Zum Auskunftsanspruch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren

BVerfG, Mitteilung vom 28. 12. 1999 – 149/99 (lexetius.com/1999,2334)

[1] Der Erste Senat des BVerfG hat in einem Verfassungsbeschwerde (Vb)-Verfahren festgestellt, daß § 99 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) in gewissem Umfang mit dem GG unvereinbar ist.
[2] Die Vorschrift (Wortlaut s. Anlage) regelt, unter welchen Voraussetzungen dem Gericht behördliche Akten, die es für die Kontrolle der Rechtmäßigkeit einer behördlichen Entscheidung benötigt, vorzulegen sind. Soweit die Vorschrift die Vorlage von Akten an das Gericht auch in den Fällen ausschließt, in denen die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) von der Kenntnis der Verwaltungsvorgänge abhängt, ist sie mit dem GG unvereinbar.
[3] Der Gesetzgeber ist verpflichtet, bis zum 31. Dezember 2001 einen verfassungsmäßigen Zustand herzustellen.
[4] I. Hinsichtlich des Beschwerdeführers (Bf), der seinerzeit im Bereich des Öffentlichen Auftragswesen beschäftigt war, wurde mit seinem Einverständnis eine Sicherheitsüberprüfung vorgenommen. Das Bayerische Landesamt für Verfassungsschutz kam zu dem Ergebnis, daß Bedenken gegen eine Ermächtigung des Bf zum Umgang mit Verschlußsachen bestünden. Dem Bf wurde daraufhin mitgeteilt, seine Weiterbeschäftigung komme nicht in Betracht. Er kündigte jedoch das Dienstverhältnis selbst, um Nachteile bei späteren Bewerbungen möglichst gering zu halten.
[5] Sein Antrag, ihm über die Daten, auf die das negative Ergebnis der Sicherheitsüberprüfung gestützt wurde, Auskunft zu erteilen, blieb erfolglos. Zur Begründung teilte das Landesamt für Verfassungsschutz u. a. mit, über die Art der Äußerungen, die Umstände und die Personen, die sich über den Bf geäußert hätten, könnten unter Abwägung der öffentlichen Interessen an einem funktionsfähigen Geheimschutz mit dem Interesse des Bf keine weiteren Auskünfte erteilt werden. Den Auskunftspersonen sei Vertraulichkeit zugesagt worden.
[6] Im Rahmen der dagegen vom Bf erhobenen Klage forderte das Verwaltungsgericht den Beklagten zur vollständigen Aktenvorlage nach § 99 Abs. 1 Satz 1 VwGO auf. Das Bayerische Staatsministerium des Innern verweigerte daraufhin in seiner Funktion als oberste Aufsichtsbehörde gemäß § 99 Abs. 1 Satz 2 VwGO die Vorlage derjenigen Aktenbestandteile, die Grundlage der Sicherheitsüberprüfung waren. Auf den nach § 99 Abs. 2 Satz 1 VwGO gestellten Antrag des Bf entschied der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in letzter Instanz, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Verweigerung der Aktenvorlage gegeben seien. Es sei glaubhaft gemacht worden, daß die zurückbehaltenen Aktenteile geheimgehalten werden müßten.
[7] Hiergegen erhob der Bf Vb und rügte u. a. einen Verstoß gegen das Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG).
[8] II. Die Vb ist begründet.
[9] 1. Zur Effektivität des Rechtsschutzes gehört es, daß das Gericht das Rechtsschutzbegehren in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht prüfen kann und genügend Entscheidungsbefugnisse besitzt, um drohende Rechtsverletzungen abzuwenden oder erfolgte Rechtsverletzungen zu beheben. Das schließt grundsätzlich eine Bindung des Gerichts an die im Verwaltungsverfahren getroffenen Feststellungen und Wertungen aus. Das Gericht muß die tatsächlichen Grundlagen selbst ermitteln und seine rechtliche Auffassung unabhängig von der Verwaltung, deren Entscheidung angegriffen ist, gewinnen und begründen.
[10] Im konkreten Fall ist der Bf in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 GG beeinträchtigt. Denn die Verweigerung der Aktenvorlage hat zur Folge, daß das Gericht nicht zu beurteilen vermag, auf welchen tatsächlichen Grundlagen die behördliche Entscheidung beruht und ob diese geeignet sind, sie zu tragen. Die dem Gericht obliegende Rechtskontrolle im Interesse des Bf wird dadurch wesentlich erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht.
[11] 2. Die Beschränkung des effektiven Rechtsschutzes durch § 99 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 VwGO hält einer Überprüfung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht stand.
[12] a) Der Zweck der Regelung ist allerdings verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Die Geheimhaltung von Vorgängen, deren Bekanntwerden dem Wohl des Bundes oder eines deutschen Landes Nachteil bereiten würde, ist ein legitimes Anliegen des Gemeinwohls.
[13] b) Die Regelung ist jedoch zur Zweckerreichung nicht erforderlich. Denn es bestehen Möglichkeiten, den legitimen Geheimhaltungsbedürfnissen Rechnung zu tragen, ohne daß der Rechtsschutzanspruch aus Art. 19 Abs. 4 GG im selben Maß wie derzeit auf der Grundlage von § 99 VwGO verkürzt wird.
[14] Die Belange der Geheimhaltung bestimmter Vorgänge und die Rechtsschutzansprüche des Betroffenen können insbesondere dadurch besser in Einklang gebracht werden, daß die Akten dem Gericht vorgelegt werden, das unter Verpflichtung zur Geheimhaltung nachprüft, ob die gesetzlichen Voraussetzungen der Auskunftsverweigerung im konkreten Fall erfüllt sind. Den Geheimhaltungsbedürfnissen wäre dadurch Rechnung getragen, daß die Kenntnisnahme auf das Gericht beschränkt bliebe ("in camera" Verfahren). Der Rechtsschutzsuchende selber erführe nicht, welche Gründe im einzelnen die Auskunftsverweigerung tragen.
[15] Das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) stünde einer solchen Ausgestaltung nicht entgegen. Das rechtliche Gehör kann eingeschränkt werden, wenn dies durch sachliche Gründe hinreichend gerechtfertigt ist. Ein solcher sachlicher Grund besteht darin, daß im verwaltungsgerichtlichen Verfahren gerade ein Absehen von einem "in camera" -Verfahren zu einer Minderung des Individualrechtsschutzes führte, die erheblich schwerer wiegt als eine Einschränkung des rechtlichen Gehörs. Nicht nur dem Rechtsschutzsuchenden, sondern auch dem Gericht fehlt jede Möglichkeit der Kenntnisnahme. Wird der von Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistete effektive Rechtsschutz aber erst wie in den Fällen der Geheimhaltungsbedürftigkeit von Tatsachen durch eine Beschränkung des rechtlichen Gehörs möglich, dann liegt in dem damit verbundenen Vorteil, daß jedenfalls das Gericht die vollständigen Akten kennt und aufgrund dieser Kenntnis zu dem Schluß kommen kann, daß die Geheimhaltungsinteressen nicht vorliegen oder nicht überwiegen, ein hinreichender sachlicher Grund.
[16] Bei der Ausgestaltung eines solchen Verfahrens genießt der Gesetzgeber weitgehende Freiheit. Insbesondere ist es ihm unbenommen, Vorkehrungen zu treffen, die den Kreis der Geheimnisträger im Spruchkörper klein halten und den Geheimnisschutz sichern.
[17] Der Gesetzgeber ist zur Erfüllung der Anforderungen von Art. 19 Abs. 4 GG freilich nicht auf das Verfahren "in camera" festgelegt. Soweit andere Möglichkeiten bestehen, das Rechtsschutzdefizit, das § 99 VwGO hinterläßt, auszugleichen, ohne die Geheimhaltungsinteressen zu vernachlässigen, stehen ihm auch diese offen.
[18] 3. Die Verfassungswidrigkeit von § 99 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 1 VwGO führt nicht zur Nichtigkeit der Vorschrift, sondern nur zur Unvereinbarkeit mit Art. 19 Abs. 4 GG. Die Regelung gibt lediglich in denjenigen Fällen Anlaß zu verfassungsrechtlicher Beanstandung, in denen die Gewährung effektiven Rechtsschutzes, wie namentlich bei Auskunftsbegehren, von der Kenntnis geheimgehaltener Verwaltungsvorgänge abhängt. Insoweit ist der Gesetzgeber verpflichtet, bis zum 31. Dezember 2001 einen verfassungsmäßigen Zustand herzustellen.
[19] Im übrigen behält die Norm auch in der derzeitigen Form ihren Anwendungsbereich.
[20] Bis zu einer Neuregelung sind in anhängigen Verfahren der vorliegenden Art die Verwaltungsvorgänge zur Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Vorlageverweigerung dem Gericht vorzulegen, ohne daß dieses den Beteiligten Akteneinsicht gewähren oder den Akteninhalt in sonstiger Weise, etwa in der Entscheidungsbegründung, bekanntgeben darf.
BVerfG, Beschluss vom 27. 10. 1999 – 1 BvR 385/90