Bundesverfassungsgericht

BVerfG, Beschluss vom 13. 5. 2003 – 2 BvR 517/03 (lexetius.com/2003,3809)

[1] In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Herrn K … gegen a) den Beschluss des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 24. Februar 2003 – III-3 Ws 40—43, 74/03 –, b) den Beschluss des Landgerichts Wuppertal vom 4. Dezember 2002 – 1 StVK 713—715/02 – und Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Andreas Kost, Königswall 28, 44137 Dortmund hat die 3. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Hassemer, die Richterin Osterloh und den Richter Mellinghoff gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 13. Mai 2003 einstimmig beschlossen:
[2] Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
[3] Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Andreas Kost, Königswall 28, 44137 Dortmund, wird abgelehnt.
[4] Gründe: Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Ablehnung der bedingten Entlassung des Beschwerdeführers aus der Strafhaft.
[5] 1. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen, weil ein Annahmegrund gemäß § 93a Abs. 2 BVerfGG nicht vorliegt. Die Verfassungsbeschwerde hat keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung; der verfassungsrechtliche Maßstab ist geklärt (vgl. BVerfGE 70, 297 [307 ff.]). Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der Rechte des Beschwerdeführers angezeigt, denn sie ist jedenfalls unbegründet.
[6] a) Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung des einfachen Rechts und seine Anwendung auf den einzelnen Fall sind allein Sache der dafür allgemein zuständigen Gerichte und der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. Nur bei einer Verletzung von spezifischem Verfassungsrecht durch die Gerichte kann das Bundesverfassungsgericht eingreifen (vgl. BVerfGE 18, 85 [92]; 95, 96 [128]; stRspr). Spezifisches Verfassungsrecht ist aber nicht schon dann verletzt, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist. Allgemein gilt, dass die Subsumtionsvorgänge innerhalb des einfachen Rechts so lange der Nachprüfung des Bundesverfassungsgerichts entzogen sind, als nicht Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Gewicht sind. Eine Grundrechtswidrigkeit liegt dagegen nicht vor, wenn die Anwendung einfachen Rechts durch den hierzu zuständigen Richter zu einem Ergebnis geführt hat, über dessen "Richtigkeit" sich streiten lässt. Dieser Maßstab gilt auch für die Entscheidung über die Strafrestaussetzung zur Bewährung (vgl. Beschlüsse der 2. Kammer des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1997 – 2 BvR 517/97 –; vom 17. Juni 1999 – 2 BvR 867/99 –, StV 1999, S. 548 [549], und vom 24. Oktober 1999 – 2 BvR 1538/99 –, StV 2000, S. 265 f.).
[7] Danach sind die angegriffenen Entscheidungen nicht zu beanstanden. Bedeutung und Tragweite des Freiheitsrechts des Beschwerdeführers (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) und seines Rechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) wurden darin nicht verkannt. Für objektive Willkür bei den Entscheidungen, die gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstieße, ist nichts ersichtlich.
[8] Den Prognoseentscheidungen liegt zu Grunde, dass der Beschwerdeführer in den drei zu vollstreckenden Urteilen wegen 99 Straftaten verurteilt wurde. Die Gerichte haben nachvollziehbar aus der Rückfallgeschwindigkeit und der Steigerung vom einfachen Diebstahl zum schweren Bandendiebstahl, ferner aus einem Bewährungsbruch und dem Missbrauch früherer Vollzugslockerungen zur Begehung von Straftaten auf die Wahrscheinlichkeit künftiger Taten geschlossen. Dass in jüngerer Zeit ein beanstandungsfreies Verhalten des Beschwerdeführers im Strafvollzug vorgelegen hat, wurde ebenso wenig übersehen wie die Herzerkrankung des Beschwerdeführers. Dies wurde von den Fachgerichten nur im Ergebnis anders gewertet als der Beschwerdeführer es wünscht. Darin liegt noch keine Verletzung von Verfassungsrecht.
[9] Die Tatzeiten der abgeurteilten Delikte sind vom Beschwerdeführer nicht mitgeteilt worden. Da die jüngste Verurteilung aus dem Jahre 1998 stammt, kann jedenfalls nicht festgestellt werden, dass der Negativprognose nur solche Straftaten zugrunde gelegt wurden, denen infolge eines längeren Zeitablaufs keine Aussagekraft für eine aktuelle Rückfallwahrscheinlichkeit mehr zukommt.
[10] Eine erhebliche Gesundheitsbeeinträchtigung wegen Herzinfarkten in der Haft betrifft vor allem die in einem gesonderten Verfahren zu prüfende Frage der Haftfähigkeit. Die Fachgerichte haben erläutert, warum dies hier nicht für die vollstreckungsrechtliche Prognose künftiger Straftaten von Bedeutung sei. Dagegen ist von Verfassungs wegen nichts zu erinnern, wenngleich mit fortschreitender Haftdauer die gesundheitliche Beeinträchtigung zunehmendes Gewicht erlangt und bei künftigen Entscheidungen verstärkt zu beachten sein wird. Auf die strafmildernde Berücksichtigung der Gesundheitsbeeinträchtigung im Urteil des Landgerichts Bochum kam es für die angegriffenen Entscheidungen nicht an.
[11] Aus einer Abweichung von einem Präjudiz können sich bei einer Prognoseentscheidung im Einzelfall erhöhte Begründungsanforderungen für eine neue nachteilige Entscheidung ergeben. Jedoch wirkt sich dies hier nicht aus. Zunächst ist eine Divergenz nicht substantiiert dargelegt worden, da das Urteil des Landgerichts Bochum nicht mitgeteilt wurde (§§ 23 Abs. 1 Satz 2, 92 BVerfGG). Sodann ist die Wertung des Oberlandesgerichts in der angegriffenen Beschwerdeentscheidung nachvollziehbar, dass die Prognoseentscheidungen nach § 66 Abs. 1 Nr. 3 und § 57 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB verschieden seien. Sie haben materiell-rechtlich verschiedene Anknüpfungspunkte und erfolgen zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Insoweit kann das Vollstreckungsgericht nicht an Feststellungen und Wertungen des Gerichts im früheren Erkenntnisverfahren gebunden sein. Soweit sich der Beschwerdeführer auf eine innerprozessuale Bindungswirkung des Strafurteils für die vollstreckungsrechtliche Entscheidung beruft, könnte dies nur gleichartige Entscheidungsfaktoren in Entscheidungen zu derselben Sache über dieselbe Sanktion, nämlich etwa die Anordnung der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (§ 66 StGB) einerseits und die Entscheidung über die Erforderlichkeit der weiteren Vollziehung derselben Maßregel (§ 67c StGB) im Anschluss an die Strafvollstreckung andererseits, betreffen. Zwischen der hier erfolgten Ablehnung der Anordnung der Sicherungsmaßregel im Urteil des Landgerichts Bochum aus dem Jahre 1998 und den angegriffenen Entscheidungen über die Frage der Strafrestaussetzung zur Bewährung aus den Jahren 2002 und 2003 besteht nicht derselbe Zusammenhang. Insoweit hat das Oberlandesgericht eine innerprozessuale Bindungswirkung innerhalb des Erkenntnis- und Vollstreckungsverfahrens wegen derselben Sache nachvollziehbar verneint.
[12] b) Aus dem Anspruch auf ein faires Verfahren folgt im Grundsatz die Aufklärungspflicht der Gerichte in Verfahren mit Offizialmaxime, die auch beim Freibeweis zu beachten ist (vgl. BVerfGE 70, 297 [309]). Das Freibeweisverfahren ist kein Verfahren nach Gutdünken. Die Aufklärungspflicht betrifft aber nur entscheidungserhebliche Umstände und die sich dafür aufdrängenden Beweiserhebungen. Sie wurde im Ausgangsverfahren nicht verletzt.
[13] Kam es für die angegriffenen Entscheidungen auf Einzelheiten der medizinischen Befundlage nicht an, weil nach ihrer Sicht auch ein Herzinfarkt den Beschwerdeführer nicht von späteren Straftaten abgehalten hatte und weitere Infarkte, die er inzwischen erlitten hat, der Negativprognose nicht zwingend entgegen stehen, dann bedurfte die genaue gesundheitliche Situation keiner weiteren Aufklärung mittels Sachverständigenbeweises.
[14] Geht es um eine Prognoseentscheidung, bei der geistige und seelische Anomalien in Frage stehen, so besteht in der Regel die Pflicht, einen erfahrenen Sachverständigen hinzuzuziehen (BVerfGE 70, 297 [309]). Ist ein solcher Befund nicht angezeigt, so besitzt das Gericht dagegen regelmäßig genügend eigene Sachkunde für eine kriminalprognostische Bewertung, wenn nicht besondere Umstände des Einzelfalls eine Ausnahme von dieser Regel begründen. Im Ausgangsverfahren lagen keine psychodiagnostischen Befunde vor, die Anlass zur Einholung des Gutachtens eines psychologischen oder psychiatrischen Sachverständigen gegeben hätten. Daran ändern die ausschnittweise mitgeteilten Äußerungen des psychologischen Dienstes der Rehabilitationsklinik nichts. Diese psychologische Betreuung betraf, soweit ersichtlich, die Lage des Beschwerdeführers im Rahmen der stationären Krankenhausbehandlung eines weiteren Herzinfarkts, für die die Haft unterbrochen wurde. Aus den Mitteilungen des psychologischen Dienstes ergibt sich die dort gezeigte Bereitschaft des Beschwerdeführers, seine Lebenslage situationsbedingt zu überdenken. Ein darüber hinausreichender psychodiagnostischer Befund, der die Aufklärungspflicht der Vollstreckungsgerichte zur Erhebung weiteren Sachverständigenbeweises hätte auslösen können (vgl. BVerfGE 70, 297 [309]), ist dort nicht genannt worden.
[15] 2. Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung des Rechtsanwalts Kost aus Dortmund ist mangels ausreichender Erfolgsaussichten der Verfassungsbeschwerde entsprechend § 114 ZPO abzulehnen.
[16] Diese Entscheidung ist unanfechtbar.