Bundesarbeitsgericht
Erforderlichkeit einer Schulungsveranstaltung für Betriebsratsmitglieder
Die Vermittlung allgemeiner Grundkenntnisse des Sozial- und Sozialversicherungsrechts ist ohne einen konkreten betriebsbezogenen Anlaß nicht erforderlich i. S. v. § 37 Abs. 6 BetrVG.

BAG, Beschluss vom 4. 6. 2003 – 7 ABR 42/02 (lexetius.com/2003,1723)

[1] Die Rechtsbeschwerde der Beteiligten zu 1 – 3 gegen den Beschluß des Hessischen Landesarbeitsgerichts vom 12. Juli 2002 – 12 TaBV 56/01 – wird zurückgewiesen.
[2] Gründe: A. Die Beteiligten streiten über eine Verpflichtung des Arbeitgebers zur Erstattung von Schulungs- und Fahrtkosten.
[3] Der zu 4) beteiligte Arbeitgeber unterhält in H ein Berufsbildungszentrum, in dem der zu 1) beteiligte Betriebsrat gebildet ist. Er besteht aus 15 Mitgliedern, zu denen die Beteiligten zu 2) und 3) gehören. Die Betriebsrätin G ist seit dem 24. Februar 1999 Mitglied des Betriebsrats und gleichzeitig Mitglied im Frauen- sowie im Personalausschuß. Die Betriebsrätin J gehört dem Betriebsrat seit dem 29. Mai 1998 an und ist gleichzeitig Mitglied im Frauen- und im Öffentlichkeitsausschuß. Am 2. März 1999 beschloß der Betriebsrat, beide Betriebsratsmitglieder zu dem Seminar des DGB-Bildungszentrums in N "Soziale Sicherung – Grundlagen" vom 11. bis 23. Juli 1999 zu entsenden. Nach dem Veranstaltungsprogramm diente die Schulung der Vermittlung von Kenntnissen des Sozialrechts sowie der Unterrichtung über die damit verbundene Rechtsprechung und sozialpolitische Fragestellungen. Am ersten Tag sollten die Struktur der sozialen Sicherung, deren Finanzierung und Rechtsgrundlagen sowie die historische Entwicklung und die Aufgaben und Ziele der Sozialpolitik behandelt werden. Die Themen des zweiten Tages waren das Mitglieds-, Beitrags- und Leistungsrecht der Krankenversicherung einschließlich der Krankengeld- und Entgeltfortzahlung. Am dritten Tag stand die Pflegeversicherung und die Gesundheitspolitik, am vierten Tag die Unfallversicherung und am fünften Tag die Arbeitsförderung auf dem Programm. Am sechsten Tag sollte die Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik behandelt werden. Der siebte Tag und der Vormittag des achten Tages waren der Rentenversicherung gewidmet. Am Nachmittag des achten Tages sollten das Altersteilzeitgesetz und die Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit behandelt werden. Die Themen des neunten Tages waren die Renten von Todes wegen einschließlich Rentenberechnung unter Berücksichtigung der Rentenreform 1999, während am zehnten und letzten Tag die Alterssicherungspolitik im Zusammenhang mit der Rentenreform 2001 auf dem Programm stand. Obwohl der Arbeitgeber mit Schreiben vom 21. Mai 1999 eine Übernahme der Schulungskosten abgelehnt hatte, nahmen die beiden Betriebsratsmitglieder an der Schulung teil. Dabei entstanden der Betriebsrätin G Fahrtkosten iHv. 246,10 DM und der Betriebsrätin J Fahrtkosten iHv. 234,00 DM. Am 22. Juli 1999 stellte das DGB-Bildungswerk dem Arbeitgeber für die Teilnahme der beiden Betriebsratsmitglieder Schulungskosten iHv. jeweils 3.554,40 DM in Rechnung. Der Arbeitgeber lehnte die Bezahlung dieser Rechnungen und eine Erstattung der Fahrtkosten ab.
[4] Mit den am 3. Dezember 1999 beim Arbeitsgericht eingegangenen Anträgen haben der Betriebsrat die Freistellung von den Schulungskosten und die beiden Betriebsratsmitglieder sowie der Betriebsrat die Erstattung der Fahrtkosten verlangt. Sie haben die Auffassung vertreten, die Teilnahme an der Schulungsveranstaltung sei bereits deswegen erforderlich gewesen, damit die Betriebsratsmitglieder ihrer allgemeinen Überwachungspflicht nachkommen könnten. Für die Mitglieder des Frauenausschusses stellten sich im Betrieb häufig sozialrechtliche Fragen im Hinblick auf geringfügige Beschäftigung, Mutterschutz, Erziehungsurlaub, Witwen- und Waisenrenten, Kinderversorgungszeiten und die sozialrechtlichen Folgen von Stundenreduzierungen. Der Betriebsrat werde bei Aufhebungsverträgen und anläßlich der in einem Betriebsteil ausgesprochenen 21 Kündigungen wegen sozialrechtlicher Angelegenheiten um Rat gebeten. Auf Grund von 15 Anträgen auf Altersteilzeit und des im Betrieb des Arbeitgebers geltenden Altersteilzeittarifvertrags benötige der Betriebsrat entsprechende Kenntnisse.
[5] Die Antragsteller haben beantragt, 1. dem Antragsgegner aufzugeben, den Antragsteller zu 1) von der Inanspruchnahme durch das DGB-Bildungswerk aus den Rechnungen Nr. AG 992400/994309/SoG sowie AG 992409/994309/SoG jeweils vom 22. Juli 1999 über jeweils 3.554,40 DM freizustellen, 2. dem Antragsgegner aufzugeben, an die Antragstellerin zu 2) 246,10 DM nebst 4 % Zinsen seit Zustellung dieses Antrags zu zahlen, 3. dem Antragsgegner aufzugeben, an die Antragstellerin zu 3) 234,00 DM nebst 4 % Zinsen seit Zustellung dieses Antrags zu zahlen.
[6] Der Arbeitgeber hat die Zurückweisung dieser Anträge beantragt und gemeint, der weit überwiegende Anteil der behandelten Schulungsthemen habe keinen Bezug zu den Aufgaben des Betriebsrats. Diese Themen seien für die Arbeit des Betriebsrats nützlich, jedoch nicht erforderlich gewesen.
[7] Das Arbeitsgericht hat den Anträgen stattgegeben. Auf die Beschwerde des Arbeitgebers hat das Landesarbeitsgericht die Anträge zurückgewiesen. Mit der Rechtsbeschwerde erstreben der Betriebsrat und die Betriebsratsmitglieder die Wiederherstellung der erstinstanzlichen Entscheidung. Der Arbeitgeber beantragt die Zurückweisung der Rechtsbeschwerde.
[8] B. Die Rechtsbeschwerde ist unbegründet. Das Landesarbeitsgericht hat die Anträge des Betriebsrats und der beiden Betriebsratsmitglieder zu Recht zurückgewiesen. Der Arbeitgeber ist nicht verpflichtet, die Schulungskosten für die Teilnahme der beiden Betriebsratsmitglieder zu tragen und deren Fahrtkosten zu erstatten. Der Betriebsrat hat bereits deswegen keinen Anspruch auf Freistellung von den Schulungskosten, weil er ihretwegen vom Veranstalter der Schulung bisher nicht in Anspruch genommen worden ist. Darüber hinaus hat das Seminar "Soziale Sicherung – Grundlagen" keine Kenntnisse vermittelt, die für die Arbeit des Betriebsrats erforderlich waren.
[9] I. Der Arbeitgeber hat gem. § 40 Abs. 1 BetrVG die durch die Tätigkeit des Betriebsrats entstehenden Kosten zu tragen. Dazu gehören auch die Kosten, die anläßlich der Teilnahme eines Betriebsratsmitglieds an einer Schulungsveranstaltung nach § 37 Abs. 6 BetrVG entstanden sind, sofern das dort vermittelte Wissen für die Betriebsratsarbeit erforderlich ist (st. Rspr., so BAG 8. März 2000 – 7 ABR 11/98BAGE 94, 42 = AP BetrVG 1972 § 40 Nr. 68 = EzA BetrVG 1972 § 40 Nr. 90, zu B 1 der Gründe). Dazu gehören neben den Schulungskosten, die ihrerseits Lehrgangsgebühren, Unterkunfts- und Verpflegungskosten umfassen, auch die Fahrtkosten, die dem einzelnen Betriebsratsmitglied auf Grund seiner Anreise zum Schulungsort entstehen (vgl. BAG 29. April 1998 – 7 ABR 42/97BAGE 88, 322 = AP BetrVG 1972 § 40 Nr. 58 = EzA BetrVG 1972 § 40 Nr. 82, zu B II 4 der Gründe bei Fahrtkosten aus Anlaß der Teilnahme an einer Gesamtbetriebsratssitzung und einer Betriebsräteversammlung). Nach § 37 Abs. 6 BetrVG ist die Vermittlung von Kenntnissen erforderlich, wenn sie unter Berücksichtigung der konkreten Verhältnisse im Betrieb und im Betriebsrat notwendig sind, damit der Betriebsrat seine gegenwärtigen oder in naher Zukunft anstehenden Aufgaben sach- und fachgerecht erfüllen kann. Dazu bedarf es der Darlegung eines aktuellen oder absehbaren betrieblichen oder betriebsratsbezogenen Anlasses, aus dem sich der Schulungsbedarf ergibt. Lediglich bei erstmals gewählten Betriebsratsmitgliedern ist auf eine nähere Darlegung der Schulungsbedürftigkeit zu verzichten, wenn es sich um die Vermittlung von Grundkenntnissen im Betriebsverfassungsrecht, im allgemeinen Arbeitsrecht oder im Bereich der Arbeitssicherheit und Unfallverhütung handelt (BAG 19. Juli 1995 – 7 ABR 49/94AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 110 = EzA BetrVG 1972 § 37 Nr. 126, zu B 2 b der Gründe mwN). Grundsätzlich ist die Erforderlichkeit für eine Schulungsveranstaltung einheitlich zu bewerten. Eine nur teilweise erforderliche Schulung für die Tätigkeit eines Betriebsratsmitglieds kommt nur dann in Betracht, wenn die unterschiedlichen Themen so klar voneinander abgegrenzt sind, daß ein zeitweiser Besuch der Schulungsveranstaltung möglich und sinnvoll ist. Ist eine Aufteilung der Schulungsveranstaltung und ein zeitweiser Besuch praktisch nicht möglich, entscheidet über die Erforderlichkeit der Gesamtschulung, ob die erforderlichen Themen mit mehr als 50 % überwiegen (BAG 28. Mai 1976 – 1 AZR 116/74AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 24 = EzA BetrVG 1972 § 37 Nr. 49, zu 3 a der Gründe).
[10] II. Der Antrag des Betriebsrats, ihn von der Inanspruchnahme durch das DGB-Bildungswerk freizustellen, ist bereits deswegen unbegründet, weil der Betriebsrat wegen der Schulungskosten bisher nicht in Anspruch genommen worden ist. Das DGB-Bildungswerk hat die im Antrag zu 1) bezeichneten Rechnungen vom 22. Juli 1999 lediglich dem Arbeitgeber übersandt. Dieser hat eine Begleichung der Rechnung unter dem 28. Juli 1999 abgelehnt. Ob und zu welchem Zeitpunkt das DGB-Bildungswerk daraufhin den Betriebsrat selbst wegen dieser Rechnungen in Anspruch genommen haben könnte, läßt sich weder der Antragsschrift noch dem übrigen Vorbringen des Betriebsrats im weiteren Verlauf des Beschlußverfahrens entnehmen. Feststellungen dazu hat das Landesarbeitsgericht nicht getroffen.
[11] III. Die Anträge des Betriebsrats und der Betriebsratsmitglieder sind vom Landesarbeitsgericht auch deshalb zu Recht zurückgewiesen worden, weil die Schulungsveranstaltung "Soziale Sicherung – Grundlagen" vom 11. bis 23. Juli 1999 keine Kenntnisse vermittelt hat, die für die Arbeit des Betriebsrats erforderlich waren.
[12] 1. Die Vermittlung allgemeiner Grundkenntnisse des Sozial- und Sozialversicherungsrechts ist ohne einen konkreten betriebsbezogenen Anlaß nicht erforderlich iSv. § 37 Abs. 6 BetrVG. Im Gegensatz zum allgemeinen Arbeitsrecht weist das Sozial- und Sozialversicherungsrecht keine engen Bezüge zu den Aufgaben des Betriebsrats nach dem Betriebsverfassungsrecht auf. Das Sozialversicherungsrecht regelt nicht das Verhältnis der Arbeitnehmer zum Arbeitgeber, sondern ihr Verhältnis zum Staat in Gestalt der Sozialversicherungsträger. Der Arbeitgeber hat die gesetzlich vorgesehenen Meldungen bei den Sozialversicherungsträgern vorzunehmen und die Sozialversicherungsbeiträge zutreffend zu berechnen und abzuführen. Zwar hat der Betriebsrat nach § 80 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG darüber zu wachen, daß die zugunsten der Arbeitnehmer geltenden Gesetze durchgeführt werden. Dazu gehören auch die vom Arbeitgeber zu beachtenden sozialversicherungsrechtlichen Abführungs- und Meldepflichten. Diese den Inhalt des Sozialversicherungsrechts nicht betreffende Überwachungsaufgabe rechtfertigt jedoch nicht ein zehntägiges Seminar zur Einführung in das allgemeine Sozialrecht und die damit verbundenen sozialpolitischen Fragestellungen. Außerdem läßt sich dem Programm des Seminars nicht entnehmen, ob die sozialversicherungsrechtlichen Abführungs- und Meldepflichten des Arbeitgebers überhaupt Gegenstand der Schulung waren. Durch das Sozialversicherungsrecht werden auch die Mitbestimmungsrechte des Betriebsrats allenfalls mittelbar beeinflußt. Das wird an dem Beispiel der Kurzarbeit besonders deutlich, das der Betriebsrat und seine beiden Mitglieder angesprochen haben. Für das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrats nach § 87 Abs. 1 Nr. 3 BetrVG ist es unerheblich, ob die Voraussetzungen für die Gewährung von Kurzarbeitergeld nach den §§ 169 ff. SGB III vorliegen. Denn die Zahlung von Kurzarbeitergeld durch die Arbeitsverwaltung ist unabhängig davon zu beurteilen, ob betriebsverfassungsrechtlich Kurzarbeit eingeführt werden kann.
[13] 2. Die Erforderlichkeit sozial- und sozialversicherungsrechtlicher Grundkenntnisse für die Arbeit des Betriebsrats kann nicht auf einen Beratungsbedarf der betriebsangehörigen Arbeitnehmer in sozialversicherungsrechtlichen Fragen gestützt werden. Nach dem Betriebsverfassungsgesetz gehört die Beratung von Arbeitnehmern in sozialversicherungsrechtlichen Fragen nicht zu den Aufgaben des Betriebsrats.
[14] 3. Der Betriebsrat und die beiden Betriebsratsmitglieder haben auch nicht darzulegen vermocht, auf Grund welcher aktuellen oder in naher Zukunft anstehenden Fragestellungen und Probleme die während der Schulungsveranstaltung vermittelten Kenntnisse für die sach- und fachgerechte Erfüllung der Betriebsratsaufgaben notwendig gewesen sein könnten. Soweit sie die Folgen von Aufhebungsverträgen und die Konsequenzen von Kündigungen in verschiedenen Betriebsteilen angesprochen haben, begründen die daraus resultierenden sozialrechtlichen Fragen nicht die Erforderlichkeit der Schulungsveranstaltung. Denn diese Maßnahmen sind bereits abgeschlossen. Die rein theoretische Möglichkeit, daß eine ähnliche Problematik in dem Betrieb wieder auftauchen kann, genügt für die Annahme der Erforderlichkeit nicht (vgl. BAG 9. Oktober 1973 – 1 ABR 6/73BAGE 25, 325 = AP BetrVG 1972 § 37 Nr. 4 = EzA BetrVG 1972 § 37 Nr. 14, zu III 1 der Gründe). An der fehlenden aktuellen Bedeutung scheitert auch die Erforderlichkeit der übrigen Kenntnisse, die im Verlauf der Schulungsveranstaltung vermittelt worden sind. Das gilt in erster Linie für die zu Beginn der Schulung behandelten Grundlagen und die Struktur der sozialen Sicherung, aber auch für die am sechsten und zehnten Tag bearbeiteten Themen der Arbeitsmarkt-, Beschäftigungs- und Alterssicherungspolitik. Bei diesen allgemein gehaltenen sozialpolitischen Themen fehlt jeder konkrete Bezug zu den Aufgaben des Betriebsrats. Auch die Kranken-, Pflege-, Unfall-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung, die am zweiten, dritten, vierten, fünften, siebten, achten und neunten Tag der Schulungsveranstaltung behandelt worden sind, mögen für die Mitglieder des Betriebsrats von Interesse gewesen sein. Den in diesen Bereichen vermittelten Kenntnissen fehlt jedoch jeder aktuelle Bezug zu den Aufgaben des Betriebsrats. Danach verbliebe auf Grund der aktuellen 15 Anträge auf Altersteilzeit als erforderlicher Teil der gesamten Schulungsveranstaltung ein nicht näher gekennzeichneter Zeitraum im Verlauf des Nachmittags des achten Tages, dessen Besuch allein allerdings nicht sinnvoll erscheint. Dieser Anteil erreicht bei weitem nicht die Grenze von 50 % und genügt somit nicht, um die Veranstaltung als erforderlich ansehen zu können.