Bundesfinanzhof
EStG § 33
Nachzahlungen zur Rentenversicherung eines Elternteils sind nicht aus sittlichen Gründen zwangsläufig, wenn dessen Rentenansprüche bereits ohne die Nachzahlung so hoch sind, dass sein Lebensunterhalt sowohl gegenwärtig als auch voraussichtlich in Zukunft sichergestellt ist.

BFH, Urteil vom 7. 3. 2002 – III R 42/99; FG Düsseldorf (lexetius.com/2002,734)

[1] Gründe: I. Die seit 1991 verwitwete Mutter der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) erhielt im Streitjahr 1994 von der Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) nach Abzug des Krankenversicherungsanteils eine Witwenrente in Höhe von 1 288,79 DM (bis Juni) bzw. 1 332,53 DM (ab Juli). Mit Bescheid vom 3. Februar 1994 hatte die BfA ihr mitgeteilt, dass sie berechtigt sei, als freiwillige Beträge bei Heiratserstattung 16 012,50 DM zur Angestelltenversicherung nachzuzahlen. Diesen Betrag zahlte die Klägerin am 28. April 1994 für ihre Mutter ein. Aufgrund der Nachzahlung erhält diese seit September 1995 eine zusätzliche eigene Rente in Höhe von 848 DM.
[2] In ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr 1994 machte die Klägerin die Zahlung als außergewöhnliche Belastung nach § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt – FA -) lehnte eine Berücksichtigung ab. Nach erfolglosem Einspruchsverfahren erhob die Klägerin Klage, die das Finanzgericht (FG) mit dem in Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst (DStRE) 1999, 953 veröffentlichten Urteil mit der Begründung abwies, Zahlungen, die dem Grunde nach Sonderausgaben i. S. des § 10 EStG darstellten, könnten nach § 33 Abs. 2 Satz 2 EStG nicht als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden. Zudem kämen Vorsorgeaufwendungen auch deshalb nicht als außergewöhnliche Belastung in Betracht, weil unter § 33 EStG nur solche Aufwendungen fielen, die durch eine "akute Notlage" veranlasst seien. Im Übrigen werde von einem Kind nach allgemeiner gesellschaftlicher Anschauung nicht die Nachzahlung von Rentenversicherungsbeiträgen für einen Elternteil erwartet, der bereits über eine eigene Rente verfüge.
[3] Mit der Revision bringt die Klägerin vor, sie sei zur Nachentrichtung der Beiträge sittlich verpflichtet gewesen.
[4] Der Bescheid der BfA vom 3. Februar 1994, der die auf drei Monate begrenzte Nachzahlungsmöglichkeit eröffnet habe, sei ein von außen wirkendes Ereignis gewesen, welches die wesentliche Ursache für die Nachzahlung dargestellt habe. Hätte sie diese Frist verstreichen lassen, wäre später eine Nachzahlung nicht mehr zu den im Bescheid genannten Konditionen möglich gewesen. Die Vergünstigung, die in der Zugrundelegung der für das Jahr 1957 maßgeblichen Werte bestanden habe, habe eine Wiedergutmachung für die zu gering ausgefallene Heiratserstattung bedeutet.
[5] Ihre Mutter habe die Nachzahlung nicht selbst leisten können, weil sie im Streitjahr lediglich über Einkünfte im Grenzbereich des sog. Existenzminimums verfügt habe. Das steuerliche Existenzminimum werde nach dem im Sozialhilferecht jeweils anerkannten Mindestbedarf bestimmt, der individuell nach den Verhältnissen des Einzelfalls berechnet werde, nicht dagegen nach den im Wege einer Typisierung angesetzten Beträgen des § 32c EStG. Maßgeblich sei im Streitfall die durchschnittliche Sozialhilfeleistung für nicht erwerbstätige Alleinstehende in Höhe von 13 316 DM. Da die Witwenrente ihrer Mutter diesen Betrag nur geringfügig übersteige, treffe die Aussage des FG, ihre Einkünfte seien erheblich höher gewesen als der Sozialhilfesatz, nicht zu. Dabei sei auch zu berücksichtigen, dass Vergleichsbetrag nicht der Grundbetrag, sondern die in der Altersgruppe ihrer Mutter tatsächlich ausgezahlte Sozialhilfe sei. In diesem Zusammenhang habe sie zu Recht auf den erhöhten Grundbetrag von 1 450 DM im Falle bestimmter, im Alter nicht selten vorkommender Heilfürsorgemaßnahmen hingewiesen (vgl. § 81 Abs. 1 Nr. 6 i. V. m. § 82 des Bundessozialhilfegesetzes – BSHG -).
[6] Das FG habe auch die besondere Lebenssituation, in der sie und ihre Mutter sich befänden, nicht berücksichtigt. Es lägen vergleichbare Umstände vor wie in dem vom FG Hamburg durch Urteil vom 2. Februar 1976 III 73/75 (Entscheidungen der Finanzgerichte – EFG – 1976, 234) zugunsten des dortigen Klägers entschiedenen Fall. Sie sei das einzige, unverheiratete Kind ihrer bedürftigen, verwitweten Mutter und habe mit ihr in häuslicher Gemeinschaft gelebt, was für eine enge persönliche Bindung spreche. In Anbetracht der dargelegten Umstände hätte die Mehrzahl der billig und gerecht denkenden Bürger kein Verständnis für sie aufgebracht, wenn sie die Nachzahlung nicht geleistet hätte, um ihrer Mutter die Inanspruchnahme staatlicher Leistungen auf Dauer zu ersparen. Entgegen der Auffassung des FG könne eine Berücksichtigung der Aufwendungen auch nicht deshalb versagt werden, weil sich ihre Mutter nicht in einer "akuten Notlage" befunden habe. Für die Beurteilung des Vorliegens einer sittlichen Verpflichtung müsse es unerheblich sein, ob sich der Bedürftige in einer akuten Notlage befinde oder ob eine andauernde Existenzgefährdung beseitigt werde.
[7] Sie habe keinen Gegenwert für ihre Zahlung erhalten, da sie – anders als bei einer privaten Versicherung auf Rentenbasis – niemals Bezugsberechtigte der Rente werden könne. Ihr sei daher ein "verlorener Aufwand" entstanden. Zu berücksichtigen sei für die Anwendung der Gegenwertlehre, dass ihre Mutter mit der Nachzahlung lediglich eine Rentenanwartschaft, d. h. die Chance auf eine Rente, erworben habe. Bei vorzeitigem Ableben könne der ausgezahlte Rentenbetrag geringer sein als die Nachzahlung. Zudem besitze eine Rentenanwartschaft nicht die für die Anwendung der Gegenwertlehre erforderliche Marktgängigkeit.
[8] Der Berücksichtigung der geltend gemachten Aufwendungen stehe auch § 33 Abs. 2 Satz 2 EStG nicht entgegen, den das FG unzutreffend ausgelegt habe. Der Normbereich der Sonderausgaben sei im Falle von Leistungen im Rahmen eines Versicherungsverhältnisses nur betroffen, wenn der Leistende selbst Verpflichteter aus diesem Verhältnis sei.
[9] Die Klägerin beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und unter Änderung des Einkommensteuerbescheids für 1994 die Nachzahlung zur Rentenversicherung in Höhe von 16 012 DM als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG zu berücksichtigen.
[10] Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
[11] II. Die Revision ist unbegründet. Sie wird zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung – FGO -). Das FG hat die Nachzahlung zur Rentenversicherung zu Recht nicht als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG anerkannt. Die Aufwendungen sind der Klägerin nicht zwangsläufig i. S. des § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG entstanden.
[12] 1. Die nachentrichteten Beiträge sind nicht schon nach § 33a Abs. 5 EStG vom Abzug als außergewöhnliche Belastung ausgeschlossen. § 33a EStG regelt die Abziehbarkeit von typischen Unterhaltskosten, d. h. von Aufwendungen, die für den laufenden Lebensunterhalt des Empfängers bestimmt sind (Urteile des Bundesfinanzhofs – BFH – vom 24. Juli 1987 III R 208/82, BFHE 150, 351, BStBl II 1987, 715, und vom 22. Juli 1988 III R 253/83, BFHE 154, 111, BStBl II 1988, 830). In einem Einmalbetrag nachentrichtete Beiträge zur Rentenversicherung fallen nicht unter den Anwendungsbereich des § 33a EStG, sondern können als atypische Unterhaltsaufwendungen grundsätzlich nach § 33 EStG zu berücksichtigen sein (vgl. auch BFH-Urteil vom 18. Juni 1997 III R 60/96, BFH/NV 1997, 755).
[13] 2. Der Abziehbarkeit als außergewöhnliche Belastung steht auch nicht § 33 Abs. 2 Satz 2 EStG entgegen. Danach bleiben u. a. Aufwendungen außer Betracht, die zu den Sonderausgaben gehören.
[14] Die Klägerin kann die nachentrichteten Beiträge nicht als Sonderausgaben abziehen, weil nicht sie, sondern die Mutter Versicherungsnehmerin ist (BFH-Urteile vom 19. April 1989 X R 28/86, BFHE 157, 505, BStBl II 1989, 862, und X R 2/84, BFHE 157, 101, BStBl II 1989, 683, sowie vom 8. März 1995 X R 80/91, BFHE 177, 375, BStBl II 1995, 637).
[15] Dahinstehen kann im Streitfall, ob die nachentrichteten Beiträge deshalb nach § 33 Abs. 2 Satz 2 EStG vom Abzug als außergewöhnliche Belastung ausgeschlossen sind, weil es sich der Art nach um Sonderausgaben der Mutter handelt, welche die Klägerin für ihre Mutter im abgekürzten Zahlungsweg geleistet hat (vgl. Beschluss des Großen Senats vom 23. August 1999 GrS 2/97, BFHE 189, 160, BStBl II 1999, 782, unter C. IV. 1. c aa).
[16] 3. Die geltend gemachten Aufwendungen sind jedenfalls dem Grunde nach nicht zwangsläufig, weil sie der Klägerin nicht aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen zwangsläufig erwachsen sind (§ 33 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 1 EStG). Es kann daher unentschieden bleiben, ob es auch am Merkmal der Notwendigkeit (§ 33 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 EStG) fehlt, weil die Nachzahlungen zur Rentenversicherung nicht zur Beseitigung einer gegenwärtigen, sondern einer künftigen Bedürftigkeit geleistet werden (so Kanzler in Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, Kommentar, § 33 EStG Anm. 300 "Rentenversicherung"; Schmidt/Drenseck, Einkommensteuergesetz, 20. Aufl., § 33 Rz. 26).
[17] a) Die Klägerin war nicht aus rechtlichen Gründen zur Nachentrichtung der Beiträge verpflichtet. Gemäß § 1601 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) sind Verwandte in gerader Linie zwar verpflichtet, einander Unterhalt zu gewähren. Angesichts der eigenen Einkünfte der Mutter der Klägerin im Streitjahr ist bereits zweifelhaft, ob im Zeitpunkt der Nachzahlung überhaupt eine Unterhaltspflicht bestanden hat (vgl. § 1602 Abs. 1 BGB). Selbst bei Bestehen eines Anspruchs hätte die Verpflichtung zur Leistung des angemessenen Unterhalts i. S. des § 1610 Abs. 1 BGB aber nicht die Nachzahlung von Rentenversicherungsbeiträgen umfasst (vgl. Urteile des FG Hamburg in EFG 1976, 234, rkr., und des FG München vom 1. Juli 1998 1 K 831/95, rkr., EFG 1998, 1467).
[18] b) Unabhängig davon, ob Aufwendungen für die Unterstützung anderer Personen überhaupt aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig sein können (vgl. Senatsurteil vom 27. Oktober 1989 III R 205/82, BFHE 158, 431, BStBl II 1990, 294, m. w. N.), sind sie jedenfalls nicht durch ein unabwendbares Ereignis tatsächlicher Art wie Katastrophen, Krankheit oder andere Gesundheits- und Lebensbedrohungen ausgelöst worden.
[19] c) Auch eine sittliche Verpflichtung zur Nachzahlung hat nicht bestanden.
[20] Zwangsläufigkeit aus sittlichen Gründen ist nach ständiger Rechtsprechung nur dann anzunehmen, wenn sich der Steuerpflichtige nach dem Urteil der Mehrzahl billig und gerecht denkender Mitbürger zum Handeln verpflichtet sehen kann. Handelt er nicht, so muss dies "Nachteile im sittlich-moralischen Bereich oder auf gesellschaftlicher Ebene" zur Folge haben können; das Unterlassen muss als moralisch anstößig empfunden werden (BFH-Urteil vom 22. Oktober 1996 III R 265/94, BFHE 182, 352, BStBl II 1997, 558, m. w. N.). Ob dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls (BFH-Urteile vom 27. Februar 1987 III R 209/81, BFHE 149, 240, BStBl II 1987, 432, und vom 29. August 1996 III R 4/95, BFHE 181, 441, BStBl II 1997, 199, unter 2. c).
[21] Eine sittliche Verpflichtung liegt im Streitfall nicht vor, weil die Mutter der Klägerin bereits über Rentenansprüche verfügte, von denen die Klägerin annehmen durfte, dass sie auch in Zukunft ausreichen würden, um den Lebensbedarf ihrer Mutter zu decken. Entscheidend ist dabei nicht, ob die Mutter der Klägerin aus der Witwenrente Ansprüche in einer Höhe hatte, die "erheblich über dem Sozialhilfesatz" lagen oder ob sie – im Falle eines vielleicht in der Zukunft nötig werdenden Mehrbedarfs wegen höheren Alters (vgl. §§ 23, 68 BSHG) – später einmal unter dem Betrag liegen könnten, der infolge der Veränderung der konkreten Lebensumstände und des Gesundheitszustands als Sozialhilfe gezahlt würde.
[22] Angesichts der deutlich höheren bereits bestehenden Rentenansprüche muss auch nicht entschieden werden, ob die Klägerin schon deshalb nicht zur Nachentrichtung der Beiträge sittlich verpflichtet ist, weil die Einkünfte der Mutter die "Einkünftegrenze" nach § 33a EStG in Höhe von 6 000 DM übersteigen. Jedenfalls dann, wenn die Rentenansprüche der Mutter bereits ohne die Nachzahlung so hoch sind, dass ihr Lebensunterhalt voraussichtlich auch in Zukunft sichergestellt ist, kann auch im Falle einer engen Beziehung zwischen Mutter und Tochter nicht davon ausgegangen werden, die Klägerin wäre, hätte sie die Nachzahlung nicht geleistet, gesellschaftlicher Missbilligung in einem Ausmaß begegnet, dass dies einer rechtlichen Verpflichtung zum Handeln gleichkäme. Im Streitfall kommt hinzu, dass die über Einkünfte aus ihrer Berufstätigkeit verfügende Klägerin annehmen durfte, sie werde die Mutter überleben und würde diese unterstützen können, wenn wider Erwarten die eigenen Renteneinkünfte der Mutter später nicht zur Deckung ihres Lebensbedarfs ausreichen sollten.
[23] Zu berücksichtigen ist auch, dass die von der Klägerin als Vergleichsmaßstab herangezogene durchschnittliche Sozialhilfeleistung nach den Regelungen des BSHG nicht lediglich das Existenzminimum abdeckt, sondern darüber hinausgeht. Der notwendige Lebensunterhalt i. S. des Sozialhilferechts umfasst auch Bedürfnisse nach Beziehungen zur Umwelt und Teilnahme am kulturellen Leben (vgl. § 12 Abs. 1 Satz 2 BSHG), im Gegensatz zur Hilfe, die unter bestimmten Voraussetzungen auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche eingeschränkt wird (vgl. § 25 Abs. 2 BSHG) und die lediglich das eigentliche physische Existenzminimum abdeckt (Schoch, Sozialhilfe, 1995, S. 87).
[24] Das Urteil des FG Hamburg in EFG 1976, 234, auf das sich die Klägerin für ihre Rechtsauffassung beruft, ist durch die spätere Rechtsprechung überholt, nach der die Voraussetzungen für die Annahme einer sittlichen Verpflichtung um das Merkmal der moralischen Anstößigkeit erweitert worden sind (vgl. BFH-Urteil in BFHE 149, 240, BStBl II 1987, 432, und Urteil des FG München in EFG 1998, 1467).
[25] Der Senat verkennt nicht, dass die Klägerin die Nachzahlung geleistet hat, um ihrer Mutter ein höheres Einkommen zu ermöglichen und damit aus sittlich zu billigenden und besonders anerkennenswerten Gründen gehandelt hat. Dies reicht jedoch nicht aus, um die Zahlung als aus sittlichen Gründen zwangsläufig anzusehen (BFH-Urteil in BFHE 150, 351, BStBl II 1987, 715).