Bundesgerichtshof
BGB §§ 1004, 823 Ah
Zur Klage auf Widerruf gegen eine Verdachtsdiagnose, die ein Sachverständiger in einem im sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten über den Antragsteller dieses Verfahrens geäußert hat.

BGH, Urteil vom 23. 2. 1999 – VI ZR 140/98; OLG Karlsruhe (lexetius.com/1999,784)

[1] Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 23. Februar 1999 durch den Vorsitzenden Richter Groß und die Richter Dr. Lepa, Dr. Müller, Dr. Dressler und Dr. Greiner für Recht erkannt:
[2] Die Revision gegen das Urteil des 13. Zivilsenats in Freiburg des Oberlandesgerichts Karlsruhe vom 18. März 1998 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
[3] Tatbestand: Im Rahmen des sozialversicherungsrechtlichen Verwaltungsverfahrens über einen Antrag des Klägers auf Verletztenrente nach einem Arbeitsunfall hat der Beklagte den Kläger im Auftrag der B. Berufsgenossenschaft ambulant untersucht und ein orthopädisches Gutachten gefertigt. In diesem Gutachten vom 13. September 1995 führte der Beklagte zu "Befund" u. a. aus: "Herr M. kommt allein zur Untersuchung. Leptosomaler Habitus, regelrechter Allgemeinzustand. Zeichen der chronischen Alkoholintoxikation."
[4] Der Kläger hält diese letzte Äußerung für unrichtig und frei erfunden. Es gebe keine Anhaltspunkte für sie. Seine Leberwerte seien nicht zu beanstanden.
[5] Die Berufsgenossenschaft hat den Antrag des Klägers auf Verletztenrente abgelehnt; der Kläger hat hiergegen Klage zum Sozialgericht erhoben. Außerdem hat er mit einer Klage beim Landgericht die Verurteilung des Beklagten erstrebt, in bezug auf den Kläger die Behauptung nicht aufrechtzuerhalten, wonach beim Kläger Zeichen einer chronischen Alkoholintoxikation vorlägen, und – für den Fall des Obsiegens – diese Äußerung gegenüber der B. Berufsgenossenschaft in K. zu widerrufen.
[6] Das Landgericht hat die Klage abgewiesen, weil die ärztliche Diagnose, die der Kläger angreife, einem Widerruf nicht zugänglich sei, und das Feststellungsbegehren schon mit Rücksicht darauf unbegründet sei, daß die Alkoholproblematik bei der Entscheidung der Berufsgenossenschaft keine Rolle gespielt habe. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers, mit der dieser nur noch den Widerruf und die Feststellung der Verpflichtung des Beklagten zum Schadensersatz beansprucht hat, zurückgewiesen. Mit der zugelassenen Revision verfolgt der Kläger den Antrag auf Widerruf weiter.
[7] Entscheidungsgründe: I. Das Berufungsgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im wesentlichen ausgeführt, ein Anspruch auf Widerruf stehe dem Kläger nicht zu. Einem Widerruf zugänglich seien nur Tatsachenbehauptungen. Die ärztliche Diagnose des Beklagten sei jedoch eine wertende Schlußfolgerung. Der Beklagte habe in das Gutachten nicht aufgenommene tatsächliche Beobachtungen als Zeichen einer chronischen Alkoholintoxikation bewertet. Das stelle eine Verdachtsdiagnose dar. Zwar sei der Widerruf einer ärztlichen Diagnose nicht in jedem Falle ausgeschlossen. Die Diagnose "Verdacht einer chronischen Alkoholintoxikation" bedeute letztlich, daß konkrete Hinweise vorgelegen hätten, nach denen der Kläger Alkoholiker sein könne. Mit dieser Erkrankung sei häufig ein Unwerturteil über Persönlichkeit und Charakter des Patienten verbunden. Dadurch werde dieser der Gefahr ausgesetzt, als "Säufer" und damit als charakterschwache, psychisch labile Person verdächtigt zu werden, die für ihre gesundheitlichen Beschwerden selbst verantwortlich sei. Bei der gebotenen Abwägung zwischen dem durch Artikel 1, 2 GG geschützten Persönlichkeitsrecht des Patienten und der Meinungsfreiheit nach Artikel 5 GG sowie der Berufsfreiheit nach Artikel 12 GG des Arztes könne eine Diagnose nur dann den Schutz einer Meinungsäußerung beanspruchen, wenn sie eine solche sei und den grundlegenden fachlichen Anforderungen genüge, die an eine ärztliche Diagnose zu stellen seien, insbesondere nicht grob leichtfertig, ohne die erforderliche Sachkunde oder ohne die erforderlichen Befunderhebungen erstellt sei. Diese Grenzen seien hier jedoch noch nicht überschritten worden. Der Beklagte besitze als Orthopäde ausreichende allgemeine Kenntnisse, Zeichen einer chronischen Alkoholintoxikation zu erkennen. Die vom Beklagten aufgestellte Verdachtsdiagnose hinterlasse nicht den Eindruck, ihr lägen in Wahrheit nicht durchgeführte Untersuchungen und Befunderhebungen zugrunde. Die Beurteilung lasse vielmehr deutlich werden, daß der Beklagte eine Beobachtung wiedergebe, die er allein durch Betrachtung des Klägers gewonnen habe. Nach der schlichten Grundlage, auf der sie beruhe, komme dieser Beurteilung nicht das Gewicht einer unrichtigen Tatsachenbehauptung zu. Zudem sei das Gutachten im Rahmen eines Prüfungsverfahrens erstellt worden, in dem der Kläger sich äußern und der Beeinträchtigung seines Persönlichkeitsrechts entgegenwirken könne.
[8] II. Das angefochtene Urteil hält einer rechtlichen Überprüfung stand.
[9] 1. Der Senat hat bereits mehrfach dargelegt, daß Vorbringen, das in engem und unmittelbarem Zusammenhang mit der Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung in einem gesetzlich geregelten Verwaltungs- oder Gerichtsverfahren steht, und Zeugenaussagen grundsätzlich nicht mit Ehrenschutzklagen abgewehrt werden können. Solche Verfahren sollen nicht durch eine Beschneidung der Äußerungsfreiheit der daran Beteiligten beeinträchtigt werden. Vielmehr sollen die Beteiligten dort alles vortragen dürfen, was sie zur Wahrung ihrer Rechte für erforderlich halten, auch wenn hierdurch die Ehre eines anderen berührt wird. In gleicher Weise sollen auch die Zeugen ihre Bekundungen frei von der Befürchtung, mit einer Widerrufs- oder Unterlassungsklage überzogen zu werden, abgeben können (vgl. dazu Senatsurteile vom 18. Oktober 1994 – VI ZR 74/94NJW 1995, 397; vom 17. Dezember 1991 – VI ZR 169/91NJW 1992, 1314, 1315; vom 13. Oktober 1987 – VI ZR 83/87NJW 1988, 1016; vom 10. Juni 1986 – VI ZR 154/85NJW 1986, 2502, 2503; vom 13. Juli 1965 – VI ZR 70/64NJW 1965, 1803; BGH, Urteil vom 9. April 1987 – I ZR 44/85NJW 1987, 3138, 3139 mit im Ergebnis zustimmender Anmerkung Walter, je m. w. N.).
[10] Der Senat hat jedoch offengelassen, ob solches auch gegenüber Äußerungen von Sachverständigen in Gutachten gilt, die diese in gesetzlich geregelten Verfahren erstattet haben (vgl. Senatsurteil vom 11. April 1989 – VI ZR 293/88NJW 1989, 2941, 2942). Die Frage bedarf auch hier keiner Entscheidung, weil es bereits an einer dem Widerruf zugänglichen Äußerung des Beklagten fehlt.
[11] 2. In Anlehnung an § 1004 BGB gewährt die Rechtsprechung demjenigen, der das Ziel einer unwahren Tatsachenbehauptung geworden ist, gegen den Störer einen Anspruch auf Widerruf dieser Behauptung, um einem Zustand fortdauernder Rufbeeinträchtigung ein Ende zu machen und so die rechtswidrige Störung abzustellen. Die Gewährung von Widerruf ist auf Tatsachenbehauptungen beschränkt, weil niemand gezwungen werden kann, seiner subjektiven Meinung öffentlich abzuschwören (vgl. BGHZ 128, 1, 6 ff.; Senatsurteil vom 3. Mai 1988 – VI ZR 276/87NJW 1989, 774).
[12] a) Wesentlich für die Einstufung als Tatsachenbehauptung ist, ob die Aussage einer Überprüfung auf ihre Richtigkeit mit den Mitteln des Beweises zugänglich ist, was bei Meinungsäußerungen ausscheidet, weil sie durch die subjektive Beziehung des sich Äußernden zum Inhalt seiner Aussage geprägt sowie durch das Element der Stellungnahme und des Dafürhaltens gekennzeichnet werden und sich deshalb nicht als wahr und unwahr erweisen lassen.
[13] Gutachten von Sachverständigen können sowohl Tatsachenbehauptungen als auch Werturteile enthalten. Aufgabe des Gutachters ist es häufig, kraft seiner Sachkunde zu bestimmten Tatsachen Stellung zu nehmen. Dann hat er einmal Auskunft über Sätze der Wissenschaft, Erfahrungssätze und dergleichen zu geben, wendet diese Sätze aber gleichzeitig auf den konkreten Fall an und gelangt so zu Schlußfolgerungen über das Vorliegen konkreter Tatsachen. Meint er, aufgrund seiner Untersuchungen und Überlegungen Gewißheit über die erfragte Tatsache erlangt zu haben, so wird er deren Existenz im Einzelfall uneingeschränkt behaupten. Gleichwohl ist rechtlich in der Regel der Schluß, den der Sachverständige aus seinem Gutachten zieht, ein Werturteil und nicht Behauptung einer Tatsache. Es liegt im Wesen des Gutachtens, daß es auf der Grundlage bestimmter Verfahrensweisen zu einem Urteil kommen will, das, selbst wenn es äußerlich als Tatsachenbehauptung formuliert worden ist, auf Wertungen beruht. Freilich kann im Einzelfall auch die gutachtliche Aussage im Rechtssinne eine das Widerrufsbegehren rechtfertigende Tatsachenbehauptung sein, etwa dann, wenn die der Schlußfolgerung vorausgehende methodische Untersuchung oder die zum Ergebnis führende Anwendung spezieller Kenntnisse und Fähigkeiten nur vorgetäuscht oder grob leichtfertig vorgenommen worden ist. Dann mag das Gutachten seinen Charakter als Werturteil verlieren und dem Erfordernis, die Ehre des Betroffenen zu schützen, der Vorzug gegenüber dem Schutz der freien Meinungsäußerung zu geben sein. In solchen Fällen genießen auch Gutachten von Sachverständigen ebensowenig wie Veröffentlichungen wissenschaftlichen Charakters absoluten Schutz (vgl. Senatsurteil vom 18. Oktober 1977 – VI ZR 171/76NJW 1978, 751, 752).
[14] b) Nach diesen Grundsätzen hat das Berufungsgericht die Klage auf Widerruf zu Recht abgewiesen.
[15] Die beanstandete Äußerung des Beklagten hat das Berufungsgericht ohne Rechtsfehler als Verdachtsdiagnose aufgrund bloßen Besichts gewürdigt. Das beanstandet auch die Revision nicht.
[16] Diese Verdachtsdiagnose beinhaltet die Wertung, beim Kläger hätten nicht näher dargelegte "Zeichen" vorgelegen, die für den Fachmann auf eine "chronische Alkohlintoxikation" hindeuten könnten. Das ist entgegen der Ansicht der Revision nicht die Mitteilung (beliebiger, nicht näher bezeichneter) Tatsachen, sondern die Wiedergabe der auf einer Schlußfolgerung beruhenden, persönlichen Meinung des Beklagten.
[17] Die Revision beanstandet zwar die Verdachtsdiagnose "Zeichen der chronischen Alkoholintoxikation" als fehlerhaft. Eine ärztliche Schlußfolgerung bleibt aber selbst dann eine dem Widerruf nicht zugängliche Äußerung ärztlicher Meinung, wenn sie sich als unrichtig erweisen könnte. Das hat der erkennende Senat für die ärztliche Diagnose mehrfach ausgesprochen (vgl. Senatsurteile vom 11. April 1989 – VI ZR 293/88NJW 1989, 2941, 2942; vom 3. Mai 1988 – VI ZR 276/87NJW 1989, 774, 775). Gründe für eine andere Betrachtung sind auch im Streitfall nicht ersichtlich. Sie ergeben sich insbesondere nicht daraus, daß die Verdachtsdiagnose häufig mit einem, dem Patienten in der Öffentlichkeit abträglichen Erscheinungsbild verbunden sein mag. Ein solches Erscheinungsbild ist in dem hier beanstandeten Gutachten zudem nicht konkret wiedergegeben.
[18] Auch die Voraussetzungen für einen Ausnahmefall, in dem die Meinungsäußerungsfreiheit des als Sachverständigen tätigen Arztes zurückstehen müßte, sind nicht erfüllt. Mit der leichtfertigen Erstellung eines Gutachtens ist eine solche gemeint, durch die das Gutachten seinen Charakter als Werturteil verliert, weil es, ähnlich wie bei bloßer Vortäuschung der vom Sachverständigen angeblich aufgewendeten speziellen Kenntnisse und Fähigkeiten, einer auf Sachkunde beruhenden Beurteilung völlig entbehrt (vgl. Senatsurteil vom 11. April 1989 aaO). Die einem Widerruf zugängliche Tatsachenaussage liegt in derartigen Fällen in der unwahren konkludenten Behauptung, das Gutachten sei auf der in Wirklichkeit nicht in Anspruch genommenen fachlichen Grundlage erstellt. Das mag zu erwägen sein, wenn dem Sachverständigen jedwede Kompetenz für die Beurteilung der von ihm beantworteten Frage fehlt oder wenn er zwar über die notwendige Fachkunde verfügt, von seinen speziellen Fähigkeiten und Kenntnissen bei der Begutachtung aber keinen Gebrauch gemacht hat. So liegt der Fall hier aber nicht. Die Revision vermag nicht darzulegen, daß die Äußerung des Sachverständigen offensichtlich unzutreffend ist. Sie verweist lediglich darauf, daß der Kläger in den Vorinstanzen die Richtigkeit der Äußerung bestritten und dafür Beweis angetreten hat. Damit liegt die Unrichtigkeit der Äußerung nicht ohne weitere Erforschung offen zutage. Der Sachverständige hatte als Orthopäde zudem ausreichende medizinische Allgemeinkenntnisse, um die von ihm festgestellten Zeichen als solche einer chronischen Alkoholintoxikation zu werten. Das hat das Berufungsgericht festgestellt, ohne daß die Revision dem entgegengetreten wäre. Es hat schließlich keine Tatsachen festzustellen vermocht dafür, daß der Beklagte die "Zeichen einer chronischen Alkoholintoxikation" frei erfunden habe; auch die Revision vermag Anhaltspunkte dafür nicht aufzuzeigen. Die behauptete Haltlosigkeit des Vorbringens genügt hierfür nicht.