Richtervorlage (Art. 100 Abs. 1 GG) zur Frage der erstinstanzlichen Zuständigkeit der Amtsgerichte in Strafsachen ist unzulässig

BVerfG, Mitteilung vom 22. 3. 2000 – 36/00 (lexetius.com/2000,4186)

[1] Die 3. Kammer des Zweiten Senats des BVerfG hat in einem Vorlageverfahren über die Frage, ob die in §§ 24, 74 des Gerichtsverfassungsgesetzes (GVG) Wortlaut siehe Anlage bestimmte Abgrenzung der erstinstanzlichen Zuständigkeiten in Strafsachen zwischen Amts- und Landgericht mit dem Grundgesetz vereinbar ist, soweit darin grundsätzlich auch für den Straftatbestand der Vergewaltigung die Zuständigkeit des Amtsgerichts begründet wird, wenn nicht im Einzelfall eine vier Jahre übersteigende Freiheitsstrafe zu erwarten ist, entschieden:
[2] Die Vorlage ist unzulässig.
[3] I. Das Amtsgericht Schöffengericht verurteilte den Angeklagten des Ausgangsverfahrens wegen versuchter Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten. Hiergegen legten sowohl der Angeklagte als auch die Staatsanwaltschaft Berufung ein. Nach Eingang der Akten beim Berufungsgericht hat der Vorsitzende der kleinen Strafkammer mit Beschluss vom 3. Juni 1998 das Verfahren ausgesetzt und die Sache dem BVerfG vorgelegt zur Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit der §§ 24, 74 GVG im Hinblick auf die Zuständigkeit für Strafsachen, die Vergewaltigungen nach § 177 Abs. 1 und Abs. 2 Strafgesetzbuch (StGB) betreffen.
[4] Zur Begründung führt er im Wesentlichen aus: Die Verfassungsmäßigkeit der zur Prüfung gestellten Normen sei erheblich; denn die kleine Strafkammer wäre zur Entscheidung über die Berufung des Angeklagten zuständig, wenn die §§ 24, 74 GVG nicht verfassungswidrig wären. Anderenfalls wäre die Sache an die große Strafkammer zur erstinstanzlichen Verhandlung zu verweisen. Eine Strafe von mehr als vier Jahren Freiheitsstrafe sei nicht zu erwarten.
[5] Die geltende Fassung der §§ 24, 74 GVG verstoße für Opfer von Vergewaltigungen in unerträglicher Weise gegen Art. 1 und Art. 3 GG. Es gebe keine vergleichbare Straftat, die so intensiv auf die körperliche Integrität, die Psyche eines Menschen und sein Selbstbestimmungsrecht einwirke. Die Ermöglichung einer zweiten Tatsacheninstanz für den Täter durch das Rechtsmittel der Berufung bedeute für das Tatopfer eine zusätzliche und unnötige Belastung, weil es regelmäßig in zwei Tatsacheninstanzen aussagen müsse. Art. 1 und Art. 3 GG geböten deshalb die Aufnahme des § 177 Abs. 1 und Abs. 2 StGB in den Zuständigkeitskatalog des § 74 Abs. 2 GVG und damit in die Zuständigkeit des Schwurgerichts.
[6] II. Die Vorlage ist unzulässig.
[7] 1. Das vorlegende Gericht hat den von ihm zu Grunde gelegten verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstab nicht in der erforderlichen Weise dargelegt. Es stützt zwar seine verfassungsrechtlichen Bedenken gegen §§ 24, 74 GVG auf Art. 1 Abs. 1 GG, setzt sich aber weder mit dessen Gehalt, wie er in der Rechtsprechung des BVerfG entwickelt worden ist, noch mit einer Auslegung und verfassungsrechtlichen Prüfung der angefochtenen Normen aus diesem Blickwinkel auseinander. Vielmehr benutzt es seinen Vorlagebeschluss dazu, seine rechtspolitische Überzeugung vorzutragen. Die strafprozessualen Vorschriften des GVG über die Zuständigkeiten der Amts- und der Landgerichte stehen mit der Menschenwürde als oberstem Wert des Grundgesetzes und tragendem Konstitutionsprinzip, das mit dem Verbot verbunden ist, den Menschen zum bloßen Objekt des Staates zu machen, in Einklang. Dass allein der Umstand, dass ein Vergewaltigungsopfer sich einer zweifachen Zeugenvernehmung in zwei Tatsacheninstanzen unterziehen muss, die Folge einer Behandlung "als Objekt" durch den Staat oder durch andere Personen sei, ist schon deshalb fern liegend, weil die Geschädigte über ihre Zeugenrechte hinaus sich dem Verfahren als Nebenklägerin anschließen kann und eigenständige Verfahrensrechte hat.
[8] 2. Darüber hinaus lässt der Vorlagebeschluss eine Auseinandersetzung mit nahe liegenden Gesichtspunkten vermissen und berücksichtigt nicht hinreichend die Auffassungen in Rechtsprechung und Literatur. Er übersieht, dass die Ausgestaltung des Rechtswegs (Art. 19 Abs. 4 GG) grundsätzlich Sache des Gesetzgebers ist. Die in Art. 19 Abs. 4 GG verbürgte Effektivität des Rechtsschutzes wird in erster Linie von den Prozessordnungen gesichert. Es obliegt dem Gesetzgeber, das Verfassungsgebot des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) auszufüllen und damit die fundamentalen Regeln über die Zuständigkeit der Gerichte und ihrer Spruchkörper aufzustellen. Zu prüfen, ob er dabei die gerechteste und zweckmäßigste Regelung geschaffen hat, ist nicht Sache des BVerfG.
[9] 3. Schließlich hat das vorlegende Gericht zur Möglichkeit einer verfassungskonformen Auslegung der zur Prüfung gestellten Norm keine Stellung genommen; in der Rechtsprechung wird die Auffassung vertreten, dass die besondere Bedeutung des Falles mit der Folge der Anklageerhebung beim Landgericht gemäß § 24 Abs. 1 Nr. 3 GVG auch dann zu bejahen sei, wenn die Durchführung zweier Tatsacheninstanzen für das Tatopfer mit unzumutbaren Belastungen verbunden wäre.
BVerfG, Beschluss vom 27. 2. 2000 – 2 BvL 4/98