbewerbsrechtlichen Verstoßes die Einhaltung der Verteidigungsrechte der betroffenen Unternehmen selbst zu gewährleisten (Urteile Solvay/Kommission in den Rechtssachen T-30/91, Randnrn. 85 und 86, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnrn. 95 und 96).
[1019] 1015. Die Akteneinsicht kann sich jedoch, wie die Kommission hervorgehoben hat, nicht auf interne Schriftstücke des Organs, auf Geschäftsgeheimnisse anderer Unternehmen oder auf andere vertrauliche Informationen erstrecken (Urteil BPB Industries und British Gypsum/Kommission, Randnr. 29).
[1020] 1016. Nach einem allgemeinen Grundsatz, der auf das Verwaltungsverfahren Anwendung findet und in Artikel 214 EG-Vertrag sowie in verschiedenen Bestimmungen der Verordnung Nr. 17 zum Ausdruck kommt, haben die Unternehmen ein Recht auf Schutz ihrer Geschäftsgeheimnisse. Dieses Recht muß jedoch mit der Gewährleistung der Verteidigungsrechte in Einklang gebracht werden (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 88 und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 98).
[1021] 1017. Somit kann die Kommission die völlige Verweigerung der Übermittlung der Schriftstücke in ihren Akten nicht mit dem allgemeinen Hinweis auf die Vertraulichkeit rechtfertigen. Im vorliegenden Fall behauptet sie zudem nicht ernsthaft, daß sämtliche Informationen in diesen Schriftstücken vertraulich seien. Daher hätte die Kommission eine nichtvertrauliche Fassung der betreffenden Schriftstücke anfertigen oder anfertigen lassen oder, wenn dies zu schwierig gewesen wäre, ein hinreichend genaues Verzeichnis der betreffenden Schriftstücke erstellen können, um das Unternehmen in die Lage zu versetzen, in Kenntnis der Sachlage zu entscheiden, ob die angeführten Schriftstücke für seine Verteidigung von Bedeutung sein könnten (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnrn. 89 bis 95, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnrn. 99 bis 105).
[1022] 1018. Im vorliegenden Fall ist keine nichtvertrauliche Fassung der betreffenden Schriftstücke angefertigt worden. Zwar hat die Kommission den Klägerinnen tatsächlich ein Verzeichnis der in ihren Akten enthaltenen Schriftstücke übermittelt, doch war dieses Verzeichnis für die Klägerinnen völlig wertlos. Die Kommission hat sich nämlich mit dem pauschalen Hinweis auf das Unternehmen begnügt, von dem die entsprechenden Seiten der Verfahrensakte stammten.
[1023] 1019. Nach alledem ist festzustellen, daß die Kommission den Unternehmen im Verwaltungsverfahren der vorliegenden Rechtssache keine ordnungsgemäße Akteneinsicht gewährt hat.
[1024] 1020. Dieser Umstand kann jedoch allein nicht zur Nichtigerklärung der Entscheidung führen.
[1025] 1021. Ob eine Verletzung der Verteidigungsrechte vorliegt, ist vielmehr anhand der Umstände jedes einzelnen Falles zu prüfen, da dies im wesentlichen von den Vorwürfen abhängt, die die Kommission bei der Feststellung einer den betroffenen Unternehmen zur Last gelegten Zuwiderhandlung erhoben hat. Somit ist zu prüfen, ob die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerinnen durch die Bedingungen beeinträchtigt worden sind, unter denen sie Einsicht in die Verfahrensakte der Kommission erhalten haben. Für die Feststellung einer Verletzung der Verteidigungsrechte genügt der Nachweis, daß die Nichtübermittlung der betreffenden Schriftstücke den Verfahrensablauf und den Inhalt der Entscheidung zuungunsten der Klägerin hat beeinflussen können (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnrn. 60 und 68, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnrn. 70 und 78; vgl. auch für staatliche Beihilfen Urteil vom 11. November 1987, Frankreich/Kommission, Randnr. 13).
[1026] 1022. Wäre dies der Fall, wäre das Verwaltungsverfahren rechtswidrig und die Entscheidung müßte für nichtig erklärt werden. Die Verletzung der Verteidigungsrechte im Verwaltungsverfahren kann nämlich im gerichtlichen Verfahren nicht mehr geheilt werden, das sich auf eine richterliche Kontrolle beschränkt, die nur im Rahmen der geltend gemachten Angriffs- und Verteidigungsmittel erfolgt, und das daher eine vollständige Aufklärung des Falles im Rahmen eines Verwaltungsverfahrens nicht ersetzen kann. Wenn die Klägerinnen im Verwaltungsverfahren sich auf möglicherweise entlastende Schriftstücke hätten berufen können, hätten sie nämlich eventuell die Feststellungen des Kollegiums der Kommissionsmitglieder beeinflussen können (Urteile vom 29. Juni 1995 in den Rechtssachen T-30/91, Solvay/Kommission, Randnr. 98, und T-36/91, ICI/Kommission, Randnr. 108).
[1027] 1023. Mit Schreiben vom 7. Mai 1997 hat das Gericht im Rahmen prozeßleitender Maßnahmen und vorbehaltlich der Würdigung der von den Klägerinnen angeführten Angriffsmittel entschieden, jeder Klägerin Zugang zu den Akten der Kommission mit Ausnahme der kommissionsinternen Schriftstücke und der Schriftstücke, die Geschäftsgeheimnisse oder andere vertrauliche Angaben enthalten, zu gewähren. Es hat die Parteien aufgefordert, jede vertrauliche Information anzugeben, die in den Akten verbleiben kann. Schließlich ist den Klägerinnen Gelegenheit gegeben worden, bis zum 31. Juli 1997 in einer genauen, begründeten und möglichst kurzen Stellungnahme darzutun, inwiefern sie ihre Verteidigung durch die Nichtübermittlung dieser Schriftstücke beeinträchtigt sehen. Die Klägerinnen sollten eine Kopie der Schriftstücke vorlegen, auf die sie sich beziehen.
[1028] 1024. Keine der Klägerinnen hat wegen der Vertraulichkeit Bedenken geäußert.
[1029] 1025. Um der Kommission die erforderliche Zeit zu geben, sich bei Drittunternehmen zu vergewissern, daß die von diesen stammenden Schriftstücke nicht vertraulich waren, und unter Berücksichtigung des auf zwingende persönliche Gründe gestützten Antrags des Prozeßbevollmächtigten von BASF hat das Gericht die Frist vom 31. August 1997, die es den Klägerinnen für die Abgabe ihrer Stellungnahmen zu den von ihnen eingesehenen Schriftstücken gesetzt hatte, bis zum 22. September 1997 verlängert.
[1030] 1026. Wie bereits festgestellt, haben nur Wacker und Hoechst auf die Aufforderung des Gerichts nicht geantwortet und somit keine Stellungnahme bei der Kanzlei des Gerichts eingereicht. In der Sitzung hat der Prozeßbevollmächtigte dieser beiden Klägerinnen angegeben, daß zwingende Gründe persönlicher Art ihn daran gehindert hätten, Einsicht in die Akten der Kommission zu nehmen und eine Stellungnahme abzugeben. Beim Gericht ist jedoch ein entsprechender Antrag auf Fristverlängerung nicht eingegangen, und Wacker und Hoechst haben keine Stellungnahme eingereicht. Unter diesen Umständen haben diese beiden Klägerinnen nicht nachweisen können, daß die Nichtübermittlung von Schriftstücken im Verwaltungsverfahren ihre Verteidigungsrechte verletzt hat.
[1031] 1027. Die Kommission hat ihre Stellungnahme am 12. Dezember 1997 eingereicht.
[1032] 1028. Montedison hatte, wie bereits festgestellt, keinen die Einsicht in die Verfahrensakten betreffenden Klagegrund geltend gemacht. Daher ist die von dieser Klägerin eingereichte Stellungnahme nicht zu berücksichtigen.
[1033] 1029. Unter diesen Umständen ist zu prüfen, welche Bedeutung den Stellungnahmen zukommt, die die neun anderen Klägerinnen auf die vom Gericht verfügte prozeßleitende Maßnahme hin eingereicht haben.
B – Zu den im Rahmen der prozeßleitenden Maßnahme eingereichten Stellungnahmen
Vorbringen der Parteien
[1034] 1030. Die neun Klägerinnen, deren Stellungnahmen zulässig sind, haben eine Reihe von Schriftstücken vorgelegt, deren Nichtmitteilung nach ihrer Ansicht ihre Verteidigungsrechte möglicherweise verletzt hat.
[1035] 1031. Einige Klägerinnen machen geltend, daß die Kommission ihnen im Verwaltungsverfahren nicht nur Einsicht in die Akten verweigert habe, sondern darüber hinaus einige Stellen in den von ihr übermittelten Schriftstücken vorsätzlich geschwärzt habe. Diese Stellen enthielten Bemerkungen, die die Auffassung der Klägerinnen hätten stützen können.
[1036] 1032. Einige Klägerinnen machen ebenfalls geltend, daß wegen der Länge des verstrichenen Zeitraums eine sachgerechte Prüfung der eingesehenen Schriftstücke nicht mehr möglich gewesen sei.
[1037] 1033. Andere tragen vor, daß die von ihnen angeführten Schriftstücke bereits hinreichend bewiesen, inwiefern ihre Verteidigungsrechte möglicherweise verletzt worden seien, daß aber auch andere Schriftstücke zur Stützung dieser Feststellung hätten vorgelegt werden können.
[1038] 1034. DSM und LVM haben zudem beantragt, die Vorlage der Berichte über die Nachprüfungen anzuordnen, die die Kommission am Sitz der Unternehmen durchgeführt hat.
Würdigung durch das Gericht
[1039] 1035. Vorab ist darauf hinzuweisen, daß mit dieser Prüfung festgestellt werden soll, ob die Nichtübermittlung von Schriftstücken oder Auszügen daraus die Verteidigungsmöglichkeiten der Klägerinnen hat beeinträchtigen können. Die Tatsache, daß nunmehr offen gelegte Stellen in den Schriftstücken ursprünglich im Verwaltungsverfahren von der Kommission geschwärzt waren, ändert nichts am Umfang der Prüfung durch das Gericht. Eine eventuelle Verletzung der Verteidigungsrechte ist ein objektiver Tatbestand, der nicht von der Gut- oder Bösgläubigkeit der Beamten der Kommission abhängt.
[1040] 1036. Die Klägerinnen haben über eine Frist von fast drei Monaten verfügt, um Einsicht in die Akten der Kommission zu nehmen und ihre Stellungnahme abzugeben. Da die Unternehmen, die eine unzureichende Einsicht in die Verfahrensakten gerügt haben, dartun müssen, inwiefern ihre Verteidigungsrechte beeinträchtigt worden sind, und da sie hierfür hinreichend Zeit gehabt haben, sind nur die von ihnen vorgelegten Schriftstücke zu berücksichtigen. Die Klägerinnen können sich nicht mit Erfolg auf den Hinweis beschränken, daß die Zahl der von ihnen in ihrer Stellungnahme angegebenen und auch beigefügten Schriftstücke nicht abschließend sei.
[1041] 1037. Schließlich hat die vorzunehmende Prüfung im Hinblick auf die Feststellungen, die die Kommission in ihrer Entscheidung getroffen hat, objektiven Charakter. Das Alter der fraglichen Schriftstücke kann daher für die Ermittlung einer eventuellen Verletzung der Verteidigungsrechte kein Hindernis sein.
[1042] 1038. Im vorliegenden Fall sind die Stellungnahmen der Klägerinnen zusammen zu untersuchen.
[1043] 1039. Erstens können sich die Klägerinnen nicht auf Schriftstücke oder Auszüge daraus berufen, über die sie schon im Verwaltungsverfahren verfügten. Dies gilt insbesondere für die Schriftstücke in der Anlage zur Mitteilung der Beschwerdepunkte oder zum Schreiben der Kommission vom 3. Mai 1988. Zweck der vom Gericht verfügten prozeßleitenden Maßnahme war nämlich die Prüfung, ob Schriftstücke, die den Klägerinnen im Verwaltungsverfahren nicht übermittelt worden sind, die Feststellungen der Kommission, wenn sie denn übermittelt worden wären, hätten beeinflussen können. Dieser Vorbehalt gilt jedoch nicht für die bereits übermittelten Schriftstücke, soweit die Klägerinnen sich auf Stellen berufen, die geheimgehalten worden waren. Somit sind auszuschließen die Anlagen 9, 10, 11, 15, 21 und 23 zur Stellungnahme von DSM und LVM, 4 und 6 zu der von Elf Atochem, 134 zu der von BASF, 10 zu der von SAV, 13 zu der von ICI, 12, 15 und 26 zu der von Hüls sowie 9, 26 und 28 zu der von Enichem.
[1044] 1040. Zweitens müssen für die vorliegende Prüfung auch die von den Klägerinnen geltend gemachten Schriftstücke und Auszüge daraus unberücksichtigt bleiben, die einen Zeitraum betreffen, der vor dem Beginn des Kartells oder nach dem Zeitpunkt der Beendigung der Zuwiderhandlung liegt, den die Kommission für die Bemessung der Geldbuße zugrunde gelegt hat. Dabei ist nicht das Datum des Schriftstücks maßgeblich, sondern die Bedeutung der von den Klägerinnen angeführten Stelle für den Zeitraum der Zuwiderhandlung. Somit müssen unberücksichtigt bleiben die Anlagen 8, 16 bis 18 und 23 bis 29 zur Stellungnahme von DSM und LVM, 2 und 3 zu der von Elf Atochem, 132 bis 138, 141 und 142 zu der von BASF, 1, 2, 6 bis 9 und 11 zu der von SAV, 18, 25, 27 und 34 zu der von Hüls sowie 1, 11, 15, 26, 32 (4), 40, 45, 54 (2) und (3) zu der von Enichem.
[1045] 1041. Drittens haben einige der von den Klägerinnen angeführten Schriftstücke keinen Bezug zu den von der Kommission erhobenen Vorwürfen. Die Nichtübermittlung dieser Schriftstücke kann daher die Verteidigungsmöglichkeiten der Unternehmen nicht beeinflußt haben. Dies gilt für die Unterlagen, die die Drittlandsmärkte (vgl. Entscheidung, Randnr. 39, Fußnote 1) oder die Verkäufe von Nebenprodukten betreffen (namentlich Anlagen 7 zu der Stellungnahme von Elf Atochem sowie 3 und 4 zu der von SAV).
[1046] 1042. Die Klägerinnen führen auch einige Schriftstücke an, in denen auf mündlich erteilte Preisanweisungen verwiesen wird. Dies widerlege die Behauptung der Kommission, gerade die Tatsache, daß bei mehreren Herstellern schriftliche Anweisungen fehlten, beweise, daß diese "etwas" zu verbergen hätten. Zwar hat die Kommission tatsächlich festgestellt, daß bei einigen Unternehmen keine Preisunterlagen vorhanden waren, und bezweifelt, daß kein Preisziel schriftlich festgesetzt werden konnte, doch hat sie daraus nicht den Schluß gezogen, daß das Fehlen solcher Anweisungen die Beteiligung dieser Unternehmen an den Preisinitiativen beweist (vgl. Entscheidung, Randnr. 20). Die von den Klägerinnen in diesem Zusammenhang angeführten Schriftstücke sind somit nicht erheblich. Im übrigen geben die Klägerinnen diese Schriftstücke nur unvollständig wieder, da dort ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß die mündlichen Anweisungen durch die Übersendung schriftlicher Listen ergänzt würden (insbesondere Anlagen 30 zu der Stellungnahme von DSM und LVM und 41 zu der von Enichem).
[1047] 1043. Somit sind die übrigen von den Klägerinnen vorgelegten Schriftstücke zu prüfen.
[1048] 1044. Allgemein weisen einige Klägerinnen darauf hin, daß die von ihnen vorgelegten Schriftstücke keinen Hinweis auf eine Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise zwischen den Unternehmen enthielten (Anlagen 19 und 31 zu der Stellungnahme von DSM und LVM und 135 zu der von BASF). Daß Schriftstücke keinen solchen Hinweis enthalten, kann jedoch an den Schlußfolgerungen der Kommission, die auf schriftliche Beweise gestützt sind, nichts ändern. Dies gilt insbesondere für Pressekomminiqués oder Schreiben eines Herstellers an seine Kunden zur Ankündigung einer Preiserhöhung. In solchen Schriftstücken ist nämlich ein Hinweis, daß diese Erhöhung in Absprache mit anderen Herstellern erfolgt, nicht zu erwarten.
[1049] 1045. Die Klägerinnen beziehen sich weiterhin auf drei interne Schriftstücke von Shell vom 12. Juli 1982, 19. April 1983 und 4. November 1983, die mit "business plans" überschrieben sind und die Zeiträume 1982/86, 1983/87 und 1984/87 erfassen (Anlagen 1 bis 3 zu der Stellungnahme von DSM und LVM sowie 1 und 2 zu der von ICI). Unabhängig davon, daß diese Schriftstücke zur Zeit des Verwaltungsverfahrens vertraulich waren, kann die Tatsache, daß in diesen Schriftstücken von einer Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EG-Vertrag nicht die Rede ist, die von der Kommission vorgelegten schriftlichen Beweise nicht erschüttern. Diese Schriftstücke betreffen ihrem Wesen nach Marktprognosen für die Zukunft. Die Hinweise auf einen zu erwartenden "Konkurrenzdruck" oder die Annahme (5underlying assumption") einer ganz auf Wettbewerb ausgerichteten Preispolitik können die Schlußfolgerungen der Kommission nicht beeinträchtigen, die sich auf spätere Unterlagen stützen, die aus der Zeit der beanstandeten Handlungen stammen und für 1983 und 1984 Preisinitiativen belegen, an denen u. a. Shell teilgenommen hat.
[1050] 1046. Einige Klägerinnen verweisen darauf, daß einige Schriftstücke die durch Überkapazität gekennzeichnete Marktlage, die den Herstellern im entscheidungserheblichen Zeitraum entstandenen Verluste und die Umstrukturierung einiger Unternehmen veranschaulichten (z. B. Anlagen 139 zu der Stellungnahme von BASF und 13 zu der von Hüls).
[1051] 1047. Die Kommission hat jedoch der Lage des Marktes und der Unternehmen in vollem Umfang Rechnung getragen (Entscheidung, Randnrn. 5 und 36), auch bei der Bemessung der Geldbuße (Entscheidung, Randnr. 52, zweiter Absatz). Wie bereits festgestellt, sind diese Umstände als solche nicht geeignet, die Anwendung des Artikels 85 EG-Vertrag auszuschließen (vgl. vorstehend, Randnr. 740).
[1052] 1048. LVM und DSM berufen sich auf ein handschriftliches Dokument von 1983, das die Abschrift der handschriftlichen Anmerkungen auf den Planungsdokumenten enthalte (Anlage 6 zu ihrer Stellungnahme). Sie führen aber nicht näher aus, inwiefern diese Anmerkungen, die den Klägerinnen bei der Anhörung vor der Kommission im September 1988 übergeben wurden (vgl. vorstehend, Randnrn. 503 bis 505), den Sinn der Planungsdokumente verändern.
[1053] 1049. Die Klägerinnen berufen sich sodann auf Schriftstücke, die den von der Kommission zur Stützung ihrer Feststellungen vorgelegten Schriftstücken unmittelbar die Beweiskraft nähmen.
[1054] 1050. So sei einigen Schriftstücken zu entnehmen, daß der Begriff "Ausgleich" nicht den Sinn habe, den die Kommission ihm in der Entscheidung beimesse (namentlich Anlage 5 zu der Stellungnahme von Elf Atochem und 11 zu der von ICI). Die Verwendung desselben Begriffes in offenkundig anderen Zusammenhängen kann jedoch die Feststellungen der Kommission nicht erschüttern. Das Vorliegen einer Ausgleichsregelung, wie sie die Kommission in der Entscheidung angeführt hat, ergibt sich ausdrücklich aus dem Schriftstück "sharing the pain" und dem Alcudia-Dokument (vgl. vorstehend, Randnrn. 588 bis 593). Es ergibt sich auch aus dem DSM-Dokument und aus dem Vergleich dieses Dokuments mit den beiden vorangegangenen (vgl. vorstehend, Randnrn. 594 bis 598).
[1055] 1051. Elf Atochem verweist auf ein Schriftstück, das die Entwicklung der Marktanteile von Shell 1981 zeige, die mit einem Ausgleichssystem der Hersteller nicht vereinbar sei (Anlage 1 zu der Stellungnahme der Klägerin). Aus der Entscheidung ergibt sich jedoch, daß Shell gerade der einzige Hersteller gewesen ist, der nicht an dieser Regelung teilgenommen hat, und daß die Kommission eine Beteiligung von Shell an der Zuwiderhandlung erst von 1982 an angenommen hat.
[1056] 1052. DSM, LVM und Enichem berufen sich auch auf Tabellen in der Anlage zu der Antwort von ICI auf ein Auskunftsverlangen (Anlagen 37 zu der Stellungnahme von DSM und LVM sowie 37 bis 39 zu der von Enichem). Zwar sei diese Antwort vom 5. Juni 1984 als Anlage 4 der Mitteilung der Beschwerdepunkte beigefügt gewesen, jedoch ohne die betreffenden Tabellen, die die internen Zielpreise von ICI von September 1980 bis Dezember 1983 für den jeweiligen nationalen Markt enthielten. Diese Tabellen zeigten andere Zielpreise, als sie die Kommission in ihrer Entscheidung ermittelt habe. Die Unterschiede zwischen diesen Preisen sprächen gegen eine Absprache der Preisinitiativen.
[1057] 1053. Diese Tabellen waren jedoch für das Verfahren zur Feststellung der Zuwiderhandlung erstellt worden. Die Behauptung von ICI, daß es sich um unternehmensinterne Preisinitiativen handele, kann daher die Feststellungen der Kommission bezüglich der von ihr vorgelegten Schriftstücke nicht beeinträchtigen. Unabhängig von der Frage der Wechselkurse, die Enichem für die Umrechnung der von ICI mitgeteilten Preisziele, die in nationaler Währung ausgedrückt waren, in Deutsche Mark, die Währung, in der die Preisinitiativen in den Tabellen in der Anlage zur Entscheidung ausgedrückt sind, zugrunde gelegt hat, ist festzustellen, daß die Klägerinnen die Anmerkungen und Vorbehalte von ICI selbst zu diesen Tabellen außer acht lassen. So hat ICI erklärt, daß es sich um die Preise handele, die für "zweitrangige" Kunden gegolten hätten, und daß das Fehlen eines Hinweises auf eine Preisinitiative für einen bestimmten Monat nicht bedeute, daß es eine solche nicht gegeben habe, sondern daß hierüber keine schriftlichen Aufzeichnungen vorlägen. Tatsächlich enthalten diese Tabellen keinen Hinweis auf Preisinitiativen, die sich aber ausdrücklich aus Unterlagen dieses Unternehmens ergeben, die der Mitteilung der Beschwerdepunkte als Anlage beigefügt waren. Die von Enichem angeführten Unterschiede beruhen darauf, daß ICI die Preise für die "zweitrangigen" Kunden angegeben hat, bestehen aber nicht mehr, wenn man die Preise für die Hauptkunden berücksichtigt, wie sie in den Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte angegeben sind.
[1058] 1054. Hüls führt ein Schreiben von ICI vom 7. März 1983 an, das die Auslegung der Anlage P45 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vom 6. April 1983 über die in zwei Phasen, zum 1. April und zum 1. Mai 1983, erfolgte Preisinitiative in Frage stelle (Anlage 11 zur Stellungnahme von Hüls). Dieses Schreiben zeige nämlich, daß ICI ihre Preise individuell entsprechend der Nachfrage auf dem Markt selbst auf die Gefahr des Verlustes von Kunden festgesetzt habe.
[1059] 1055. Die streitige gemeinsame Initiative wird durch mehrere Schriftstücke (u. a. die Anlagen 42 und P42 bis P53 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte) und nicht nur durch die Anlage P45 belegt. Die Kommission hat bewiesen, daß am 2. März 1983 eine Herstellersitzung in Paris stattgefunden hat, auf der sowohl die Absatzmengen als auch die Höhe der Preise erörtert wurden. Im übrigen hat Hüls auch ein Fernschreiben von ICI vom 4. März 1983 (Anlage 10 zur Stellungnahme dieser Klägerin) vorgelegt, aus dem sich ergibt, daß ICI ein energisches Vorgehen zur Anhebung der Preise auf 1,50 DM/kg zum 1. April beschlossen hatte. Zwei Tage nach der Sitzung in Paris hatte ICI also eine Preisanhebung beschlossen, deren Zeitpunkt und Höhe mit der von der Kommission in der Entscheidung festgestellten Initiative übereinstimmten. Schließlich bezieht sich ein anderes Fernschreiben von ICI von Anfang März 1983 (Anlage 19 zur Stellungnahme von Hüls) nicht nur auf die Preisinitiative vom 1. April 1983, sondern auch auf die vom 1. Mai 1983 zur Anhebung der Preise auf mindestens 1,65 DM/kg. Dies ist auch im Zusammenhang mit der Anlage P43 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte zu sehen, die zwar kein Datum trägt, ihrem Inhalt nach aber vor Montag, dem 7. März 1983, verfaßt worden sein muß. In diesem Schriftstück wird bereits der Beschluß einer Anhebung der Preise zum 1. April und 1. Mai 1983 unter Angabe der Zielpreise angeführt.
[1060] 1056. Unter diesen Umständen stellt das Schreiben von ICI vom 7. März 1983, das von dem Vertreter von ICI auf den Herstellersitzungen unterzeichnet ist, nicht nur die Feststellungen der Kommission nicht in Frage, sondern bestätigt sie vielmehr. Wenn sich der Verfasser angesichts des Scheiterns der vorangegangenen Initiative vom 1. Januar 1983, die ebenfalls von der Kommission in der Entscheidung angeführt worden ist, fragt, ob diese neue Initiative Erfolg haben werde, spricht dies nicht gegen die Tatsache, daß sie das Ergebnis einer Abstimmung der Hersteller fünf Tage früher in Paris war.
[1061] 1057. DSM, LVM (Anlage 30 zu ihrer Stellungnahme) und Hüls (Anlage 20 zu ihrer Stellungnahme) führen auch ein Schriftstück von ICI vom 19. April 1983 an, das belege, daß ICI von der Preisinitiative erst aufgrund von Informationen erfahren habe, die sie auf dem Markt erlangt habe. Die Klägerinnen lassen aber die Tatsache außer acht, daß ICI schon in den ersten Tagen des März, d. h. unmittelbar nach der Herstellersitzung vom 2. März 1983 in Paris, über den Zeitpunkt und die Höhe der Preisinitiative vom 1. Mai 1983 unterrichtet war (vgl. vorstehend, Randnr. 1055). Das Schriftstück vom 19. April 1983 verweist im übrigen selbst auf ein früheres Schreiben vom 10. März 1983.
[1062] 1058. Enichem legt zudem eine Reihe von Schriftstücken vor, die die Feststellung der Kommission in Frage stellten, daß die Initiativen in Deutscher Mark festgesetzt und anschließend in die nationale Währung umgerechnet worden seien. Dieser Streit hat jedoch keine Bedeutung. Zum einen ergibt sich aus den Anlagen P1 bis P70, daß die europäischen Zielpreise tatsächlich in Deutscher Mark vereinbart wurden. Die Klägerin hat sich im übrigen selbst auf Auszüge zahlreicher Schriftstücke bezogen, die diesen Sachverhalt bestätigen (z. B. Anlagen 2 und 36 zu ihrer Stellungnahme). Zum anderen ist offenkundig, daß diese Preise zu ihrer Durchsetzung in die nationale Währung umgerechnet werden mußten. Schließlich hat die Kommission niemals behauptet, daß die Preisinitiativen die völlige Übereinstimmung der auf den nationalen Märkten tatsächlich angewandten Preise gewährleistet hätten.
[1063] 1059. Einige Schriftstücke sollen belegen, daß die Unternehmen von ihren Kunden oder der Fachpresse über die Preisinitiativen der anderen Hersteller unterrichtet worden seien (Anlagen 31 und 33 zu der Stellungnahme von DSM und LVM, 140 zu der von BASF, 9 und 33 zu der von Hüls, 3 bis 6 und 10 bis 12 zu der von Enichem). Diese Unterlagen lassen jedoch nicht den Schluß zu, daß die Unternehmen nur über diese Kanäle von einer Preisinitiative erfahren haben. Dagegen ist mit ihnen die Auffassung vereinbar, daß die Klägerinnen bei den Kunden oder über die Fachpresse zu überprüfen versuchten, ob die Konkurrenten eine Preiserhöhung tatsächlich angekündigt und zum vorgesehenen Zeitpunkt durchgeführt hatten – was sich auch aus Schriftstücken ergibt, die bereits in den Anlagen P1 bis P70 übermittelt wurden. Da diese Initiativen oft nicht in dem verlangten Umfang befolgt wurden, erlaubte diese Information vor allem jedem Unternehmen, sich über die Folgen einer Initiative zu vergewissern und seine Politik je nach dem Erfolg oder dem völligen oder teilweisen Mißerfolg einer Initiative anzupassen.
[1064] 1060. Die anderen von den Klägerinnen angeführten Schriftstücke sollen beweisen, daß in der Zeit der Zuwiderhandlung auf dem PVC-Markt ein lebhafter Wettbewerb geherrscht habe, was in völligem Gegensatz zu den Folgerungen der Kommission stehe. Die Klägerinnen beziehen sich insbesondere auf Schriftstücke, die "aggressive" Konkurrenten anführen oder auf für eine Preiserhöhung günstige oder ungünstige wirtschaftliche Bedingungen hinweisen, was nach Ansicht der Unternehmen bedeutet, daß die Initiativen nicht abgesprochen, sondern einseitig entsprechend der Marktlage beschlossen worden seien.
[1065] 1061. Diese Unterlagen sollen nicht unmittelbar die von der Kommission zur Stützung ihrer Schlußfolgerungen vorgelegten Schriftstücke widerlegen, sondern einen lebhaften Wettbewerb beweisen, der im Gegensatz zu diesen Folgerungen steht.
[1066] 1062. Wie sich jedoch aus der Entscheidung ergibt, sind diese Umstände in vollem Umfang berücksichtigt worden. So behauptet die Kommission nicht, daß die Preise in dem Zeitraum der Zuwiderhandlung ständig gestiegen oder auch nur stabil geblieben seien. Die Tabellen in der Anlage zu der Entscheidung zeigen vielmehr, daß die Preise ständig geschwankt und ihren Tiefststand im ersten Quartal 1982 erreicht haben. Die Kommission hat somit ausdrücklich anerkannt, daß die Preisinitiativen einen gemischten Erfolg hatten und gelegentlich als gescheitert angesehen wurden (Entscheidung, Randnrn. 22 und 36 bis 38). Sie hat auch einige Gründe hierfür genannt: Neben den nicht von den Herstellern beeinflußten Faktoren (vorgezogene Käufe der Verbraucher, Einfuhren aus Drittländern, Rückgang der Nachfrage insbesondere 1981 und 1982, Sonderrabatte) hat die Kommission darauf hingewiesen, daß einige Hersteller gelegentlich ihrem Auftragsvolumen den Vorrang vor den Preisen eingeräumt haben (Entscheidung, Randnrn. 22 und 38) und daß es angesichts der Besonderheiten des Marktes aussichtslos gewesen wäre, konzertierte Preisinitiativen zu vereinbaren, wenn die Bedingungen für einen Preisanstieg ungünstig gewesen wären (Entscheidung, Randnr. 38). Die Kommission hat zudem das "aggressive" Verhalten einiger Unternehmen nicht außer acht gelassen (Entscheidung, Randnr. 22). Ebenso hat sie festgestellt, daß das Schriftstück "sharing the pain" sowie die Dokumente von Alcudia und DSM zwar eine Ausgleichsregelung der Hersteller belegten, aber auch die Schlußfolgerung erlaubten, daß diese Regelungen nicht richtig funktioniert hätten (Entscheidung, Randnr. 11). Die Kommission hat die Höhe der gegen die Klägerinnen verhängten Geldbußen aufgrund all dieser Erwägungen festgesetzt.
[1067] 1063. Sowohl die Anlagen P1 bis P70 als auch die von der Kommission den Parteien im Mai 1988 übermittelten Unterlagen lieferten bereits eine Fülle von Informationen, auf deren Grundlage die Klägerinnen, wie sie es im übrigen auch getan haben, die Umstände geltend machen konnten, auf die sie sich heute berufen.
[1068] 1064. Beschränkt man sich bei einigen der vorgelegten Schriftstücke nicht auf die von den Klägerinnen angeführten Stellen, sondern liest sie als Ganzes oder in Verbindung mit anderen Anlagen zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, so bestätigen diese Schriftstücke sogar die Schlußfolgerungen der Kommission.
[1069] 1065. So unterstützten Konkurrenten, die zu einem bestimmten Zeitpunkt als aggressiv bezeichnet wurden, im Gegensatz dazu eine frühere oder folgende Preisinitiative. ICI beruft sich z. B. auf ein Schriftstück von Shell vom Juli 1982, in dem sie als voraussichtlich aggressiver Wettbewerber beschrieben wird (Anlage 4 zur Stellungnahme); die Anlage P37 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte, die von ICI stammt, bezeugt jedoch deren starke Unterstützung für die Preisinitiative von September 1982. Gleiches ist festzustellen, wenn man die Anlage 12 der Stellungnahme von ICI mit den Anlagen P38 und P40 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte vergleicht. Die gleiche Schlußfolgerung ergibt sich auch für DSM namentlich aus den Anlagen P5, P13, P28 und P41 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte.
[1070] 1066. In einem internen Vermerk von Wacker vom 7. Juni 1982 (Anlagen 7 zu der Stellungnahme von Shell, 5 zu der von SAV und 14 zu der von ICI) heißt es nach dem Hinweis auf den katastrophalen Preisverfall an einer Stelle, auf die sich die Klägerinnen beziehen: "Starke Marktanteilgewinne [in Deutschland für den Zeitraum Januar bis Mai 1982]: Shell und Enoxy; mittlere Marktanteilgewinne: DSM, SAV, PCUK; überdurchschnittliche Verluste neben Wacker – Hoechst, Orgavyl und CWH sowie BASF." In der folgenden Zeile fährt der Verfasser jedoch fort: "Seit Mai sind Bestrebungen im Gange, die Preise für homopolymeres PVC zu sanieren." Diese angeblich individuellen Bestrebungen auf einem vom Wettbewerb geprägten Markt bestanden in der Festlegung eines Zielpreises für den 1. Mai 1982, der um 35 % über dem Marktpreis lag, und eines neuen Zielpreises für den 1. Juni 1982, der um mehr als 10 % über dem vorangegangenen Zielpreis lag (d. h. Preise von 1,35 DM/kg bzw. 1,50 DM/kg, die den Zielpreisen entsprechen, die die Kommission zu dem jeweiligen Zeitpunkt ermittelt hat). Dies ist im Zusammenhang mit der ebenfalls von Wacker stammenden Anlage P25 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte zu sehen, in der der Verfasser trotz dieser erheblichen Erhöhung in der von den Klägerinnen beschriebenen Wettbewerbssituation bemerkt: "Dadurch dürften die Lieferungen im Mai gut … sein." Ebenso heißt es in der Anlage P23 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte nach der Feststellung, daß die Preise im April auf 1 DM/kg gesunken seien: "[D] er Preisrutsch ist Ende des Monats aufgrund der Ankündigung einer allgemeinen Erhöhung der europäischen Preise auf 1,35 DM/kg zum 1. Mai zum Stehen gekommen." Sowohl aufgrund des Vermerks von Wacker vom 3. März 1982, den die Kommission den Parteien am 3. Mai 1988 übermittelt hatte, als auch aufgrund der Anlage P25 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte hätte das gleiche Argument geltend gemacht werden können, das die Klägerinnen aufgrund des Vermerks von Wacker vom 7. Juni 1982 angeführt haben.
[1071] 1067. Ebenso enthält ein Vermerk von Solvay vom 22. März 1983 (Anlage 43 zur Stellungnahme von Enichem) nach dem Hinweis auf die besorgniserregende Preissituation und die Aggressivität einiger Hersteller folgenden Kommentar: "Heute stehen wir wieder einmal kurz vor dem Versuch einer Preiserhöhung." In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, daß die Kommission aufgrund von Schriftstücken, die von anderen Unternehmen stammen, eine Initiative festgestellt hat, die am 1. April 1983 erfolgt ist. Das genannte Schriftstück erwähnt darüber hinaus die Preisinitiativen von Mai, Juni und September 1982, die alle drei von der Kommission in der Entscheidung angeführt worden sind.
[1072] 1068. Schließlich verweisen sehr viele von den Klägerinnen vorgelegte Schriftstücke ausdrücklich auf "Preisinitiativen", deren Zeitpunkt und Höhe genau mit denen übereinstimmen, die die Kommission in der Entscheidung angeführt hat.
[1073] 1069. Shell beruft sich auch auf Unterlagen von ICI, die bestätigten, was sie stets geltend gemacht habe, nämlich daß sie als Dienstleistungsgesellschaft nicht in der Lage gewesen sei, den Vertriebsgesellschaften der Gruppe in den verschiedenen Mitgliedstaaten irgendein Verhalten vorzuschreiben (Anlagen 2 und 3 zu der Stellungnahme von Shell). Darauf hat die Kommission in der Entscheidung jedoch ausdrücklich hingewiesen (Randnr. 46), auch wenn sie trotzdem die Meinung vertreten hat, daß die Entscheidung vor allem deshalb an die Klägerin zu richten sei, weil diese die Einheit gewesen sei, die mit dem Kartell in Verbindung gestanden habe. In einem dieser Schriftstücke (Anlage 3 zu der Stellungnahme von Shell), einem Bericht über die Sitzung von ICI und Shell, hat letztere angegeben, "welchen Weg ICI innerhalb von Shell gehen muß", um eine Koordinierung innerhalb der Gruppe zu erreichen.
[1074] 1070. Speziell zu den Herstellersitzungen und der Regelung zur Überwachung der Verkäufe sind keine Unterlagen vorgelegt worden.
[1075] 1071. Die Berichte über die am Sitz der Unternehmen durchgeführten Nachprüfungen, deren Vorlage einige Klägerinnen beantragt haben, sind kommissionsinterne Schriftstücke. Als solche sind sie den Klägerinnen nicht zugänglich (vgl. vorstehend, Randnr. 1015). Die Tatsache, daß zwei Berichte trotzdem übermittelt worden sind, kann hieran nichts ändern.
[1076] 1072. Diese beiden Berichte müssen ungeachtet ihres Inhalts unberücksichtigt bleiben, da sie zu Recht bei der Akteneinsicht nicht vorgelegt worden wären, wenn diese 1988 stattgefunden hätte. Im übrigen sind diese Schriftstücke, die am nächsten Tag oder einige Tage später nach der am 20. und 21. Januar 1987 in den Geschäftsräumen von BASF durchgeführten Nachprüfung verfaßt wurden und aus denen sich ergibt, daß keine Indizien für eine abgestimmte Verhaltensweise gefunden werden konnten, nicht geeignet, den Beweiswert der Unterlagen zu erschüttern, die die Kommission zur Stützung ihrer endgültigen Schlußfolgerungen zusammengetragen hat.
[1077] 1073. Hüls und Enichem haben darauf hingewiesen, daß neben den kommissionsinternen Schriftstücken und Schriftstücken, auf deren vertrauliche Behandlung das Unternehmen, von dem sie stammten, nicht verzichtet habe, einige Seiten der Akten den Klägerinnen nicht mitgeteilt worden seien; sie haben jedoch keinen förmlichen Antrag auf Vorlage dieser Schriftstücke gestellt. Dabei handelt es sich um ein Auskunftsverlangen, das im Untersuchungsverfahren an die Kemanord gestellt wurde; ein solches Verlangen kann seinem Wesen nach keine für die Verteidigung der Klägerinnen nützlichen Hinweise enthalten. Die anderen Unterlagen bestehen in Anschreiben oder Deckblättern von Fernkopien, die Drittunternehmen an die Kommission oder umgekehrt gesandt haben. Wie die Kommission ausgeführt hat, stand es ihr nicht zu, diese Unterlagen herauszugeben, da die betreffenden Unternehmen auf die vertrauliche Behandlung nicht verzichtet hatten. Im übrigen spricht nichts dafür, daß diese Unterlagen im Rahmen der vorliegenden Prüfung irgendwie nützlich sein könnten. Enichem hat ebenfalls auf ein Schreiben von Wacker verwiesen, das ihr nicht mitgeteilt worden sei. Aus dem Schreiben der Kommission an die Kanzlei des Gerichts vom 17. Juli 1997 ergibt sich jedoch, daß dieses Schriftstück den Klägerinnen zugänglich war und blieb.
[1078] 1074. Aus der erschöpfenden Prüfung der von den Klägerinnen angeführten Schriftstücke durch das Gericht ergibt sich, daß keine Klägerin den Nachweis erbracht hat, daß durch die Nichtübermittlung eines Schriftstücks, das sie hätten kennen müssen, der Ablauf des Verfahrens und die Entscheidung zu ihren Ungunsten beeinflußt werden konnte.
[1079] 1075. Nach alledem sind die Klagegründe bezüglich der Einsicht in die Verfahrensakten der Kommission zurückzuweisen.
Geldbußen
[1080] 1076. Alle Klägerinnen haben hilfsweise beantragt, die verhängten Geldbußen für nichtig zu erklären oder herabzusetzen. Ihre Argumentation gliedert sich in fünf Teile. Erstens führen sie Klagegründe an, die mit der Länge des verstrichenen Zeitraums und den Verjährungsvorschriften der Verordnung Nr. 2988/74 zusammenhängen (I). Zweitens rügen sie einen Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 (II). Drittens werfen sie der Kommission eine unzureichende Begründung vor (III). Viertens machen sie geltend, die Kommission habe verschiedene Beurteilungsfehler begangen (IV). Fünftens rügen sie den Verstoß gegen einige allgemeine Grundsätze des Gemeinschaftsrechts (V).
I – Zu den Klagegründen, die sich auf die Länge des verstrichenen Zeitraums und die Verjährung stützen
[1081] 1077. Zur Stützung ihrer Anträge auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbußen tragen die Klägerinnen zunächst die gleichen Klagegründe vor, die sie zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung der Entscheidung (vgl. vorstehend, Randnrn. 100 bis 119) wegen der Länge des verstrichenen Zeitraums angeführt haben.
[1082] 1078. Aus den bereits dargelegten Gründen (vgl. vorstehend, Randnrn. 120 bis 136) sind diese Klagegründe zurückzuweisen.
[1083] 1079. Somit sind die Klagegründe zu prüfen, mit denen ein Verstoß gegen die Verordnung Nr. 2988/74 gerügt wird.
Vorbringen der Parteien
[1084] 1080. Die Klägerinnen machen geltend, daß die Befugnis zur Festsetzung von Geldbußen nach der Verordnung Nr. 2988/74 verjährt sei. Dazu tragen sie acht Argumente vor.
[1085] 1081. Erstens konnten nach Ansicht von BASF die verschiedenen Abschnitte des Verwaltungsverfahrens vor dem Erlaß der Entscheidung von 1988 die Verjährung nicht unterbrechen, da diese Abschnitte durch das Urteil vom 15. Juni 1994 für unwirksam erklärt worden seien.
[1086] 1082. Zweitens waren nach der Ansicht von drei Klägerinnen in ihrem Fall die Handlungen bei Erlaß der Entscheidung 1988 – zumindest teilweise – bereits verjährt. So führen Montedison und Hüls aus, daß die Handlungen vor November 1982 für erstere und vor Dezember 1982 für letztere verjährt seien, da die erste Handlung, die das Verfahren gegen sie unterbrochen habe, im November bzw. im Dezember 1987 vorgenommen worden sei. Um zu beweisen, daß sie am 1. November 1982 keine Verbindung mehr zu dem Kartell gehabt hat, hat Montedison beantragt, das geschäftsführende Mitglied des Verwaltungsrats und den für ihre Tochtergesellschaft Montedipe zuständigen Manager, die am 1. November 1982 diese Funktionen innegehabt hätten, als Zeugen zu vernehmen. DSM meint, ihre Handlungen seien seit Januar 1988 verjährt, da sie sich im Januar 1983 vom Markt zurückgezogen habe.
[1087] 1083. Drittens machen BASF und ICI geltend, die Entscheidung 1988 sei keine verjährungsunterbrechende Handlung im Sinne des Artikels 2 Absatz 1 der Verordnung Nr. 2988/74. Jedenfalls sei sie für nichtig erklärt worden und habe folglich keine Rechtswirkungen mehr, auch nicht im Bereich der Verjährung.
[1088] 1084. Viertens tragen LVM, BASF, DSM, ICI und Hüls vor, die Klagen gegen die Entscheidung 1988 hätten nicht zum Ruhen der Verjährung geführt. Eine Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße verhängt werde, falle nicht unter Artikel 3 der Verordnung Nr. 2988/74.
[1089] 1085. Fünftens machen ICI und Hüls geltend, selbst wenn die Klagen gegen eine Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße verhängt werde, zum Ruhen der Verjährung führen könnten, sei dies bei den Klagen gegen die Entscheidung 1988 nicht der Fall. Die Länge des verstrichenen Zeitraums könne nur der Kommission angelastet werden, die allein für die Nichtigkeit der Entscheidung von 1988 verantwortlich sei.
[1090] 1086. Sechstens tragen LVM und DSM vor, wenn die Klage gegen die Entscheidung 1988 zum Ruhen der Verjährung geführt haben sollte, ergebe sich daraus eine Ungleichbehandlung von Solvay und Norsk Hydro auf der einen und den anderen Unternehmen auf der anderen Seite. Da die Entscheidung 1988 vom Gerichtshof mit Wirkung erga omnes für nichtig erklärt worden sei, könne sie gegenüber den beiden erstgenannten Unternehmen nicht mehr vollzogen werden.
[1091] 1087. Siebtens konnte nach Ansicht von LVM, DSM und ICI die Klage von Solvay gegen ein Auskunftsverlangen, über die mit Urteil vom 18. Oktober 1989 in der Rechtssache Solvay/Kommission entschieden worden sei, nicht zum Ruhen der Verjährung im Falle der anderen Unternehmen führen.
[1092] 1088. LVM, BASF, DSM und ICI machen achtens geltend, daß die Befugnis der Kommission zur Verhängung der Geldbußen aufgrund der unbedingten Frist in Artikel 2 Absatz 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/74 jedenfalls zum Zeitpunkt des Erlasses der zweiten Entscheidung am 27. Juli 1994 verjährt gewesen sei.
Würdigung durch das Gericht
[1093] 1089. Nach Artikel 1 der Verordnung Nr. 2988/74 verjährt die Befugnis der Kommission, wegen Zuwiderhandlungen gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag Geldbußen festzusetzen, in fünf Jahren. Die Verjährung beginnt mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung begangen worden ist, bei dauernden oder fortgesetzten Zuwiderhandlungen mit dem Tag, an dem die Zuwiderhandlung beendet ist. Sie kann jedoch nach den Artikeln 2 und 3 der Verordnung Nr. 2988/74 unterbrochen werden oder ruhen.
[1094] 1090. Wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnrn. 183 bis 193), ist die Rechtsgültigkeit der Handlungen zur Vorbereitung des Erlasses der Entscheidung 1988 durch die Nichtigerklärung aufgrund des Urteils des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 nicht in Frage gestellt worden. Daher haben diese Handlungen die Verjährung wirksam im Sinne des Artikels 2 der Verordnung Nr. 2988/74 unterbrochen.
[1095] 1091. Wie sich aus der Entscheidung ergibt (Randnr. 6), wurden am 21., 22. und 23. November 1983 in den Geschäftsräumen von ICI und Shell und am 6. Dezember 1983 in denen von DSM Nachprüfungen durchgeführt. Ein schriftliches Auskunftsverlangen wurde aufgrund einer Entscheidung vom 30. April 1984 an ICI gerichtet. Nachprüfungen wurden am 20. und 21. Januar 1987 in den Geschäftsräumen u. a. von Atochem, Enichem und Solvay und später im selben Jahr in denen von Hüls, Wacker und LVM durchgeführt. Schließlich wurde den Unternehmen am 5. April 1988 die Mitteilung der Beschwerdepunkte zugestellt.
[1096] 1092. Erstens hat jede dieser Handlungen gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstaben a, b und d der Verordnung Nr. 2988/74 die Verjährung unterbrochen. Zweitens hat die Verjährung nach jeder Unterbrechung gemäß Artikel 2 Absatz 3 Satz 1 dieser Verordnung von neuem begonnen. Drittens wirkt die Verjährung gemäß Artikel 2 Absatz 2 der Verordnung gegenüber allen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen.
[1097] 1093. Daher war die Befugnis der Kommission, Geldbußen für Handlungen zu verhängen, die frühestens im August 1980 begangen wurden, nicht verjährt, als sie die Entscheidung 1988 erließ. Unter diesen Umständen besteht kein Grund, dem Antrag von Montedison auf Zeugenvernehmung stattzugeben.
[1098] 1094. Die Klägerinnen bestreiten weiter, daß die Klagen gegen die Entscheidung 1988, die alle erhoben hatten, zum Ruhen der Verjährung geführt hätten.
[1099] 1095. Artikel 3 der Verordnung Nr. 2988/74 lautet: "Die Verfolgungsverjährung ruht, solange wegen der Entscheidung der Kommission ein Verfahren vor dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften anhängig ist."
[1100] 1096. Nach Ansicht der Klägerinnen bezeichnet der Begriff "Entscheidung" in Artikel 3 die in Artikel 2 dieser Verordnung aufgezählten Handlungen. Da die endgültige Entscheidung, mit der eine Zuwiderhandlung festgestellt und eine Geldbuße festgesetzt werde, dort nicht aufgezählt sei, hätten die Klagen gegen die Entscheidung 1988 nicht zum Ruhen der Verjährung führen können.
[1101] 1097. Nicht alle in Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung aufgeführten Handlungen sind jedoch als Entscheidung zu qualifizieren. Dies gilt insbesondere für die schriftlichen Auskunftsverlangen nach Artikel 11, die Prüfungsaufträge nach Artikel 14 der Verordnung Nr. 17 oder auch die Mitteilung der Beschwerdepunkte, die nur vorbereitende Handlungen sind. Daher läßt sich nicht die Ansicht vertreten, daß der Begriff "Entscheidung" in Artikel 3 der Verordnung auf die in Artikel 2 dieser Verordnung aufgezählten Handlungen verweist.
[1102] 1098. Der eigentliche Zweck des Artikels 3 ist vielmehr, die Verjährung ruhen zu lassen, wenn die Kommission aus einem objektiven, von ihr nicht zu vertretenden Grund wegen der Anhängigkeit einer Klage an einem Tätigwerden gehindert ist. Eine Entscheidung, mit der die Kommission eine Geldbuße festsetzt, kann nämlich solange nicht als bestandskräftig angesehen werden, als die gesetzliche Frist zur Einlegung eines Rechtsbehelfs gegen diese Entscheidung läuft oder solange gegebenenfalls eine Klage anhängig ist. Endet diese Klage mit der Nichtigerklärung der Entscheidung, kann sich die Kommission veranlaßt sehen, eine neue Entscheidung zu erlassen. Artikel 2 der Verordnung über die Unterbrechung und Artikel 3 über das Ruhen der Verjährung verfolgen insoweit unterschiedliche Ziele. Während die erstgenannte Bestimmung die Konsequenz aus dem Erlaß von Ermittlungs- und Verfolgungshandlungen der Kommission ist, soll die zweite demgegenüber einen Ausgleich in einer Situation schaffen, in der die Kommission am Handeln gehindert ist.
[1103] 1099. Die Klägerinnen können sich nicht mit Erfolg darauf berufen, daß die Klagen gegen die Entscheidung 1988 nicht zum Ruhen der Verjährung hätten führen können, weil die genannte Entscheidung wegen eines der Kommission anzulastenden Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften für nichtig erklärt worden sei.
[1104] 1100. Artikel 3 der Verordnung, wonach die Verjährung ruht, solange ein Verfahren vor dem Gerichtshof anhängig ist, hat nämlich nur Sinn, wenn eine mit einer Klage angefochtene Entscheidung über die Feststellung einer Zuwiderhandlung und Festsetzung einer Geldbuße für nichtig erklärt wird. Wie die Kommission ausgeführt hat, ist die Nichtigerklärung eines von ihr erlassenen Rechtsakts ihr zwangsläufig in dem Sinne zuzurechnen, daß dadurch zum Ausdruck gebracht wird, daß sie einen Fehler begangen hat. Würde man der Auffassung der Klägerinnen folgen, daß eine Klage die Verjährung nicht zum Ruhen bringe, wenn sie zur Feststellung eines der Kommission zuzurechnenden Fehlers führe, hätte Artikel 3 der Verordnung keinen Sinn mehr. Allein die Anhängigkeit einer Klage vor dem Gericht oder dem Gerichtshof und nicht das Ergebnis, zu dem diese Rechtsprechungsorgane in ihrem Urteil kommen, rechtfertigt das Ruhen der Verjährung.
[1105] 1101. Somit hat die Verjährung solange geruht, wie die Entscheidung 1988 Gegenstand eines Verfahrens vor dem Gericht und dem Gerichtshof war, an dem die Klägerinnen beteiligt waren. Selbst wenn nur der Zeitpunkt der letzten, am 24. April 1989 beim Gericht eingereichten Klage zu berücksichtigen wäre und der Zeitraum zwischen der Verkündung des Urteils des Gerichts und der Anrufung des Gerichtshofes außer Betracht bleiben müßte, hätte die Verjährung mindestens vier Jahre elf Monate und zweiundzwanzig Tage geruht. Daher wäre selbst dann, wenn die am 5. April 1988 zugestellte Mitteilung der Beschwerdepunkte, wie die Klägerinnen meinen, die letzte verjährungsunterbrechende Handlung gemäß Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe d der Verordnung Nr. 2988/74 gewesen wäre, die Befugnis der Kommission zur Verhängung der Geldbußen am 27. Juli 1994, dem Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, nicht verjährt gewesen.
[1106] 1102. Die Klägerinnen machen allerdings geltend, daß sie gegenüber Solvay und Norsk Hydro diskriminiert würden, wenn die Klagen gegen die Entscheidung 1988 die Verjährung zum Ruhen gebracht hätten.
[1107] 1103. Diese Argumentation beruht jedoch auf der Annahme, daß die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof erga omnes wirkt. Dazu genügt der Hinweis, daß dies, wie bereits entschieden (vorstehend, Randnrn. 167 bis 174), nicht der Fall ist.
[1108] 1104. Selbst wenn die Auffassung der Klägerinnen zuträfe, würde dies nichts an der objektiven Feststellung ändern, daß die Befugnis der Kommission, gegen sie Geldbußen festzusetzen, nicht verjährt war.
[1109] 1105. Die in Artikel 2 Absatz 3 Satz 2 der Verordnung Nr. 2988/74 vorgesehene Höchstfrist von zehn Jahren für die Verjährung verlängert sich um den Zeitraum, in dem die Verjährung aufgrund der Anhängigkeit von Klagen vor dem Gericht oder Gerichtshof ruht (Artikel 2 Absatz 3 a. E. der Verordnung). Wie bereits festgestellt, ruhte die Verjährung mindestens vier Jahre elf Monate und zweiundzwanzig Tage. Daher war die Befugnis der Kommission zur Festsetzung von Geldbußen für die höchstens bis August 1980 zurückreichenden Handlungen nach Artikel 2 Absatz 3 der Verordnung Nr. 2988/74 am 27. Juli 1994, dem Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung, noch nicht verjährt.
[1110] 1106. Nach alledem ist festzustellen, daß die Befugnis der Kommission zur Festsetzung der Geldbußen nicht verjährt war, als sie die Entscheidung erließ. Daher erübrigt sich die Prüfung, ob der Erlaß der Entscheidung 1988 ebenfalls die Verjährung unterbrochen hat oder ob die Klage von Solvay gegen eine an sie gerichtete Entscheidung über die Anforderung von Auskünften die Verjährung gegenüber den anderen Unternehmen zum Ruhen gebracht hat. Selbst wenn dies alles zuträfe, würde dadurch nämlich nur das Ergebnis bestätigt, daß keine Verjährung eingetreten war.
II – Zu den Klagegründen, mit denen ein Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 gerügt wird
[1111] 1107. Die Klägerinnen wenden sich gegen die Feststellung der Vorsätzlichkeit und der Dauer der Zuwiderhandlung. Sie bestreiten auch den Umsatz, der für die Bemessung der Geldbuße zugrunde gelegt worden ist. Schließlich werfen sie der Kommission vor, verschiedene mildernde Umstände nicht berücksichtigt zu haben.
Zur Vorsätzlichkeit der Zuwiderhandlung
[1112] 1108. LVM, DSM, Wacker, Hoechst und Enichem bestreiten, daß die Kommission eine vorsätzlich begangene Zuwiderhandlung im Sinne des Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 nachgewiesen habe.
[1113] 1109. Diese Bestimmung lautete in der bei Erlaß der Entscheidung geltenden Fassung: "Die Kommission kann gegen Unternehmen und Unternehmensvereinigungen durch Entscheidung Geldbußen in Höhe von eintausend bis zu einer Million ECU oder über diesen Betrag hinaus bis zu zehn vom Hundert des von dem einzelnen an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmen im letzten Geschäftsjahr erzielten Umsatzes festsetzen, wenn sie vorsätzlich oder fahrlässig … gegen Artikel 85 Absatz 1 … des Vertrages verstoßen."
[1114] 1110. Im vorliegenden Fall ist die Kommission unstreitig von der Vorsätzlichkeit und nicht von einer bloßen Fahrlässigkeit der Zuwiderhandlung ausgegangen (Randnr. 51, zweiter Absatz, der Entscheidung).
[1115] 1111. Für eine vorsätzlich begangene Zuwiderhandlung gegen die Wettbewerbsregeln des Vertrages ist es nicht erforderlich, daß sich das Unternehmen des Verstoßes gegen diese Regeln bewußt gewesen ist, sondern es genügt, daß es sich nicht in Unkenntnis darüber befinden konnte, daß sein Verhalten eine Einschränkung des Wettbewerbs bezweckte (Urteil des Gerichtshofes vom 6. April 1995 in der Rechtssache T-143/89, Ferriere Nord/Kommission, Slg. 1995, II-917, Randnr. 41).
[1116] 1112. Im vorliegenden Fall ist angesichts der besonderen Schwere des in diesem Urteil beschriebenen und untersuchten wiederholten Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag, insbesondere dessen Buchstaben a und c, offenkundig, daß die Klägerinnen nicht nur unüberlegt und auch nicht fahrlässig, sondern sehr wohl vorsätzlich gehandelt haben.
[1117] 1113. Daher ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zur Dauer der Zuwiderhandlung
Vorbringen der Parteien
[1118] 1114. Die Klägerinnen machen geltend, die Entscheidung sei, zumindest teilweise, für nichtig zu erklären oder die Geldbuße sei für nichtig zu erklären oder herabzusetzen, da bei der Bestimmung der Dauer der Zuwiderhandlung verschiedene Fehler unterlaufen seien (Urteile Hoffmann-La Roche/Kommission, Randnrn. 140 und 141, Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnrn. 129 und 130, Petrofina/Kommission, Randnrn. 249 ff., vom 17. Dezember 1991, BASF/Kommission, Randnrn. 64 bis 72 und 259 bis 262, und Dunlop Slazenger/Kommission).
[1119] 1115. LVM und DSM werfen der Kommission vor, den Zeitpunkt des Beginns und der Beendigung der ihnen vorgeworfenen Zuwiderhandlung nicht hinreichend genau angegeben zu haben (Randnrn. 48 bzw. 54 der Entscheidung).
[1120] 1116. Konkret rügt DSM, daß die Randnummern 42, 48 und 54 der Entscheidung über die Beendigung der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung widersprüchlich seien, da die Verantwortlichkeit von DSM nach dem Wortlaut der Entscheidung mit der Gründung von LVM am 1. Januar 1983 geendet habe.
[1121] 1117. Nach Ansicht von Elf Atochem ist die Kommission nicht in der Lage gewesen, die Dauer der angeblichen Zuwiderhandlung nachzuweisen. Weder der Beginn noch die Beendigung der Zuwiderhandlung seien genau belegt.
[1122] 1118. BASF ist der Ansicht, daß es keinen Beweis dafür gebe, daß sie dem Kartell 1980 beigetreten sei. Ihre Beteiligung an der Zuwiderhandlung bis Mai 1984 stehe ebenfalls nicht fest. Diese Behauptung beruhe nämlich auf der Atochem-Tabelle, deren Beweiswert bereits entkräftet sei. Jedenfalls habe die Klägerin nicht an Sitzungen nach Oktober 1983, dem Zeitpunkt der ersten Ermittlungen der Kommission im Polypropylen-Bereich, teilgenommen. Zumindest hätte dies zu einer Herabsetzung der Geldbuße führen müssen.
[1123] 1119. Wacker und Hoechst machen in der Erwiderung geltend, die Entscheidung enthalte keine ausreichende Begründung für die Feststellung der Dauer der Zuwiderhandlung. Entgegen dem Grundsatz der individuellen Schuld sei die Dauer der Beteiligung jedes einzelnen Adressaten der Entscheidung – mit Ausnahme von Shell und ICI – nicht angegeben worden. Tatsächlich gebe es keinen Anhaltspunkt dafür, daß beide Klägerinnen an der Zuwiderhandlung schon im August 1980, dem angeblichen Kartellbeginn, bis zum Mai 1984, dem angeblichen Kartellende, beteiligt gewesen seien.
[1124] 1120. Für Montedison enthält die Entscheidung eine widersprüchliche Begründung. In Randnummer 43, letzter Absatz, der Entscheidung räume die Kommission nämlich ein, daß die Klägerin sich im März 1983 vom PVC-Markt zurückgezogen habe. Wie sich jedoch aus den Randnummern 26 und 51 der Entscheidung ergebe, habe die Kommission den Zeitraum nach dem März 1983 berücksichtigt.
[1125] 1121. Nach Ansicht von Hüls werden in der Entscheidung nicht die Gründe dargelegt, die die festgesetzte Geldbuße rechtfertigten. Insbesondere habe die Kommission nicht dargelegt, von welchem Zeitpunkt an die Klägerin sich an dem Kartell beteiligt und wann sie ihre Teilnahme beendet habe, da die Kommission nur die für die Mehrzahl der Unternehmen zutreffende Dauer des Kartells angegeben habe. Die Kommission habe somit gegen ihre Begründungspflicht verstoßen.
[1126] 1122. Enichem macht im Rahmen eines Klagegrundes, der sich auf die unzureichende Begründung bezieht, geltend, daß die Kommission unter Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 weder die Dauer der Zuwiderhandlung noch die Dauer der Beteiligung jedes einzelnen Unternehmens daran nachgewiesen habe.
Würdigung durch das Gericht
[1127] 1123. Zunächst sind die vorstehend wiedergegebenen Argumente zu untersuchen, die allein die Frage betreffen, ob gegen die Begründungspflicht verstoßen worden ist.
[1128] 1124. Abgesehen vom Fall von DSM, der anschließend zu prüfen sein wird (Randnr. 1127 ff.), hat die Kommission in den Randnummern 48 und 54 der Entscheidung zum einen die Dauer der Zuwiderhandlung, die sie jeder einzelnen Klägerin angelastet hat, und zum anderen die Schriftstücke oder Grundlagen, auf die sie sich zum Nachweis dieser Dauer stützt, klar angegeben. Somit sind sowohl die Klägerinnen als auch das Gericht in der Lage, zu überprüfen, ob die Feststellungen der Kommission richtig sind.
[1129] 1125. Die Verordnung Nr. 17 schreibt der Kommission zwar vor, die Dauer der Zuwiderhandlung zu bestimmen, die für die Bemessung der Geldbuße zu berücksichtigen ist, verlangt aber nicht, daß die Kommission bestimmt, zu welchem späteren Zeitpunkt die Zuwiderhandlung tatsächlich beendet worden ist. Somit kann der Kommission keine unzureichende Begründung hinsichtlich des Zeitpunkts der tatsächlichen Beendigung der Zuwiderhandlung vorgeworfen werden. Unterstellt, daß die Zuwiderhandlung tatsächlich beendet worden ist, würde dies nicht zur Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung führen, sondern diese Bestimmung lediglich insoweit wirkungslos machen, als den Unternehmen dort aufgegeben wird, die ihnen vorgeworfenen Verhaltensweisen abzustellen.
[1130] 1126. Bei der Untersuchung der Dauer der Zuwiderhandlung hat die Kommission festgestellt, daß Montedison seine Tätigkeiten im März 1983 auf Enichem übertragen hatte (Randnr. 43, letzter Absatz, der Entscheidung). Diese Feststellung steht nicht im Gegensatz zu den Randnummern 26, vierter Absatz, und 51, dritter Absatz, der Entscheidung. Die beiden letztgenannten betreffen nämlich spätere Zeiträume und nur die Unternehmen, die auf dem PVC-Markt noch tätig waren, d. h. offenkundig nicht die Klägerin. Der Klagegrund einer widersprüchlichen Begründung ist insoweit zurückzuweisen.
[1131] 1127. Als Zeitpunkt, der für die Beendigung der Teilnahme von DSM an der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung zugrunde gelegt worden ist, wird in der Entscheidung "Anfang 1983" (Randnr. 42, siebter Absatz), "April 1983" (Randnr. 48, vierter Absatz) und "Mitte 1983" (Randnr. 54, zweiter Absatz a. E.) genannt. Auch wenn der Standpunkt der Kommission nicht klar erkennbar ist, wobei aber nur die Randnummern 48 und 54 die gleiche Frage betreffen, ist jedenfalls der April 1983 der einzige Zeitpunkt, der in dem ausdrücklich der "Dauer der Zuwiderhandlung" gewidmeten Abschnitt der Entscheidung genannt wird.
[1132] 1128. Die Kommission hat in ihren Schriftsätzen in dieser Rechtssache bestätigt, daß sie den Monat April 1983 zugrunde gelegt habe, da kaum vorstellbar sei, daß DSM ihre Bedeutung im PVC-Sektor am 1. Januar 1983 von einem Tag auf den anderen völlig verloren habe.
[1133] 1129. Im Rahmen seiner Befugnis zu unbeschränkter Nachprüfung der Entscheidung stellt das Gericht fest, daß EMC Belgique (für SAV handelnd) und DSM mit Vereinbarung vom 22. Februar 1983 ihre jeweilige PVC-Produktion mit Wirkung zum 1. Januar 1983 auf LVM übertragen haben.
[1134] 1130. Wie sich aus der von DSM stammenden Anlage P41 zur Mitteilung der Beschwerdepunkte ergibt, wollte dieses Unternehmen "den Versuch einer Anhebung der Preise … zum 1. Januar [1983] unterstützen", und es war eine weitere Erhöhung für den Fall vorgesehen, daß die vorangegangene erfolgreich sein sollte. Dieses Schriftstück bestätigt die Auffassung der Kommission, daß die Entscheidungen von DSM vor ihrem Rückzug vom Markt noch in den Monaten nach diesem Zeitpunkt Wirkungen entfalten konnten. Da die zweite von der Kommission für 1983 festgestellte Preisinitiative am 1. April 1983 erfolgte, ist für die Bemessung der Geldbuße davon auszugehen, daß die Wirkungen der Beteiligung von DSM an dem Kartell bis zu diesem Zeitpunkt fortgedauert haben.
[1135] 1131. Daher sind die Klagegründe, die sich auf Begründungsmängel der Entscheidung bezüglich der Dauer der Zuwiderhandlung stützen, zurückzuweisen.
[1136] 1132. Einige Klägerinnen machen geltend, daß die Kommission die Dauer ihrer Beteiligung an der beanstandeten Zuwiderhandlung nicht nachgewiesen habe.
[1137] 1133. Wie jedoch festgestellt, werden in der Entscheidung die Dauer der den einzelnen Klägerinnen vorgeworfenen Zuwiderhandlung und die zum Nachweis hierfür von der Kommission herangezogenen Schriftstücke hinreichend genau angegeben. Offensichtlich wollen die Klägerinnen mit ihrem Vorbringen den Beweiswert dieser Schriftstücke anzweifeln, der bereits eingehend im Teil "Sachverhalt" dieses Urteils (Randnrn. 535 ff.) geprüft worden ist.
[1138] 1134. In den Planungsdokumenten wurden verschiedene Unternehmen, darunter die "neue französische Gesellschaft", BASF und Wacker, als Teilnehmer an dem neuen Rahmen für die Sitzungen genannt. Der in diesen Dokumenten enthaltene Plan für das Kartell wurde in den folgenden Wochen namentlich durch eine allgemeine Preisinitiative zum 1. November 1980 durchgeführt, die sich in den Planungsdokumenten abgezeichnet hat. Sowohl ICI als auch BASF haben eingeräumt, daß von August 1980 an Herstellersitzungen stattgefunden haben, deren wettbewerbswidrigen Zweck die Kommission nachgewiesen hat. Die Kommission hat in Randnummer 48, dritter Absatz, der Entscheidung festgestellt, daß Hoechst in den Planungsdokumenten nicht genannt war. Schon für Beginn 1981 enthalten die Solvay-Tabellen jedoch Angaben über die Absatzzahlen dieser Klägerin für den deutschen Markt im Jahr 1980.
[1139] 1135. Ebenso hat das Gericht den Beweiswert der Atochem-Tabelle bestätigt, und die letzte Preisinitiative, die die Kommission in dem für die Bemessung der Geldbuße zugrunde gelegten Zeitraum festgestellt hat, erfolgte am 1. April 1984. Mit Ausnahme von ICI und Shell (vgl. Randnr. 54, dritter Absatz, der Entscheidung und vorstehend, Randnr. 613) waren sämtliche Unternehmen im ersten Quartal 1984 im PVC-Sektor noch aktiv, darunter Elf Atochem, BASF, Wacker und Hoechst, die in der Atochem-Tabelle aufgeführt werden.
[1140] 1136. Nach alledem sind die Klagegründe bezüglich der Dauer der Zuwiderhandlung zurückzuweisen.
[1141] 1137. Die Solvay-Tabellen können jedoch gegenüber SAV nicht als beweiskräftig angesehen werden (vgl. vorstehend, Randnr. 888).
[1142] 1138. Somit ist das letzte Schriftstück, das die Klägerin als Teilnehmer an der beanstandeten Zuwiderhandlung nennt, das Alcudia-Dokument (vgl. vorstehend, Randnr. 887). Die dort ebenso wie in anderen Schriftstücken beschriebene Ausgleichsregelung betrifft konkret nur das erste Halbjahr 1981 (vgl. vorstehend, Randnrn. 587 bis 601).
[1143] 1139. Die vorstehend in Randnummer 889 angeführten Preisunterlagen können als solche nicht als ausreichend angesehen werden, um die Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung über das erste Halbjahr 1981 hinaus zu belegen. Zwar können diese Schriftstücke ein zusätzliches Indiz sein und zusammen mit anderen Schriftstücken die Schlußfolgerung bestätigen, daß ein Unternehmen an der Zuwiderhandlung teilgenommen hat, doch sind sie für den Zeitraum, für den sie nicht durch zusätzliche Beweismittel bestätigt werden, nicht ausreichend, um die Beteiligung eines Unternehmens an der Zuwiderhandlung nachzuweisen.
[1144] 1140. Somit ist festzustellen, daß der Beweis nicht erbracht ist, daß SAV an der Zuwiderhandlung nach dem ersten Halbjahr 1981 beteiligt war, da die Solvay-Tabellen im Falle dieses Unternehmens nicht beweiskräftig sind.
[1145] 1141. Folglich ist die Beteiligung der Klägerin an der Zuwiderhandlung im Hinblick auf die Bemessung der Geldbuße nur für die Zeit von August 1980 bis Juni 1981 und nicht bis April 1983, wie es in der Entscheidung heißt, nachgewiesen.
[1146] 1142. Artikel 1 der Entscheidung ist daher für nichtig zu erklären, soweit SAV dort unter Hinweis auf die Gründe der Entscheidung vorgeworfen wird, an der streitigen Zuwiderhandlung nach dem ersten Halbjahr 1981 beteiligt gewesen zu sein.
[1147] 1143. Die Geldbuße ist folglich unter Berücksichtigung der auf diese Weise festgestellten Dauer und Schwere der Zuwiderhandlung, an der dieses Unternehmen beteiligt war, herabzusetzen. Ausgedrückt in Euro gemäß Artikel 2 Absatz 1 der Verordnung (EG) Nr. 1103/97 des Rates vom 17. Juni 1997 über bestimmte Vorschriften im Zusammenhang mit der Einführung des Euro (ABl. L 162, S. 1) ist die gegen SAV festgesetzte Geldbuße auf 135 000 Euro herabzusetzen.
Zum berücksichtigten Umsatz
Vorbringen der Parteien
[1148] 1144. Enichem macht geltend, Umsatz im Sinne des Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 sei der Umsatz in dem der Entscheidung vorangegangenen Steuerjahr, d. h. im Jahr 1993. Obwohl das Verhältnis zwischen Geldbuße und diesem Umsatz zwangsläufig ein anderes sei als das zwischen der Geldbuße und dem Umsatz im Jahr 1987, habe die Kommission eine Geldbuße in absolut gleicher Höhe festgesetzt. Dabei sei der Umstand, daß die festgesetzte Geldbuße unterhalb der in Artikel 15 festgelegten Höchstgrenze von 10 % bleibe, ohne Bedeutung.
[1149] 1145. Da Enichem 1986 alle ihre PVC-Tätigkeiten eingestellt habe, so daß sie weder 1987 noch 1993 Umsätze in diesem Bereich erzielt habe, sei es ungerecht, den Gesamtumsatz von Enichem zugrunde zu legen, auch wenn dies möglich sei (Urteil Parker Pen/Kommission, Randnr. 94). Dies gelte um so mehr, als der Umsatz von Enichem, die der falsche Adressat der Entscheidung sei, und nicht der Umsatz der Produktionsgesellschaft Enichem Anic zugrunde gelegt worden sei.
Würdigung durch das Gericht
[1150] 1146. Der in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 (zitiert vorstehend, Randnr. 1109) genannte Umsatz dient der Bestimmung des Höchstbetrags der Geldbuße, die gegen ein Unternehmen wegen Verstoßes gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag festgesetzt werden kann.
[1151] 1147. Somit führt die Tatsache allein, daß das Verhältnis zwischen der mit der Entscheidung 1988 festgesetzten Geldbuße und dem in dem Geschäftsjahr zuvor, also 1987, erzielten Umsatz ein anderes gewesen ist als das Verhältnis zwischen der mit der zweiten Entscheidung in gleicher Höhe in Ecu festgesetzten Geldbuße und dem in dem Geschäftsjahr zuvor, also 1993, erzielten Umsatz, nicht zu einem Verstoß gegen Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17. Dies wäre nur der Fall, wenn die 1994 festgesetzte Geldbuße aufgrund dieser Veränderung die in dieser Bestimmung festgelegte Höchstgrenze überschritten hätte. Es ist aber unstreitig, daß die festgesetzte Geldbuße erheblich unter diesem Höchstsatz liegt.
[1152] 1148. Die Kommission hat für die Bemessung der gegen die Klägerin tatsächlich festgesetzten Geldbuße insbesondere der jeweiligen Bedeutung jedes an der Zuwiderhandlung beteiligten Unternehmens auf dem PVC-Markt (Randnr. 53, erster Absatz, der Entscheidung) Rechnung getragen. Diese Bedeutung ist anhand des durchschnittlichen Marktanteils und nicht des Umsatzes der einzelnen Klägerinnen allein im Zeitraum der Zuwiderhandlung beurteilt worden.
[1153] 1149. Somit sind die Klagegründe zurückzuweisen.
Zur fehlenden Berücksichtigung einer Reihe mildernder Umstände
Vorbringen der Klägerinnen
[1154] 1150. Zur Begründung ihres Antrags auf Herabsetzung der gegen sie festgesetzten Geldbuße berufen sich die Klägerinnen auf folgende Umstände, die die Kommission außer Betracht gelassen habe.
[1155] 1151. BASF und ICI heben die Verzögerung beim Erlaß der Entscheidung und die von der Kommission zu vertretende Untätigkeit hervor, die erst 1987 die 1983 eingeleiteten Ermittlungen fortgeführt habe. Wäre die Kommission eher tätig geworden, wären die Zuwiderhandlungen zweifellos vor dem Mai 1984 eingestellt worden (Urteile Istituto Chemioterapico und Commercial Solvents/Kommission, Randnr. 51, und Dunlop Slazenger/Kommission, Randnr. 167).
[1156] 1152. Wacker, Hoechst und SAV verweisen auf die Krise, in der sich der PVC-Sektor befunden habe, und die erheblichen Verluste in dem von der Entscheidung erfaßten Zeitraum.
[1157] 1153. Wacker und Hoechst führen ihr seit 1988 untadeliges Verhalten, die Präventivwirkung, die bereits mit der ursprünglichen Entscheidung verbunden gewesen sei, und ihren Rückzug vom Markt im Jahr 1993 an.
[1158] 1154. Hoechst und SAV weisen darauf hin, daß sie zur Zeit der beanstandeten Handlungen eine geringe Bedeutung für den Markt gehabt hätten und Auswirkungen ihres Verhaltens auf dem Markt nicht spürbar gewesen seien.
[1159] 1155. SAV beruft sich darauf, daß sie ein Neuling auf dem PVC-Markt gewesen sei und vorher keine Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft begangen habe.
[1160] 1156. ICI hebt hervor, daß sich Auswirkungen auf den Markt nicht gezeigt hätten (namentlich Urteil Suiker Unie u. a./Kommission, Randnrn. 612 ff.), daß sie durch die Beantwortung der Fragen der Kommission gemäß Artikel 11 der Verordnung Nr. 17 ihren Willen zur Zusammenarbeit gezeigt habe und daß sie sich entsprechend verhalten habe, um die zukünftige Beachtung des Wettbewerbsrechts der Gemeinschaft sicherzustellen (vgl. namentlich Entscheidung 88/86/EWG der Kommission vom 18. Dezember 1987 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag (V/31. 017 – Fisher-Price/Quaker Oats Ltd – Toyco) (ABl. 1988, L 49, S. 19).
Würdigung durch das Gericht
[1161] 1157. Die Schwere der Zuwiderhandlung ist anhand einer Vielzahl von Gesichtspunkten zu ermitteln, zu denen u. a. die besonderen Umstände der Rechtssache, ihr Kontext und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören, ohne daß es eine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien gäbe, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müßten (Beschluß des Gerichtshofes vom 25. März 1996 in der Rechtssache C-137/95 P, SPO u. a./Kommission, Slg. 1996, I-1611, Randnr. 54).
[1162] 1158. Erstens hat der Gerichtshof festgestellt, daß zwar die Schwere des Verstoßes eine erhebliche Geldbuße rechtfertigt, daß aber berücksichtigt werden muß, daß die Dauer der Zuwiderhandlung hätte kürzer sein können, wenn die Kommission schneller eingeschritten wäre (Urteil Istituto Chemioterapico und Commercial Solvents/Kommission, Randnr. 51). Im vorliegenden Fall hat die Kommission erste Bedenken wegen eines Verstoßes im Oktober 1983 gehabt. Für die Zeit nach Mai 1984 ist keine Geldbuße verhängt worden. Somit ist zu prüfen, ob die Kommission wegen der angeblich schleppenden Behandlung der Sache in dieser Zeit möglicherweise indirekt dazu beigetragen hat, daß die Zuwiderhandlung länger gedauert hat. Die Kommission hat schon im November 1983 Nachprüfungen durchgeführt und im Dezember 1983 ein Auskunftsverlangen sowie im April 1984 eine Entscheidung über die Anforderung von Auskünften an ICI gerichtet. Unter diesen Umständen kann der Kommission keine schleppende Behandlung der Sache vorgeworfen werden, die dazu hätte beitragen können, daß die für die Bemessung der Geldbußen berücksichtigte Zuwiderhandlung länger gedauert hat. Dies gilt erst recht im Fall von ICI, in dem sogar für die Zeit nach Oktober 1983 keine Geldbuße festgesetzt wurde.
[1163] 1159. Zweitens hat die Kommission in Randnummer 52, zweiter Absatz, der Entscheidung als mildernden Umstand angesehen, daß die Unternehmen in dem von dieser Entscheidung erfaßten Zeitraum wegen der damaligen Krise der Branche erhebliche Verluste im PVC-Sektor hinnehmen mußten. Dies genügt, um das Vorbringen der Klägerinnen zurückzuweisen, das auf die Krise des PVC-Marktes und die erheblichen Verluste der Hersteller in dieser Zeit gestützt wird (vgl. Urteil DSM/Kommission, Randnr. 304).
[1164] 1160. Drittens machen die Klägerinnen, wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnrn. 744 bis 749), zu Unrecht geltend, daß die Zuwiderhandlung keine Auswirkungen entfaltet habe, selbst wenn die Preisinitiativen nur teilweise zum Erfolg geführt haben, wie die Kommission in der Entscheidung selbst eingeräumt hat. Die Klägerinnen können daher nicht behaupten, daß das Fehlen von Auswirkungen ein mildernder Umstand sei.
[1165] 1161. Viertens ist die Mitwirkung von ICI im Verwaltungsverfahren nicht über das hinausgegangen, wozu dieses Unternehmen nach Artikel 11 Absätze 4 und 5 der Verordnung Nr. 17 verpflichtet war. Daher kann ihre Mitwirkung kein mildernder Umstand sein (Urteil des Gerichts vom 10. März 1992 in der Rechtssache T-12/89, Solvay/Kommission, Slg. 1992, II-907, Randnr. 341). Im übrigen hat ICI mit ihren Argumenten in der Sache im wesentlichen nachzuweisen versucht, daß die Kommission ihre Antworten auf die Auskunftsverlangen falsch verstanden habe.
[1166] 1162. Fünftens ist zwar die Tatsache, daß ICI Maßnahmen getroffen hat, um neue Verstöße ihrer Angestellten gegen das Wettbewerbsrecht der Gemeinschaft zu verhindern, bedeutsam, doch ändert dies nichts daran, daß im vorliegenden Fall die festgestellte Zuwiderhandlung tatsächlich begangen worden ist. Allein der Umstand, daß die Kommission in einigen Fällen in ihrer früheren Entscheidungspraxis die Aufstellung eines Informationsprogramms als mildernden Umstand angesehen hat, verpflichtet sie nicht dazu, im vorliegenden Fall ebenso zu verfahren. Dies gilt vor allem deshalb, weil die betreffende Zuwiderhandlung ein offenkundiger Verstoß gegen Artikel 85 Absatz 1 Buchstaben a und c EG-Vertrag war. Wie die Kommission in Randnummer 51, zweiter Absatz, der Entscheidung festgestellt hat, gehörte ICI im übrigen zu den Unternehmen, gegen die bereits wegen Absprachen im Chemiebereich Geldbußen festgesetzt worden waren (Entscheidung 69/243/EWG der Kommission vom 24. Juli 1969 über ein Verfahren nach Artikel 85 des EWG-Vertrags [IV/26. 267 – Farbstoffe] [ABl. L 195, S. 11]).
[1167] 1163. Sechstens wirkt sich weder das seit Erlaß der Entscheidung 1988 nicht zu beanstandende Verhalten eines Unternehmens noch das Fehlen früherer Zuwiderhandlungen mildernd gegenüber der Begehung und der Schwere der Zuwiderhandlung aus. Tatsächlich handelt es sich dabei nicht um besondere Umstände, die die Kommission als mildernd berücksichtigen müßte (namentlich Urteil DSM/Kommission, Randnr. 317).
[1168] 1164. Siebtens ändert die Tatsache, daß ein Unternehmen sich vor Erlaß der Entscheidung vom PVC-Markt zurückgezogen hat, nichts an der Begehung, der Schwere oder der Dauer der ihr vorgeworfenen Zuwiderhandlung. Sie rechtfertigt daher keine Herabsetzung der Geldbuße.
[1169] 1165. Achtens kann der Umstand, daß ein Unternehmen ein Neuling auf einem Markt ist, sich nicht mildernd auf die Schwere der vorstehend beschriebenen Zuwiderhandlung, an der es beteiligt war, auswirken (Urteil vom 10. März 1992, Solvay/Kommission, Randnr. 339).
[1170] 1166. Neuntens hat der Erlaß der Entscheidung 1988 als solcher keine abschreckende Wirkung. Abschreckend und vorbeugend wirkt allein die Geldbuße. Die Entscheidung 1988 ist aber für nichtig erklärt worden, und dies erfaßt auch die dort festgesetzten Geldbußen.
[1171] 1167. Schließlich ergibt sich aus Randnummer 53, erster Absatz, der Entscheidung, daß die Kommission bei der Bemessung der gegen die einzelnen Unternehmen festzusetzenden Geldbußen deren jeweiliger Bedeutung auf dem PVC-Markt Rechnung getragen hat. Daher können sich die Klägerinnen nicht auf ihre geringe Bedeutung für den Markt berufen, um eine Herabsetzung der Geldbuße zu erreichen.
[1172] 1168. Nach alledem werfen die Klägerinnen der Kommission zu Unrecht vor, die behaupteten mildernden Umstände nicht berücksichtigt zu haben.
III – Zu den Klagegründen, mit denen ein Verstoß gegen die Begründungspflicht gerügt wird
Vorbringen der Parteien
[1173] 1169. LVM, Elf Atochem, DSM, Wacker, Hoechst, Hüls und Enichem sind der Meinung, daß die Entscheidung keine besonderen Gesichtspunkte enthalte, die die Höhe der gegen sie festgesetzten Geldbuße verständlich mache (Urteile ACF Chemiefarma/Kommission, Randnr. 176, und Suiker Unie u. a./Kommission, Randnrn. 622 und 623).
[1174] 1170. Die Kommission habe zudem weder mitgeteilt, welche objektiven Parameter sie für die Beurteilung der Verantwortlichkeit der Unternehmen herangezogen habe, noch, welche Bedeutung sie ihnen beigemessen habe. Weder die allgemeine Aufzählung der verwendeten Kriterien noch das Vorliegen unterschiedlicher Geldbußen für die einzelnen Unternehmen genügten, um diese Lücke zu füllen.
[1175] 1171. Nach Ansicht der Klägerinnen ist die Mitteilung dieser Angaben nicht nur wünschenswert (Urteil Enichem Anic/Kommission, Randnr. 274, und Tréfilunion/Kommission, Randnr. 142), sondern geboten. Andernfalls werde gegen Artikel 6 MRK verstoßen, der jedem Angeklagten das Recht garantiere, die Begründung der gegen ihn festgesetzten Sanktion einschließlich der für deren Bemessung herangezogenen Kriterien und der "Berechnungsschlüssel" genau und detailliert zu erfahren.
Würdigung durch das Gericht
[1176] 1172. Nach ständiger Rechtsprechung muß die nach Artikel 190 EG-Vertrag vorgeschriebene Begründung, die eine wesentliche Formvorschrift im Sinne des Artikels 173 EG-Vertrag darstellt, der Natur des betreffenden Rechtsakts angepaßt sein und die Überlegungen des Gemeinschaftsorgans, das den Rechtsakt erlassen hat, so klar und eindeutig zum Ausdruck bringen, daß die Betroffenen ihr die Gründe für die erlassene Maßnahme entnehmen können und das zuständige Gericht seine Kontrollaufgabe wahrnehmen kann. Das Begründungserfordernis ist nach den Umständen des Einzelfalls, insbesondere nach dem Inhalt des Rechtsakts, der Art der angeführten Gründe und nach dem Interesse zu beurteilen, das die Adressaten oder andere durch den Rechtsakt unmittelbar und individuell betroffene Personen an Erläuterungen haben können. In der Begründung brauchen nicht alle tatsächlich oder rechtlich einschlägigen Gesichtspunkte genannt zu werden, da die Frage, ob die Begründung eines Rechtsakts den Erfordernissen des Artikels 190 EG-Vertrag genügt, nicht nur anhand ihres Wortlauts zu beurteilen ist, sondern auch anhand ihres Kontexts sowie sämtlicher Rechtsvorschriften auf dem betreffenden Gebiet (namentlich Urteil des Gerichtshofes vom 2. April 1998 in der Rechtssache C-367/95 P, Kommission/Sytraval und Brink's France, Slg. 1998, I-1719, Randnr. 63).
[1177] 1173. Im Fall einer Entscheidung, mit der gegen mehrere Unternehmen wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft Geldbußen verhängt werden, ist der Umfang der Begründungspflicht unter Berücksichtigung des Erfordernisses zu beurteilen, die Schwere der Zuwiderhandlungen anhand einer Vielzahl von Gesichtspunkten zu ermitteln, zu denen u. a. die besonderen Umstände der Rechtssache, ihr Kontext und die Abschreckungswirkung der Geldbußen gehören, ohne daß es eine zwingende oder abschließende Liste von Kriterien gäbe, die auf jeden Fall berücksichtigt werden müßten (Beschluß SPO u. a./Kommission, Randnr. 54). Zudem verfügt die Kommission bei der Bemessung der einzelnen Geldbuße über einen Ermessensspielraum und kann nicht als verpflichtet angesehen werden, dabei eine genaue mathematische Formel anzuwenden (Urteil des Gerichts vom 6. April 1995 in der Rechtssache T-150/89, Martinelli/Kommission, Slg. 1995, II-1165, Randnr. 59).
[1178] 1174. Im vorliegenden Fall hat die Kommission in den Randnummern 51 bis 54 der Entscheidung erläutert, welchen Gesichtspunkten sie bei der Bemessung der Geldbuße Rechnung getragen hat. Insbesondere aus den Randnummern 52 und 53 der Entscheidung ergibt sich, daß die Kommission bei der von ihr im vorliegenden Fall angewandten Methode in zwei Schritten vorgeht, wie die einleitende Formulierung dieser Randnummern und die Aufzählung der dort aufgeführten, zunächst allgemeinen und dann individuellen Kriterien zeigen.
[1179] 1175. In einem ersten Schritt hat die Kommission einen Gesamtbetrag festgesetzt, wozu sie berechtigt ist (namentlich Urteile vom 15. Juli 1970, Boehringer/Kommission, Randnr. 55, und IAZ u. a./Kommission, Randnrn. 51 bis 53). Für die Bemessung der festzusetzenden Geldbußen hat die Kommission, wie sich aus Randnummer 52 der Entscheidung ergibt, verschiedene Kriterien berücksichtigt, nämlich die Art und die Schwere der beanstandeten Zuwiderhandlung, die Bedeutung des betreffenden Industrieerzeugnisses, den Wert des damit erzielten Umsatzes – nahezu 3 Milliarden ECU jährlich in Westeuropa – und die Gesamtgröße der betroffenen Unternehmen.
[1180] 1176. Als mildernde Umstände hat sie ebenfalls berücksichtigt, daß die Unternehmen in dem von der Entscheidung erfaßten Zeitraum erhebliche Verluste hinnehmen mußten und daß gegen die Mehrheit der Unternehmen wegen ihrer Beteiligung an einer Zuwiderhandlung im Sektor Thermoplastik (Polypropylen) im praktisch gleichen Zeitraum bereits erhebliche Geldbußen verhängt worden waren.
[1181] 1177. Der auf diese Weise ermittelte Gesamtbetrag der Geldbußen belief sich in der Entscheidung 1988, d. h. unter Einbeziehung von Solvay und Norsk Hydro, auf 23 500 000 ECU.
[1182] 1178. In einem zweiten Schritt hat die Kommission diesen Gesamtbetrag auf die Unternehmen aufgeteilt, gegen die eine Geldbuße verhängt worden ist. Bei der Bemessung der gegen die einzelnen Unternehmen festzusetzenden Geldbußen hat die Kommission, wie sich aus den Randnummern 53 und 54 der Entscheidung ergibt, den Grad der Beteiligung jedes Unternehmens, dessen Rolle dabei (soweit sich dies feststellen ließ) und seine jeweilige Bedeutung auf dem PVC-Markt berücksichtigt. Sie hat sich dabei bemüht, festzustellen, inwieweit bestimmte Unternehmen als Hauptverantwortliche angesehen werden können, was ihr nicht gelungen ist, oder umgekehrt, ob andere, wie z. B. Shell, nur am Rande an der Zuwiderhandlung beteiligt waren; sie hat ebenfalls bei jedem Unternehmen die Dauer seiner Beteiligung an der beanstandeten Zuwiderhandlung berücksichtigt, wie sich aus Randnummer 54 der Entscheidung ergibt.
[1183] 1179. Sieht man die Randnummern 51 bis 54 der Entscheidung im Zusammenhang mit der eingehenden Darstellung der tatsächlichen Feststellungen, die in der Entscheidung im Falle eines jeden Adressaten der Entscheidung getroffen worden sind, so geben diese Randnummern ausreichend und schlüssig die Beurteilungskriterien wieder, die für die Bestimmung der Schwere und Dauer der von den betreffenden einzelnen Unternehmen begangenen Zuwiderhandlung herangezogen worden sind.
[1184] 1180. Sicherlich ist es wünschenswert, daß die Unternehmen – um ihren Standpunkt in voller Kenntnis der Sache festlegen zu können – nach jedem von der Kommission als angemessen betrachteten System die Berechnungsweise der gegen sie in einer Entscheidung wegen Verstoßes gegen die Wettbewerbsregeln der Gemeinschaft verhängten Geldbuße in Erfahrung bringen können, ohne zu diesem Zweck gerichtlich gegen die Entscheidung der Kommission vorgehen zu müssen (Urteil Tréfilunion/Kommission, Randnr. 142).
[1185] 1181. Solche rechnerischen Daten sind jedoch keine zusätzliche Begründung nach Erlaß der Entscheidung, sondern die Umsetzung der in der Entscheidung aufgeführten Kriterien, soweit diese quantifizierbar sind, in Zahlen.
[1186] 1182. Dabei ist es Sache des Gerichts, wenn es dies für die Prüfung der Klagegründe für erforderlich hält, nach den Artikeln 64 und 65 der Verfahrensordnung von der Kommission im einzelnen eine Erläuterung der verschiedenen Kriterien zu verlangen, die sie in der Entscheidung zugrunde gelegt und dargestellt hat.
[1187] 1183. Tatsächlich hatte das Gericht im Zusammenhang mit den Klagen gegen die Entscheidung 1988 der Kommission aufgegeben, in der Sitzung die Berechnung der verhängten Geldbußen im einzelnen darzulegen. Die Kommission hatte zu diesem Zweck eine Tabelle vorgelegt, die den Klageschriften im vorliegenden Verfahren beigefügt worden sind.
[1188] 1184. Somit sind die Klagegründe, mit denen die unzureichende Begründung der Entscheidung bezüglich der für die Bemessung der Geldbuße herangezogenen Kriterien gerügt wird, zurückzuweisen.
IV – Zu den Rechtsfehlern und den offenkundigen Beurteilungsfehlern
Vorbringen der Klägerinnen
[1189] 1185. Erstens machen LVM und DSM geltend, unter den in der Entscheidung für die Bemessung der Geldbuße aufgezählten Kriterien seien die der Bedeutung des betreffenden Erzeugnisses und der Marktstellung aller Unternehmen zusammen (Entscheidung, Randnr. 52) schwer zu verstehen und erst recht schwer zu messen. Das Kriterium der wirtschaftlichen Bedeutung des Zuwiderhandelnden sei unzulässig. Dies würde nämlich dazu führen, daß die Höhe der Geldbuße nach den Ressourcen des einzelnen Unternehmens und nicht nach der Schwere seines Verhaltens festgesetzt würde.
[1190] 1186. Zweitens verweisen die Klägerinnen darauf, daß die Kommission in der mündlichen Verhandlung vor dem Gericht im Rahmen der gegen die Entscheidung 1988 erhobenen Klagen eine Tabelle vorgelegt habe, um zu erläutern, wie sie die Geldbußen berechnet habe. Diese Tabelle zeige, daß die Kommission den durchschnittlichen Marktanteil des einzelnen Unternehmens im PVC-Sektor in der Zeit von 1980 bis 1984 zugrunde gelegt habe. Die für einige Klägerinnen angenommenen Marktanteile seien offenkundig falsch. Die Geldbußen müßten entsprechend herabgesetzt werden.
[1191] 1187. Elf Atochem führt aus, daß die Kommission bei der Bemessung der gegen sie festgesetzten Geldbuße bei ihr für die Zeit von 1980 bis 1984 einen durchschnittlichen Marktanteil von 13 % angesetzt habe, d. h. einen höheren als den tatsächlichen Anteil.
[1192] 1188. ICI macht geltend, ihr durchschnittlicher Marktanteil in der Zeit von 1980 bis 1984 habe 8, 1 % oder sogar 7, 4 % betragen, wenn nur die Zeit von 1980 bis 1983 berücksichtigt werde, für die allein Vorwürfe gegen sie erhoben worden seien. Die von der Kommission vorgelegte Tabelle setzte für das Unternehmen dagegen einen durchschnittlichen Marktanteil von 11 % an.
[1193] 1189. Schließlich trägt Enichem vor, die Kommission habe bei ihr für die Zeit von 1980 bis 1984 einen durchschnittlichen Marktanteil von 15 % angesetzt, der erheblich über dem tatsächlichen Durchschnittsanteil und sogar noch über dem Marktanteil von 1984 (12, 3 %) liege.
Würdigung durch das Gericht
[1194] 1190. Entgegen den Ausführungen von LVM und DSM ist festzustellen, daß die Kommission sowohl den Umsatz und den Wert der Waren, auf die sich die Zuwiderhandlung bezieht, als auch die Größe und die wirtschaftliche Macht der betroffenen Unternehmen berücksichtigen kann (Urteile vom 15. Juli 1970, Boehringer/Kommission, Randnr. 55, und IAZ u. a./Kommission, Randnr. 52).
[1195] 1191. Die Kommission hatte auf eine Frage des Gerichts bei der Prüfung der Klagen gegen die ursprüngliche Entscheidung in der mündlichen Verhandlung eine Tabelle mit den Zahlen für die Bemessung der Geldbußen vorgelegt. Aus dieser Tabelle, die von den Klägerinnen im vorliegenden Verfahren vorgelegt worden ist, ergibt sich, daß für die Aufteilung der Gesamtgeldbuße zwischen den Unternehmen das in der Entscheidung (Randnr. 53) genannte Kriterium der Bedeutung des einzelnen Unternehmens auf dem PVC-Markt zahlenmäßig entsprechend dessen durchschnittlichem Marktanteil von 1980 bis 1984 auf dem westeuropäischen PVC-Markt im Sinne von Fides ausgedrückt wurde. Tatsächlich war dieser Marktanteil das entscheidende Kriterium, da gegen ein Unternehmen mit einem bestimmten Marktanteil ein gleich hoher Teil an der Gesamtgeldbuße festgesetzt wurde. An diesem "Leitkurs" nahm die Kommission – nach oben oder unten – Änderungen vor, die in der Entscheidung z. B. entsprechend der Dauer der Beteiligung oder der Feststellung der geringeren Rolle einer Klägerin festgelegt wurden. So wurde gegen ein Unternehmen, das während der gesamten Dauer der Zuwiderhandlung Vollmitglied des Kartells war, ein Anteil an der Gesamtgeldbuße festgesetzt, der etwa 110 % seines durchschnittlichen Marktanteils betrug.
[1196] 1192. Die Argumente der Klägerinnen sind unter diesen Gesichtspunkten zu prüfen.
[1197] 1193. Atochem hat auf eine Frage des Gerichts seinen durchschnittlichen Marktanteil in der Zeit von 1980 bis 1984 mit 10, 5 % angegeben.
[1198] 1194. ICI hat Zahlen vorgelegt, nach denen ihr durchschnittlicher Marktanteil für den Zeitraum 1980 bis 1983, für den allein ihre Beteiligung in der Entscheidung festgestellt worden ist, 7 % betrug.
[1199] 1195. Die Kommission hat diese Zahlen nicht ernsthaft bestritten. Sie hat daher, indem sie bei Elf Atochem von einem Marktanteil von 13 % und bei ICI von einem Anteil von 11 % ausgegangen ist, die Marktanteile dieser beiden Unternehmen zu hoch angesetzt und diesen Klägerinnen folglich einen zu hohen Anteil an der Geldbuße auferlegt.
[1200] 1196. Daher ist der Anteil der Geldbuße, der gegen Elf Atochem und ICI festgesetzt worden ist, herabzusetzen.
[1201] 1197. Die gegen Elf Atochem verhängte Geldbuße ist auf einen Teil der Gesamtgeldbuße herabzusetzen, der ihrem durchschnittlichen Marktanteil entspricht, erhöht um einen Zuschlag, weil die Klägerin während der von der Kommission festgestellten Gesamtdauer des Kartells an der Zuwiderhandlung beteiligt war und keine besonderen mildernden Umstände vorliegen. Die Geldbuße ist folglich auf 11 % der Gesamtgeldbuße, d. h. abgerundet auf 2 600 000 Euro, herabzusetzen.
[1202] 1198. Die gegen ICI verhängte Geldbuße ist auf einen Teil der Gesamtgeldbuße herabzusetzen, der ihrem durchschnittlichen Marktanteil entspricht, vermindert um einen Abschlag, weil die Klägerin sich von Oktober 1983 an nicht mehr an der Zuwiderhandlung beteiligt hat. Die Geldbuße ist daher auf 6, 6 % der Gesamtgeldbuße, d. h. abgerundet auf 1 550 000 Euro, festzusetzen.
[1203] 1199. Enichem macht geltend, daß ihr Marktanteil 1980 und 1981 2, 7 %, 1982 5, 5 %, 1983 12, 8 % und 1984 12, 3 % betragen habe, so daß sich ihr durchschnittlicher Marktanteil für den gesamten Zeitraum auf etwas mehr als 7 % belaufe.
[1204] 1200. Erstens sind aber, wie bereits festgestellt (vorstehend, Randnr. 615), die von der Klägerin vorgelegten Zahlen nicht hinreichend zuverlässig.
[1205] 1201. Zweitens hat die Kommission im Falle der Klägerin entgegen deren Behauptungen keinen durchschnittlichen Marktanteil von 15 % für die Zeit von 1980 bis 1984 angesetzt. In der von der Kommission vorgelegten Tabelle wird ausdrücklich darauf hingewiesen, daß sich dieser Marktanteil auf 1984 bezieht. Zudem heißt es in einer Fußnote, daß dieser Anteil durch den Erwerb des PVC-Geschäfts von Montedison im März 1983 erzielt worden sei, durch den sich der Marktanteil der Klägerin unstreitig erheblich erhöht hat. Hätte die Kommission für den gesamten Zeitraum einen durchschnittlichen Marktanteil von 15 % angenommen, hätte die gegen die Klägerin verhängte Geldbuße höher sein müssen als die gegen Elf Atochem und Solvay verhängten Geldbußen, die sich sowohl bezüglich der Dauer der Zuwiderhandlung als auch ihrer Beteiligung daran in einer vergleichbaren Situation wie die Klägerin befanden, aber einen Marktanteil, wie ihn die Kommission zugrunde gelegt hatte, von unter 15 % besaßen; die gegen Enichem verhängte Geldbuße ist jedoch erheblich niedriger als die dieser beiden Unternehmen.
[1206] 1202. Drittens steht der in der Anlage "Individuelle Besonderheiten" zur Mitteilung der Beschwerdepunkte angegebene Marktanteil von 12 % nicht im Widerspruch zu dem Anteil, der in der von der Kommission vorgelegten Tabelle genannt wird. Der erstgenannte Marktanteil betrifft nämlich das Jahr 1983 insgesamt, während der zweite nur den Marktanteil nach dem Erwerb des PVC-Geschäfts von Montedison betrifft.
[1207] 1203. Schließlich ist gegen die Klägerin eine Geldbuße verhängt worden, die 10, 6 % der Gesamtgeldbuße ausmacht. Unter Berücksichtigung der von der Kommission zugrunde gelegten Art und Weise der Berechnung ergibt sich somit, daß im Falle der Klägerin ein durchschnittlicher Marktanteil in Westeuropa von weniger als 10 % angesetzt worden ist.
[1208] 1204. Da die Klägerin einen solchen Marktanteil nicht ernsthaft bestritten hat, besteht kein Grund, die gegen sie verhängte Geldbuße herabzusetzen.
[1209] 1205. Unter diesen Umständen sind die von den Klägerinnen geltend gemachten Klagegründe unbeschadet dessen, was vorstehend im Fall von Elf Atochem und ICI (vgl. vorstehend, Randnrn. 1193 bis 1198) entschieden worden ist, zurückzuweisen.
[1210] 1206. Das Gericht ist sich der Tatsache bewußt, daß, da die Kommission zuvor einen Gesamtbetrag festgelegt hatte, den sie dann auf die Unternehmen aufgeteilt hat, die Herabsetzung der gegen einige Unternehmen verhängten Geldbuße zu einer entsprechenden Erhöhung der gegen die anderen Unternehmen verhängten Geldbußen führen müßte, um zu demselben Gesamtbetrag zu gelangen. Unter den Umständen des vorliegenden Falles hält das Gericht in Ausübung der ihm nach Artikel 172 EG-Vertrag eingeräumten Befugnis zu unbeschränkter Ermessensnachprüfung eine solche Erhöhung jedoch für nicht angebracht.
V – Zum Verstoß gegen allgemeine Rechtsgrundsätze
[1211] 1207. Die Klägerinnen rügen einen Verstoß gegen verschiedene allgemeine Grundsätze, nämlich den der individuellen Strafzumessung, den der Verhältnismäßigkeit und schließlich den der Gleichbehandlung.
Zum Klagegrund eines Verstoßes gegen den Grundsatz der individuellen Strafzumessung
[1212] 1208. Nach Ansicht von Elf Atochem, Wacker, Hoechst, SAV, Hüls und Enichem hat die Kommission mit der Feststellung, daß jeder Hersteller nicht nur für die ihm zuzurechnenden individuellen Entscheidungen, sondern auch für die Durchführung des Kartells insgesamt verantwortlich sei, einen Grundsatz der kollektiven Verantwortlichkeit aufgestellt. Damit habe sie gegen den Grundsatz der individuellen und auf die Person des Handelnden bezogenen Strafe verstoßen.
[1213] 1209. Wie bereits entschieden (vorstehend, Randnrn. 768 bis 778) ist jede Klägerin nur für die Handlungen zur Verantwortung gezogen worden, die ihr individuell zur Last gelegt worden sind.
[1214] 1210. Somit ist der Klagegrund zurückzuweisen.
Zu den Klagegründen wegen Verstoßes gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz
Vorbringen der Klägerinnen
[1215] 1211. Shell weist erstens auf die Randnummern 48 und 53 der Entscheidung hin, in denen ausdrücklich festgestellt werde, daß Shell nur am Rande an den Vereinbarungen beteiligt gewesen sei, und macht zweitens geltend, daß ihre angebliche Beteiligung nur von Januar 1982 bis Oktober 1983, also 21 Monate, gedauert habe. Unter diesen Umständen sei die gegen sie verhängte Geldbuße unverhältnismäßig.
[1216] 1212. Montedison macht geltend, die Geldbuße sei angesichts der kurzen Dauer der Zuwiderhandlung unverhältnismäßig.
[1217] 1213. Enichem verweist darauf, daß die in der zweiten Entscheidung in gleicher Höhe wie in der ersten gegen sie festgesetzte Geldbuße in Ecu ausgedrückt worden sei. Angesichts der starken Abwertung der italienischen Lira zwischen dem Erlaß der ersten und dem der zweiten Entscheidung sei die von der Klägerin in italienischen Lire geschuldete Geldbuße in Wirklichkeit erheblich höher als die 1988 gegen sie festgesetzte. Wenn man davon ausgehe, daß Dauer und Schwere der Zuwiderhandlung sich gegenüber der Entscheidung 1988 offenkundig nicht geändert hätten und die seinerzeit festgesetzte Geldbuße als angemessen gelte, folge daraus, daß die heute von Enichem zu tragende Geldbuße, ausgedrückt in der Landeswährung, unverhältnismäßig sei.
[1218] 1214. Außerdem habe für die Klägerin kein Grund bestanden, Vorsorge gegenüber einem Wechselkursrisiko zu treffen, da das Urteil des Gerichts und später auch das des Gerichtshofes sie von jeder Verpflichtung zur Zahlung einer Geldbuße freigesprochen hätten. In ihrem Fall sei die einzige Referenzwährung die Währung des Landes, in dem das Unternehmen seinen Sitz habe (Urteil des Gerichtshofes vom 9. März 1977 in den Rechtssachen 41/73, 43/73 und 44/73, Société anonyme Générale sucrière u. a./Kommission, Slg. 1977, 445, Randnrn. 12 und 13, und Tatbestand, S. 455). Durch eine vorherige Umrechnung der ursprünglichen Geldbuße in italienische Lire wäre es z. B. leicht möglich gewesen, die nachteiligen Auswirkungen der Abwertung dieser Währung zu vermeiden.
Würdigung durch das Gericht
[1219] 1215. Nach Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 ist bei der Festsetzung der Höhe der Geldbuße die Dauer und die Schwere der Zuwiderhandlung zu berücksichtigen. Somit ist die Verhältnismäßigkeit der Geldbuße anhand sämtlicher Umstände der Zuwiderhandlung zu beurteilen.
[1220] 1216. Im vorliegenden Fall hat Montedison nicht dargetan, inwiefern die gegen sie verhängte Geldbuße im Hinblick auf die Schwere und die Dauer der Zuwiderhandlung unverhältnismäßig ist.
[1221] 1217. Die Argumentation von Shell beruht auf Erwägungen, denen die Kommission bei der Bemessung der Geldbuße Rechnung getragen hat und die zur Verhängung einer Geldbuße geführt haben, die verhältnismäßig niedriger ist als die gegen die anderen Unternehmen festgesetzte (Entscheidung, Randnr. 53 a. E.). Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die Höhe der auf diese Weise festgesetzten Geldbuße unverhältnismäßig ist.
[1222] 1218. Zu den Ausführungen von Enichem ist festzustellen, daß die gegen die Unternehmen verhängten Geldbußen nach Artikel 3 der Entscheidung auf Ecu lauten. Nach Artikel 4 der Entscheidung sind die verhängten Geldbußen in Ecu zahlbar.
[1223] 1219. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß die in Ecu festgesetzte Geldbuße im Hinblick auf Schwere und Dauer der Zuwiderhandlung unangemessen ist.
[1224] 1220. Zudem ist die Kommission berechtigt, die Höhe der Geldbuße in Ecu auszudrücken, einer in Landeswährung konvertiblen Währungseinheit. Die Konvertibilität des Ecu in Landeswährung unterscheidet diese Währungseinheit von der ursprünglich in Artikel 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 genannten Rechnungseinheit, zu der der Gerichtshof ausdrücklich festgestellt hat, daß sie keine Währung ist, in der Zahlungen vorgenommen werden können, und die daher zwangsläufig die Bestimmung der Höhe der Geldbuße in Landeswährung erforderlich macht (Urteil Société anonyme Générale sucrière u. a./Kommission, Randnr. 15).
[1225] 1221. Im übrigen steht fest, daß die gegen die Klägerin in Artikel 3 der Entscheidung in Ecu festgesetzte Geldbuße mit der in Artikel 3 der Entscheidung 1988 festgesetzten übereinstimmt. Ziel der Kommission war nämlich gerade der Erlaß einer Entscheidung, die in der Sache mit derjenigen von 1988 übereinstimmte, die wegen eines Verstoßes gegen wesentliche Formvorschriften für nichtig erklärt worden war.
[1226] 1222. Da die Geldbußen bei Erlaß der Entscheidung 1988 in Ecu ausgedrückt waren und es keine gemeinsame einheitliche Währung, in der die Kommission die Geldbußen hätte ausdrücken können, oder feste Wechselkurse zwischen den Devisen der Mitgliedstaaten gab, war schon deshalb das Risiko einer Änderung der Wechselkurse unvermeidlich. Enichem hätte sich gegen solche Risiken schützen können, solange die Rechtssache beim Gericht und anschließend im Rechtsmittelverfahren beim Gerichtshof anhängig war. Schließlich hatte die Kommission bereits am Tag der Verkündung des Urteils vom 15. Juni 1994 in einem Pressekommuniqué ihre Absicht bekanntgegeben, die Entscheidung neu zu erlassen, was einen Monat später geschah.
[1227] 1223. Schließlich ist nicht bestritten worden, daß die verhängte Geldbuße, selbst wenn sie in Landeswährung ausgedrückt wird, erheblich unter der Höchstgrenze des Artikels 15 Absatz 2 der Verordnung Nr. 17 bleibt.
[1228] 1224. Nach alledem sind die Klagegründe zurückzuweisen.
Zu den Klagegründen wegen Verstoßes gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz
Vorbringen der Klägerinnen
[1229] 1225. Die Klägerinnen machen vier Arten von Verstößen gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz geltend.
[1230] 1226. Erstens machen LVM, Shell, DSM, ICI und Enichem geltend, daß jede von ihnen im Verhältnis zu einigen anderen Klägerinnen ungleich behandelt worden sei.
[1231] 1227. Zweitens trägt Enichem vor, die gegen sie verhängte Geldbuße sei höher als die, die mit anderen Entscheidungen verhängt worden sei, die Sektoren betroffen hätten, die sich in einer weniger schweren Krise als der PVC-Sektor befunden hätten (Entscheidung 84/405/EWG der Kommission vom 6. August 1984 betreffend ein Verfahren nach Artikel 85 EWG-Vertrag [IV/30. 350 – Zinc Producer Group] [ABl. L 220, S. 27]).
[1232] 1228. Drittens rügt Enichem, daß sie wegen der Entwicklung des Wechselkurses zwischen Ecu und italienischer Lira zwischen dem Erlaß der Entscheidung 1988 und dem der zweiten Entscheidung diskriminiert worden sei. In Ecu ausgedrückt seien die Geldbußen zwar mit denen von 1988 identisch, nicht aber wegen der seither erfolgten Wechselkursschwankungen in Landeswährung. Die Klägerin, deren in Landeswährung umgerechnete Geldbuße sich erheblich erhöht habe, sei somit gegenüber den anderen Adressaten der Entscheidung diskriminiert worden. Tatsächlich werde sie dafür bestraft, daß sie mit Erfolg den Rechtsweg beschritten habe, der ihr gegen die ursprüngliche Entscheidung offengestanden habe.
[1233] 1229. Viertens rügen LVM, DSM, ICI und Enichem, daß sie gegenüber Solvay und Norsk Hydro diskriminiert worden seien, die rechtlich jeder finanziellen Sanktion entgangen seien. Zum einen seien nämlich gegen Solvay und Norsk Hydro in der zweiten Entscheidung keine Geldbußen festgesetzt worden. Zum anderen würden diese Unternehmen nicht von der in der Entscheidung 1988 verhängten Sanktion erfaßt, da diese Entscheidung gemäß dem mit Wirkung erga omnes ergangenen Urteil des Gerichtshofes vom 15. Juni 1994 gegenüber allen Unternehmen für nichtig erklärt worden sei. Selbst wenn die Entscheidung 1988 nicht gegenüber Solvay und Norsk Hydro für nichtig erklärt worden wäre, könnte die Kommission deren Vollstreckung nicht durchsetzen: zum einen, weil nach Artikel 192 EG-Vertrag die nationale Behörde die Echtheit der Entscheidung 1988 prüfen müsse, was nicht möglich sei, da diese Entscheidung mangels Feststellung für nichtig erklärt worden sei; zum anderen, weil die Verjährungsfrist für die Vollstreckung der Sanktionen jetzt abgelaufen sei (Artikel 4 der Verordnung Nr. 2988/74).
Würdigung durch das Gericht
[1234] 1230. Erstens ist, wie bereits ausgeführt, die Bestimmung der Höhe der individuellen Geldbußen das Ergebnis einer Gewichtung verschiedener Gesichtspunkte, insbesondere der Bedeutung des Unternehmens auf dem Markt, der Dauer seiner Beteiligung oder auch, insbesondere im Fall von Shell, der von ihm gespielten Rolle.
[1235] 1231. Die Klägerinnen haben nicht den Beweis erbracht, daß die Kommission gleiche Sachverhalte unterschiedlich oder unterschiedliche Sachverhalte gleich behandelt hätte. In Wirklichkeit beruhen alle Fälle, die die Klägerinnen für ihre Diskriminierung anführen, auf dem Vergleich ihrer eigenen Lage mit der einer oder mehrerer anderer Klägerinnen, deren Bedeutung auf dem Markt oder deren Beteiligung an der Zuwiderhandlung hinsichtlich der Dauer oder ihrer Rolle unterschiedlich waren.
[1236] 1232. Zweitens hängt die Bemessung der Geldbußen von einer Vielzahl von Kriterien ab, die in jedem Einzelfall nach sämtlichen konkreten Umständen zu würdigen sind. Zudem ist die Kommission dadurch, daß sie in der Vergangenheit für bestimmte Arten von Zuwiderhandlungen Geldbußen in einer bestimmten Höhe verhängt hat, nicht daran gehindert, dieses Niveau innerhalb der in der Verordnung Nr. 17 gezogenen Grenzen anzuheben, wenn dies erforderlich ist, um die Durchführung der gemeinschaftlichen Wettbewerbspolitik sicherzustellen (namentlich Urteil Musique Diffusion française u. a./Kommission, Randnr. 109). Somit ist nicht der Beweis erbracht, daß die Kommission im vorliegenden Fall im Verhältnis zu ihrer früheren Praxis gegen den Grundsatz der Gleichbehandlung verstoßen hat.
[1237] 1233. Drittens ist, was die angebliche Diskriminierung aufgrund der Abwertung oder Wertminderung einiger nationaler Devisen gegenüber anderen betrifft, festzustellen, daß die gegen die einzelnen Klägerinnen verhängten Geldbußen in Ecu ausgedrückt sind. Durch die Festlegung in dieser Währung steht außer Frage, daß die gegen die einzelnen Klägerinnen in Artikel 3 der Entscheidung verhängten Geldbußen mit denen in der Entscheidung 1988 übereinstimmen.
[1238] 1234. Die Wechselkursrisiken sind untrennbar mit dem Bestehen unterschiedlicher nationaler Währungen verbunden, deren Parität sich jederzeit ändern kann. Enichem behauptet im übrigen nicht, daß die Festsetzung der Geldbußen in Landeswährung die Wirkungen solcher Schwankungen neutralisieren könnte, wenn wie im vorliegenden Fall Unternehmen betroffen sind, die ihren Sitz in verschiedenen Mitgliedstaaten haben und gegen die die Geldbußen in der Landeswährung dieser jeweiligen Staaten festgesetzt würden.
[1239] 1235. Wie bereits festgestellt, kann die Kommission die Geldbußen in Ecu festsetzen, wodurch die Unternehmen im übrigen die Höhe der gegen sie festgesetzten Geldbußen leichter vergleichen können. Zudem war Ziel der Kommission gerade der Erlaß einer Entscheidung, die in der Sache mit der von 1988 übereinstimmte und durch die nur der Formfehler berichtigt werden sollte, der zu deren Nichtigerklärung durch den Gerichtshof geführt hatte. Da die Geldbußen bereits in der Entscheidung 1988 in Ecu ausgedrückt und Wechselkursrisiken unvermeidlich waren, hätte die Klägerin, wie bereits festgestellt (Randnr. 1222), Vorsorge gegen solche Risiken treffen können.
[1240] 1236. Viertens beruht die angebliche Diskriminierung der Klägerinnen gegenüber Solvay und Norsk Hydro auf der Annahme, daß die Nichtigerklärung der Entscheidung 1988 durch den Gerichtshof erga omnes wirke. Dazu genügt der Hinweis, daß dies, wie bereits festgestellt (vgl. vorstehend, Randnrn. 167 bis 174), nicht der Fall ist.
[1241] 1237. Wenn ein Unternehmen durch sein Verhalten gegen Artikel 85 Absatz 1 EG-Vertrag verstoßen hat, kann es jedenfalls nicht deshalb jeder Sanktion entgehen, weil gegen einen anderen Wirtschaftsteilnehmer, mit dessen Situation das Gericht nicht befaßt ist, keine Geldbuße verhängt worden ist (namentlich Urteil Ahlström Osakeyhtiö u. a./Kommission, Randnr. 197).
[1242] 1238. Somit sind sämtliche Klagegründe wegen Verstoßes gegen allgemeine Rechtsgrundsätze zurückzuweisen.
[1243] 1239. Nach alledem sind sämtliche Klagegründe, die die Klägerinnen zur Stützung ihres Antrags auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbuße vorgetragen haben, mit folgenden Einschränkungen zurückzuweisen.
[1244] 1240. Gemäß den Randnummern 1143, 1197 und 1198 sind die gegen Elf Atochem, SAV und ICI verhängten Geldbußen auf 2 600 000 Euro, 135 000 Euro bzw. 1 550 000 Euro herabzusetzen.
Zu den übrigen Anträgen
[1245] 1241. Neben den vorstehend untersuchten Anträgen sowie den Kostenanträgen haben die Klägerinnen einige andere Anträge gestellt (vgl. vorstehend, Randnrn. 27 bis 30).
[1246] 1242. Von diesen sind einige wegen ihres engen Zusammenhangs mit den Klagegründen, die zur Stützung der Anträge auf Nichtigerklärung der Entscheidung oder auf Nichtigerklärung oder Herabsetzung der Geldbuße vorgetragen worden sind, bereits geprüft und zurückgewiesen worden (vgl. vorstehend, Randnrn. 268, 365 bis 371, 375 bis 377 und 1091).
[1247] 1243. Die Anträge auf Beiziehung der Unterlagen, die im Rahmen der gegen die Entscheidung 1988 erhobenen Klagen vorgelegt worden sind, sind aus den bereits dargelegten Gründen (Randnr. 39) zurückzuweisen.
[1248] 1244. Somit sind der Antrag auf Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung (I) und der Antrag von Montedison auf Schadensersatz (II) zu prüfen.
I – Zum Antrag auf Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung
Vorbringen der Klägerinnen
[1249] 1245. Hoechst macht in ihrer Erwiderung, ohne dies förmlich in ihren Antrag einzubeziehen, geltend, daß Artikel 2 des verfügenden Teils der Entscheidung, der die Verpflichtung zur Abstellung der Zuwiderhandlung ausspreche, ihr gegenüber rechtswidrig sei. Diese Bestimmung trage nämlich nicht der Tatsache Rechnung, daß die Klägerin zum Zeitpunkt des Erlasses der Entscheidung nicht mehr im PVC-Sektor tätig gewesen sei.
[1250] 1246. DSM verweist darauf, daß die Kommission nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 die Unternehmen verpflichten könne, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen. Im vorliegenden Fall werde den PVC-Herstellern in Artikel 2 der Entscheidung u. a. aufgegeben, jeden Austausch vertraulicher Informationen untereinander abzustellen. Weder Artikel 1 der Entscheidung noch deren Begründung erlaube den Schluß, daß eine solche Zuwiderhandlung festgestellt worden sei. Die Kommission habe somit die ihr in diesem Artikel der Verordnung Nr. 17 eingeräumten Befugnisse überschritten.
Würdigung durch das Gericht
[1251] 1247. Zu dem Klagegrund von Hoechst genügt, ohne daß die Frage seiner Zulässigkeit nach Artikel 48 § 2 der Verfahrensordnung geprüft zu werden braucht, der
[1252] Hinweis, daß Artikel 2 der Entscheidung ausdrücklich an die Unternehmen gerichtet ist, "die nach wie vor auf dem PVC-Sektor … tätig sind". Somit ist das Vorbringen zur Stützung dieses Antrags offenkundig nicht haltbar.
[1253] 1248. Nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 kann die Kommission, wenn sie u. a. eine Zuwiderhandlung gegen Artikel 85 EG-Vertrag feststellt, die beteiligten Unternehmen durch Entscheidung verpflichten, die festgestellte Zuwiderhandlung abzustellen. Wie sich aus Randnummer 50 der Entscheidung ergibt, stützt sich deren Artikel 2 auf diese Bestimmung. Nach der inhaltlichen Wiedergabe dieser Bestimmung führt die Kommission aus: "[Es] ist nicht bekannt, ob die Sitzungen oder zumindest ein gewisser Informationsaustausch zwischen den Unternehmen über Preise und Mengen tatsächlich je aufgehört haben. Es ist daher angebracht, in jeder Entscheidung die Unternehmen, die noch auf dem PVC-Sektor tätig sind, formell aufzufordern, den Verstoß abzustellen und sich in Zukunft [aller] Absprachen mit ähnlichen Zielen oder Wirkungen zu enthalten."
[1254] 1249. Nach ständiger Rechtsprechung kann die Anwendung des Artikels 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 das Verbot beinhalten, bestimmte Tätigkeiten, Praktiken oder Zustände, deren Rechtswidrigkeit festgestellt worden ist, fortzuführen (Urteile des Gerichtshofes, Istituto Chemioterapico und Commercial Solvents/Kommission, Randnr. 45, und vom 6. April 1995 in den Rechtssachen C-241/91 P und C-242/91 P, RTE und ITP/Kommission, Slg. 1995, I-743, Randnr. 90), sie kann aber auch das Verbot eines künftigen gleichartigen Verhaltens umfassen (Urteil des Gerichts vom 6. Oktober 1994 in der Rechtssache T-83/91, Tetra Pak/Kommission, Slg. 1994, II-755, Randnr. 220).
[1255] 1250. Da sich die Anwendung des Artikels 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 nach der festgestellten Zuwiderhandlung richten muß, ist die Kommission befugt, den Umfang der Verpflichtungen festzulegen, die den Unternehmen zur Abstellung dieser Zuwiderhandlung auferlegt werden. Solche den Unternehmen auferlegte Verpflichtungen dürfen jedoch nicht die Grenzen dessen überschreiten, was zur Erreichung des angestrebten Zieles, d. h. der Wiederherstellung der Legalität im Hinblick auf die verletzten Vorschriften, angemessen und erforderlich ist (Urteil RTE und ITP/Kommission, Randnr. 93).
[1256] 1251. Im vorliegenden Fall hat die Kommission in Artikel 2 der Entscheidung die auf dem PVC-Sektor noch tätigen Unternehmen verpflichtet, die in der Entscheidung festgestellten Zuwiderhandlungen unverzüglich abzustellen.
[1257] 1252. Sodann hat sie den Unternehmen aufgegeben, in Zukunft in dem betreffenden Sektor von allen Vereinbarungen oder aufeinander abgestimmten Verhaltensweisen, die dasselbe oder ähnliches bezwecken oder bewirken können, Abstand zu nehmen.
[1258] 1253. Derartige Anordnungen gehören offenkundig zu den Befugnissen, über die die Kommission nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 verfügt.
[1259] 1254. Zu diesen Vereinbarungen oder abgestimmten Verhaltensweisen, die dasselbe wie die in der Entscheidung beanstandeten Verhaltensweisen bezwecken oder bewirken, hat die Kommission jeden "Austausch von Informationen, die normalerweise dem Geschäftsgeheimnis unterliegen und durch die Teilnehmer direkt oder indirekt über Produktion, Absatz, Lagerhaltung, Verkaufspreise, Kosten oder Investitionspläne anderer Hersteller informiert" werden, gerechnet. Da die Kommission berechtigt ist, für die Zukunft jede Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise mit einem gleichen oder ähnlichen Zweck wie dem der in der Entscheidung festgestellten Verhaltensweise zu untersagen, hat sie den Austausch der betreffenden Informationen zu Recht mit einbezogen. Zum einen enthält die Entscheidung nämlich insbesondere einen Vorwurf, der gerade auf den Austausch von Absatzdaten gestützt wird. Zum anderen beruhten die Herstellersitzungen auf dem Austausch von Informationen über Preise und Verkaufsmengen, da dort gemeinsam die in diesen Bereichen zu verfolgende Politik festgelegt werden sollte. Ebenso ist die Kommission berechtigt, den in der Entscheidung genannten Informationsaustausch über Absatz- und Verkaufspreise, allerdings auch den Austausch von Informationen anderer Art zu verbieten, die "indirekt" zu einem "gleichen oder ähnlichen" Ergebnis führen können. Insbesondere läßt sich aus dem Austausch individualisierter Daten über Produktion und Lagerbestände leicht der Absatz des einzelnen Unternehmens ableiten. Würde man der Kommission nicht die Befugnis zum Verbot eines solchen Austauschs einräumen, könnten die Unternehmen die ihnen auferlegte Verpflichtung, Verhaltensweisen wie die in der Entscheidung festgestellte nicht fortzuführen oder zu wiederholen, leicht umgehen.
[1260] 1255. Das Verbot des Austauschs von Informationen, die normalerweise dem Geschäftsgeheimnis unterliegen und "aufgrund deren [die Unternehmen] in die Lage versetzt werden, die Befolgung ausdrücklicher oder stillschweigender Preis- oder Marktaufteilungsabsprachen … zu kontrollieren", steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den in der Entscheidung festgestellten Verhaltensweisen; dort wird den Unternehmen vorgeworfen, gemeinsam Regelungen zur Kontrolle des Absatzes und der Preisinitiativen durchgeführt zu haben.
[1261] 1256. In Artikel 2 Satz 3 der Entscheidung heißt es eingangs: "Ein Verfahren zum Austausch von den PVC-Sektor betreffenden allgemeinen Informationen, dem sich die Hersteller anschließen, muß unter Ausschluß sämtlicher Informationen geführt werden, aus denen sich das Marktverhalten einzelner Hersteller ableiten läßt …" Die Entscheidung stellt die Systeme, denen sich die Hersteller zum Austausch allgemeiner Daten anschließen, nicht in Frage, da sich aus ihnen nicht das Verhalten bestimmter Hersteller ableiten läßt; diese Systeme beschränken sich vielmehr auf die Mitteilung zusammengefaßter Daten (vgl. Randnr. 12, dritter Absatz, der Entscheidung). Artikel 2 Satz 3 soll somit lediglich verhindern, daß die Hersteller das Verbot, Verhaltensweisen wie die in der Entscheidung festgestellten fortzuführen oder zu wiederholen, umgehen können, indem sie an die Stelle des Systems regelmäßiger Sitzungen ein System des Austauschs individualisierter Daten setzen, das zu demselben Ergebnis führen würde. Dieser Satz präzisiert somit nur den davor angeführten Begriff der Vereinbarung oder abgestimmten Verhaltensweise, die ähnliches bezweckt oder bewirkt.
[1262] 1257. Der zweite Teilsatz des Artikels 2 Satz 3 der Entscheidung enthält gegenüber dem ersten Teilsatz keine neue Aussage. Er soll lediglich klarstellen, daß das Verbot des Austauschs individualisierter Daten, aus denen sich das Verhalten des einzelnen Herstellers ableiten läßt, im Rahmen eines Systems, dem sich die Hersteller angeschlossen haben, nicht dadurch umgangen werden darf, daß die Hersteller die Daten unmittelbar untereinander austauschen.
[1263] 1258. Schließlich läßt sich Artikel 2 Satz 3 der Entscheidung klar entnehmen, daß im Unterschied zu dem Fall, mit dem das Gericht aufgrund der Klagen gegen die Entscheidung 94/601/EG der Kommission vom 13. Juli 1994 in einem Verfahren nach Artikel 85 EG-Vertrag (IV/C/33. 833 – Karton) (ABl. L 243, S. 1) befaßt war, die Kommission kein Verbot mit in die Entscheidung aufgenommen hat, das unter bestimmten Voraussetzungen auch den Austausch von Daten in zusammengefaßter Form erfaßt.
[1264] 1259. Nach alledem überschreiten die den Unternehmen in Artikel 2 der Entscheidung auferlegten Verpflichtungen offensichtlich nicht die Grenzen dessen, was zur Wiederherstellung der Legalität im Hinblick auf die verletzten Vorschriften angemessen und erforderlich ist. Somit hat die Kommission mit Erlaß des Artikels 2 der Entscheidung nicht die Befugnisse überschritten, die ihr nach Artikel 3 Absatz 1 der Verordnung Nr. 17 eingeräumt sind.
[1265] 1260. Infolgedessen ist der Antrag auf Nichtigerklärung des Artikels 2 der Entscheidung zurückzuweisen.
II – Zum Antrag auf Schadensersatz
[1266] 1261. Montedison beantragt, die Kommission zum Ersatz des Schadens zu verurteilen, der der Klägerin wegen der Kosten für die Stellung einer Bankbürgschaft sowie wegen aller anderen Kosten im Zusammenhang mit der Entscheidung entstanden ist.
[1267] 1262. Der Klageschrift läßt sich nicht entnehmen, auf welche Rechtsgrundlage die Klägerin diesen Antrag stützen will.
[1268] 1263. Damit entspricht die Klageschrift insoweit nicht den Mindestanforderungen an die Zulässigkeit einer Klage nach Artikel 19 der Satzung des Gerichtshofes und Artikel 44 § 1 Buchstabe c der Verfahrensordnung. Dieser Antrag ist daher als unzulässig zurückzuweisen (Urteil Parker Pen/Kommission, Randnrn. 99 und 100).
[1269] 1264. Selbst wenn der der Kommission vorgeworfene Fehler im Zusammenhang mit den verschiedenen Rügen stände, die die Klägerin zur Stützung ihres vom Gericht zurückgewiesenen Nichtigkeitsantrags vorgetragen hat, wäre der Schadensersatzantrag auf jeden Fall für unbegründet zu erklären.
Ergebnis
[1270] 1265. Aus der gesamten vom Gericht vorgenommenen Prüfung ergibt sich, daß Artikel 1 der Entscheidung insoweit für nichtig zu erklären ist, als dort festgestellt wird, daß SAV nach dem ersten Halbjahr 1981 an der beanstandeten Zuwiderhandlung beteiligt war. Die gegen Elf Atochem, SAV und ICI verhängten Geldbußen sind auf 2 600 000 Euro, 135 000 Euro bzw. 1 550 000 Euro herabzusetzen. Im übrigen sind die Klagen abzuweisen.
Kosten
[1271] 1266. Nach Artikel 87 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Besteht der unterliegende Teil aus mehreren Personen, so entscheidet das Gericht über die Verteilung der Kosten.
[1272] 1267. Da LVM, BASF, Shell, DSM, Wacker, Hoechst, Montedison, Hüls und Enichem mit ihrem Vorbringen unterlegen sind, sind ihnen die Kosten der Kommission entsprechend deren Antrag aufzuerlegen.
[1273] 1268. Da Elf Atochem und ICI mit ihrem Vorbringen teilweise unterlegen sind, tragen die Klägerinnen und die Kommission jeweils ihre eigenen Kosten.
[1274] 1269. Da SAV mit ihrem Vorbringen zu einem Teil unterlegen ist, zu einem erheblichen Teil aber obsiegt hat, sind ihr zwei Drittel ihrer eigenen Kosten aufzuerlegen, und die Kommission ist außer zur Tragung ihrer eigenen Kosten zur Tragung eines Drittels der Kosten der Klägerin zu verurteilen.
1: Verfahrenssprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Niederländisch.