Finanzausgleichsgesetz ist als Übergangsrecht bis Ende 2004 nach bestimmten Maßgaben weiter anwendbar

BVerfG, Mitteilung vom 11. 11. 1999 – 117/99 (lexetius.com/1999,2313)

[1] Der Zweite Senat des BVerfG hat aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 22. und 23. September 1999 im Verfahren "Länderfinanzausgleich" einstimmig folgendes entschieden:
[2] 1. Das Finanzausgleichsgesetz von 1993 (FAG) ist bis Ende 2004 als Übergangsrecht anwendbar, wenn der Gesetzgeber spätestens bis zum 31. Dezember 2002 allgemeine Maßstäbe festlegt, welche die unbestimmten Begriffe im Steuerverteilungs- und Ausgleichssystem des GG konkretisieren und ergänzen (Maßstäbegesetz).
[3] Dies gilt insbesondere – bei der Verteilung des Umsatzsteueraufkommens für die verfassungsrechtlich gebotene mehrjährige Finanzplanung sowie die Bestimmung "laufender" und "notwendiger" Ausgaben (Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG), – beim horizontalen Finanzausgleich für die Bestimmung der "Finanzkraft" der Länder und Gemeinden, die Berücksichtigung von Sonderlasten und die Voraussetzungen für die Feststellung von Ausgleichspflichten oder Ausgleichsansprüchen der jeweiligen Länder, – für die Bundesergänzungszuweisungen, die auch bei Berücksichtigung von im Maßstäbegesetz besonders zu benennenden und zu begründenden Sonderlasten im Regelfall nicht dazu führen dürfen, daß die Finanzkraft des begünstigten Landes die durchschnittliche Finanzkraft aller Länder nach dem horizontalen Finanzausgleich übersteigt.
[4] Eine abschließende Würdigung des FAG durch das BVerfG kommt derzeit nicht in Betracht. Die verfassungsgerechte Ausformung der Maßstäbe ist dem Gesetzgeber zugewiesen. Dies gebieten die Offenheit der Verteilungsregeln im GG sowie die erheblichen Unsicherheiten bei der notwendigen Einschätzung gegenwärtiger und zukünftiger wirtschaftlicher und politischer Entwicklungen.
[5] 2. Soweit das Maßstäbegesetz nicht bis zum 1. Januar 2003 in Kraft getreten ist, wird das FAG mit diesem Tag verfassungswidrig und nichtig.
[6] 3. Auf der Grundlage des Maßstäbegesetzes muß der Gesetzgeber das FAG bis zum 31. Dezember 2004 neu regeln. Anderenfalls wird das FAG am 1. Januar 2005 verfassungswidrig und nichtig.
[7] Hinsichtlich des Sachverhalts, des Vorbringens der Antragsteller und des Wortlauts der einschlägigen GG Artikel wird auf die Pressemitteilung Nr. 95/99 vom 13. September 1999 Bezug genommen.
[8] Im einzelnen: I. Verfassungsrechtlicher Maßstab. 1. Die Finanzverfassung des GG enthält keine unmittelbar vollziehbaren Maßstäbe, sondern verpflichtet den Gesetzgeber, das verfassungsrechtlich nur in unbestimmten Rechtsbegriffen festgelegte Steuerverteilungs und Ausgleichssystem durch anwendbare, allgemeine, ihn selbst bindende Maßstäbe in einem Maßstäbegesetz gesetzlich zu konkretisieren und zu ergänzen. Mit dieser auf langfristige Geltung angelegten, fortschreibungsfähigen Maßstabsbildung stellt der Gesetzgeber zunächst sicher, daß Bund und Länder die verfassungsrechtlich vorgegebenen Ausgangstatbestände in gleicher Weise interpretieren und ihnen gemeinsam dieselben Indikatoren zugrundelegen. Damit wird ein Vergleich der Deckungsbedürfnisse ermöglicht. Eine solche Gesetzgebung schafft abstrakte Kriterien für konkrete Finanzfolgen, in denen der Gesetzgeber sich selbst und der Öffentlichkeit Rechenschaft gibt, die rechtsstaatliche Transparenz der Mittelverteilung sichert und die haushaltswirtschaftliche Planbarkeit und Voraussehbarkeit der finanzwirtschaftlichen Autonomiegrundlagen für den Bund und jedes Land gewährleistet.
[9] In Anwendung dieses den Gesetzgeber selbst bindenden maßstabgebenden Gesetzes hat das FAG sodann auf periodische Überprüfung angelegte Zuteilungs und Ausgleichsfolgen zu entwickeln.
[10] 2. Die Finanzverfassung bindet das Maßstäbegesetz und das darauf aufbauende FAG auf den vier Stufen der Finanzverteilung insbesondere an folgende Grundsätze:
[11] a) Verteilung des Umsatzsteueraufkommens (Art. 106 Abs. 3 Satz 4 GG) Nach Art. 106 Abs. 3 Satz 4 GG haben Bund und Länder gleichmäßigen Anspruch auf Deckung ihrer notwendigen Ausgaben. Der Umfang dieser notwendigen Ausgaben stützt sich auf eine mehrjährige Finanzplanung, die sicherstellt, daß Bund und Länder bei der Ermittlung der notwendigen Ausgaben und der laufenden Einnahmen jeweils dieselben Indikatoren zugrundelegen, deren Entwicklung in finanzwirtschaftlicher Rationalität über Jahre hin beobachten, aufeinander abstimmen und fortschreiben, auf dieser Grundlage den Haushaltsgesetzgebern in Bund und Ländern dauerhafte Grundlagen für ihre Planungen geben und in dem kontinuierlich festgeschriebenen Kriterium der Notwendigkeit zugleich gewährleisten, daß nicht eine großzügige Ausgabenpolitik sich bei der Umsatzsteuerzuteilung refinanzieren könnte, eine sparsame Ausgabenpolitik hingegen verminderte Umsatzsteueranteile zur Folge hätte.
[12] b) Verteilung der Umsatzsteuer unter den Ländern (Art. 107 Abs. 1 GG) Grundsätzlich wird die Umsatzsteuer nach Maßgabe der Einwohnerzahl zugeteilt, die das örtliche Aufkommen aus dieser Endverbrauchersteuer ausdrückt und damit zugleich einen abstrakten Bedarfsmaßstab die gleichmäßige Pro Kopf Versorgung benennt. Davon abweichend kann der Länderanteil am Umsatzsteueraufkommen bis zu einem Viertel den unterdurchschnittlich mit Steuererträgen ausgestatteten Ländern zugewiesen werden. Nach Zuteilung dieser Ergänzungsanteile steht die eigene Finanzausstattung der einzelnen Länder fest.
[13] c) Horizontaler Finanzausgleich unter den Ländern (Art. 107 Abs. 2 GG) Der horizontale Finanzausgleich soll die Finanzkraftunterschiede unter den Ländern verringern, aber nicht beseitigen. Er hat die richtige Mitte zu finden zwischen der Selbständigkeit, Eigenverantwortlichkeit und Bewahrung der Individualität der Länder auf der einen und der solidargemeinschaftlichen Mitverantwortung für die Existenz und Eigenständigkeit der Bundesgenossen auf der anderen Seite. Art. 107 Abs. 2 GG fordert also nicht eine finanzielle Gleichstellung der Länder, sondern eine ihren Aufgaben entsprechende hinreichende Annäherung ihrer Finanzkraft. Somit darf im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs die Finanzkraftreihenfolge unter den Ländern nicht verkehrt werden. Die Abstände zwischen den 16 Ländern dürfen verringert, nicht aber aufgehoben oder ins Gegenteil verkehrt werden.
[14] Vergleichsgegenstand ist nach der Finanzverfassung die Finanzkraft der Länder. Als Bemessungsgrundlage bietet sich die jeweilige Einwohnerzahl der Länder an, in der die Finanzierungsaufgaben des demokratischen Rechtsstaates sachgerecht zum Ausdruck kommen. Die Einwohnerzahl bietet die Grundlage eines Finanzkraftvergleichs, die von ländereigenen Prioritäts oder Dringlichkeitsentscheidungen unabhängig ist und eine allen Ländern gleichermaßen vorgegebene Bezugsgröße für die ihnen zugewiesenen Aufgaben enthält.
[15] d) Bundesergänzungszuweisungen (Art. 107 Abs. 2 Satz 3 GG) Bundesergänzungszuweisungen dürfen nicht lediglich den horizontalen Finanzausgleich fortsetzen. Sie erlauben vielmehr eine finanzwirtschaftliche Bundesintervention, die Sonderlasten einzelner Länder berücksichtigt und darin grundsätzlich ihre Rechtfertigung, aber auch nach Höhe und Dauer ihre Grenze findet. Empfänger solcher Zuweisungen können nur Länder sein, die nach den Ergebnissen des horizontalen Länderfinanzausgleichs in einem Maße unter dem Länderdurchschnitt geblieben sind, das unangemessen erscheint, aber aus Landesmitteln nicht ausgeglichen werden kann. Eine derartige allgemeine Anhebung der Finanzkraft leistungsschwacher Länder kommt gegenwärtig insbesondere in Betracht, wenn die Finanzkraft der neuen Länder im wiedervereinigten Deutschland so weit vom Finanzkraftdurchschnitt entfernt ist, daß eine angemessene Annäherung aus den Finanzmitteln der alten Länder nicht erreicht werden kann, ohne daß deren Leistungsfähigkeit entscheidend geschwächt würde.
[16] In Ausnahmefällen kann eine solche Bundesintervention deshalb auch dazu führen, daß die Finanzkraft des begünstigten Landes die durchschnittliche Finanzkraft nach dem horizontalen Finanzausgleich übersteigt.
[17] Berücksichtigt der Gesetzgeber Sonderlasten, so verpflichtet ihn das föderative Gleichbehandlungsgebot, diese Sonderlasten zu nennen und zu begründen. Durch den tatbestandlichen Ausweis der Sonderlasten im Maßstäbegesetz (s. o. Ziff. I. 1.) wird sichergestellt, daß die ausgewiesenen und benannten Sonderlasten bei allen von ihnen betroffenen Ländern berücksichtigt werden, daß die berücksichtigten Sonderlasten in angemessenen Abständen auf ihren Fortbestand überprüft werden und daß die Kontrolle durch Gerichtsbarkeit und Öffentlichkeit einen deutlich greifbaren Anknüpfungspunkt gewinnt.
[18] II. Anwendung des verfassungsrechtlichen Maßstabs. Danach gilt: Der Gesetzgeber ist verpflichtet, die Maßstäbe der Finanzverteilung nach Art. 106 und Art. 107 GG hinsichtlich – der Umsatzsteuerverteilung sowie der daraus folgenden Verteilungsregeln (s. unten Ziffer 1.), – des horizontalen Finanzausgleichs (s. unten Ziffer 2.) und – der Bundesergänzungszuweisungen (s. unten Ziffer 3.) in einem Gesetz zu konkretisieren und zu ergänzen.
[19] 1. Umsatzsteuer. Entgegen dem verfassungsrechtlichen Auftrag aus Art. 106 Abs. 3 Satz 2 GG wird die Umsatzsteuer nicht aufgrund einer mehrjährigen Finanzplanung verteilt. Außerdem gibt es kein Gesetz, das "laufende" und "notwendige" Ausgaben tatbestandlich bestimmt. Die Beurteilung, ob durch ein bestimmtes Ergebnis der Umsatzsteuerverteilung ein "billiger Ausgleich" erzielt, eine Überbelastung der Steuerpflichtigen vermieden und die Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse im Bundesgebiet gewahrt wird, ist jedoch nur auf der Grundlage offen ausgewiesener, von Bund und Ländern einheitlich angewandter und den Anforderungen des Art. 106 Abs. 3 Satz 4 Nr. 1 GG genügender gesetzlicher Vorgaben für die Berechnung der Deckungsquoten möglich.
[20] 2. Horizontaler Finanzausgleich. Es ist Aufgabe des Gesetzgebers, die unterschiedliche "Finanzkraft" (Art. 107 Abs. 2 Satz 1 GG) näher auszuformen. Insoweit gibt das GG als abstraktes Kriterium die Einwohnerzahl vor. Sonderbedarfe einzelner Länder bleiben bei der Ermittlung der Finanzkraft unberücksichtigt.
[21] a) Soweit das FAG die Kosten für Seehäfen als Sonderbelastung berücksichtigt, bedarf dies einer Rechtfertigung. Eine solche läßt das FAG nicht erkennen. Sollte durch diese Regelung einem abstrakten Mehrbedarf Rechnung getragen werden können, der wegen der geographischen Lage nur Küstenländer belastet, so hat der Gesetzgeber zu prüfen, ob ähnliche Mehrbedarfe existieren, die dann ebenfalls berücksichtigt werden müßten.
[22] b) Auch hinsichtlich der Ermittlung der Finanzkraft der Gemeinden hat der Gesetzgeber allgemeine Maßstäbe festzulegen. Der bereits im Urteil des BVerfG vom 27. Mai 1992 enthaltene Prüfungsauftrag und die dort dargelegten Bedenken gegen die Nichtberücksichtigung des Aufkommens aus den Konzessionsabgaben veranschaulichen exemplarisch die Bedeutung allgemeiner Maßstäbe für die Bestimmung der Finanzkraft.
[23] c) Überprüfungsbedürftig ist auch die Einwohnergewichtung (§ 9 Abs. 3 FAG).
[24] Die Einbeziehung der neuen Länder in den Länderfinanzausgleich macht es erforderlich, die Finanzkraft der Stadtstaaten der Finanzkraft dünn besiedelter Flächenstaaten gegenüberzustellen und zu prüfen, ob eine Ballung der Bevölkerung in einem Land oder eine unterdurchschnittliche Bevölkerungszahl einen abstrakten Mehrbedarf pro Einwohner rechtfertigen kann.
[25] Bereits das Urteil des Senats vom 27. Mai 1992 hat den Gesetzgeber mit der umfassenden Prüfung beauftragt, die einen abstrakten Mehrbedarf größerer Gemeinden bei der Erledigung kommunaler Aufgaben stützen sollen. Soweit der Einwohnermaßstab auch in Zukunft modifiziert werden soll, wird dieser Prüfungsauftrag um so dringlicher, als der Bedarf der neuen Länder Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen durch die gegenwärtige Einwohnerwertung weniger Gewicht erhält, die Kosten vieler öffentlicher Leistungen in dünn besiedelten Gebieten deutlich höher liegen können als in den Städten, zudem die Gemeinkosten auf eine geringe Kopfzahl umgelegt werden müssen.
[26] Bei einer Neuregelung wird der Gesetzgeber wiederum entschieden auf eine Vereinfachung und verbesserte Verständlichkeit der Einzelregelungen hinzuwirken haben.
[27] d) Auch hinsichtlich der Frage, ob und in welcher Höhe die Länder ausgleichsberechtigt oder ausgleichspflichtig sind (§ 10 Abs. 1 bis 3 FAG), hat der Gesetzgeber die "Voraussetzungen" für Ansprüche und Verbindlichkeiten im Maßstäbegesetz einheitlich zu bestimmen und sie damit voraussehbar und überprüfbar zu machen.
[28] 3. Bundesergänzungszuweisungen. Die Bundesergänzungszuweisungen haben den Zweck, nach der Verteilung des Umsatzsteueraufkommens und dem horizontalen Finanzausgleich noch änderungsbedürftige Finanzausstattungen ergänzend zu korrigieren. Sie dürfen jedoch weder die vertikale Steuerertragserteilung noch den horizontalen Finanzausgleich ersetzen oder überlagern. Dieser Zweck begrenzt auch ihren Umfang im Verhältnis zum Volumen des horizontalen Finanzausgleichs.
[29] Daß im Jahr 1998 das Volumen des Finanzausgleichs etwa 13, 5 Milliarden DM und das der Bundesergänzungszuweisungen ca. 25, 7 Milliarden DM betrug, ist als wiedervereinigungsbedingte Ausgleichsregelung vorübergehend zu rechtfertigen. Angesichts der Ergänzungsfunktion von Bundeszuweisungen bedarf diese Entwicklung jedoch auf längere Sicht auch im Hinblick auf die neuen Länder der Korrektur.
[30] Im übrigen hat das Maßstäbegesetz folgendes sicherzustellen:
[31] – Aufgrund des Nivellierungsverbotes können nur solche Länder Empfänger von allgemeinen Bundesergänzungszuweisungen sein, die nach den Ergebnissen des horizontalen Finanzausgleichs unter dem Länderdurchschnitt geblieben sind.
[32] – Eine Ausnahme hiervon kann für Bundesergänzungszuweisungen gelten, die der Berücksichtigung von Sonderbedarfen dienen. Diese Sonderbedarfe müssen im Maßstäbegesetz genannt und ihr Ausnahmecharakter muß begründet werden.
[33] Dies gilt beispielsweise für den Ausgleich hoher Kosten der politischen Führung ("Kosten der Kleinheit"). Den jetzigen Regelungen des FAG hierzu läßt sich ein hinreichend einsichtiger Maßstab nicht entnehmen.
[34] Dagegen sind die in § 11 Abs. 6 FAG geregelten Sonderzuweisungen für die Länder Bremen und Saarland zum Zwecke der Haushaltssanierung verfassungsrechtlich unbedenklich. Diese Zuweisungen werden in den Jahren 1999 bis 2004 kontinuierlich abgeschmolzen. Sie laufen spätestens im Jahre 2004 aus. Die beiden begünstigten Länder sind damit auf den Wegfall dieser Zuweisungen vorbereitet, andere können auf das Auslaufen dieser Übergangs-Bundesergänzungszuweisungen bauen.
BVerfG, Urteil vom 11. 11. 1999 – 2 BvF 2/98