Zum Fortsetzungsfeststellungsinteresse für das verwaltungsgerichtliche Hauptsacheverfahren in versammlungsrechtlichen Streitigkeiten

BVerfG, Mitteilung vom 13. 5. 2004 – 49/04 (lexetius.com/2004,1057)

[1] Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Grundgesetz gewährt einen Anspruch auf Rechtsschutz in der Hauptsache und nicht nur auf Rechtsschutz im Eilverfahren. Dies hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts auf eine Verfassungsbeschwerde (Vb) entschieden, die das Verbot einer Versammlung betraf. Die entgegenstehenden Entscheidungen des Verwaltungsgerichts (VG) Frankfurt und des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs (VGH) wurden aufgehoben, weil sie den Beschwerdeführer (Bf) in seinem Grundrecht aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 des Grundgesetzes verletzen. Die Sache wird an das VG zurückverwiesen.
[2] Zum Sachverhalt des Ausgangsverfahrens: Im April 2001 sollte in F. eine Demonstration unter dem Thema "Herren im eigenen Land statt Knechte der Fremden" stattfinden. Die Stadt verbot die Demonstration und ordnete die sofortige Vollziehung der Verbotsverfügung an. Antragsgemäß stellte das VG die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wieder her, allerdings unter Auflagen, die den örtlichen Verlauf des Aufzugs, das Mitführen von Fahnen und Trommeln, das Skandieren von Parolen, das Tragen gleichartiger Kleidungsstücke, das Verbot von Äußerungen mit aggressiver Ausländerfeindlichkeit und solcher, die gegen einschlägige Strafbestimmungen verstoßen, betrafen. Der VGH lehnte im Beschwerdeverfahren den Antrag auf Gewährung von vorläufigem Rechtsschutz ab. Die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts stellte im einstweiligen Rechtsschutzverfahren die aufschiebende Wirkung nach Maßgabe der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung wieder her. Die Versammlung fand zum vorgesehenen Zeitpunkt statt.
[3] Die vom Bf erhobene auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit der Verbotsverfügung gerichtete Fortsetzungsfeststellungsklage hielt das VG mangels Rechtsschutzinteresses für unzulässig. Wiederholungsgefahr sei nicht gegeben. Außerdem könne bei einem erneuten Rechtsverstoß vorläufiger Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte in Anspruch genommen werden. Auch vor dem VGH blieb der Bf ohne Erfolg. Mit seiner Vb rügt er insbesondere eine Verletzung von Art. 8 und Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG.
[4] In den Gründen der Entscheidung heißt es:
[5] Das Grundrecht auf effektiven Rechtsschutz gewährleistet wirksamen und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. Der Rechtssuchende muss allerdings ein schutzwürdiges Interesse bei der Verfolgung eines subjektiven Rechts haben. Dies ist der Fall, wenn das gerichtliche Verfahren dazu dienen kann, eine gegenwärtige Beschwer auszuräumen, einer Wiederholungsgefahr zu begegnen oder eine fortwirkende Beeinträchtigung zu beseitigen. Das Gericht kann ferner in Fällen gewichtiger Grundrechtseingriffe auch in sonstigen Fällen angerufen werden, sofern Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren in dem dafür verfügbaren Zeitraum typischerweise nicht erreichbar war.
[6] Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG gewährt einen Anspruch auf Rechtsschutz in der Hauptsache und nicht nur auf Rechtsschutz im Eilverfahren. Der Rechtsschutz im Hauptsacheverfahren wird durch das Eilverfahren grundsätzlich nicht überflüssig. Unterschiede bestehen in verfahrensrechtlicher und materiellrechtlicher Hinsicht. Im Bereich des Versammlungsrechts führt der Sofortvollzug behördlicher Maßnahmen in der Regel zur endgültigen Verhinderung der Versammlung in der beabsichtigten Weise. Deshalb muss das verwaltungsgerichtliche Eilverfahren hier zum Teil Schutzfunktionen übernehmen, die sonst das Hauptsacheverfahren erfüllt. Dennoch bleibt es in der Sache im Grundsatz stets bei einer nur vorläufigen Überprüfung der behördlichen Entscheidung, die ohne umfassende Sachaufklärung von Amts wegen und ohne abschließende Rechtsprüfung erfolgt.
[7] Für die Beurteilung des Rechtsschutzinteresses bei einer Fortsetzungsfeststellungsklage in versammlungsrechtlichen Verfahren sind die Besonderheiten der Versammlungsfreiheit zu berücksichtigen. Ein Rechtsschutzinteresse liegt stets vor, wenn die angegriffene Maßnahme die Versammlungsfreiheit schwer beeinträchtigt, wenn also die Grundrechtsausübung durch ein Versammlungsverbot tatsächlich unterbunden oder die Versammlung aufgelöst worden ist. Nachträglicher Rechtsschutz ist ebenso zu gewähren, wenn die Versammlung zwar durchgeführt werden konnte, aber in Folge von Auflagen nur in einer Weise, die ihren spezifischen Charakter verändert, insbesondere die Verwirklichung ihres kommunikativen Anliegens wesentlich erschwert hat. Kein Fortsetzungsfeststellungsinteresse ist dagegen gegeben, wenn die Abweichungen bloße Modalitäten der Versammlungsdurchführung betroffen haben und den Versammlungszweck nicht gefährden. Bei Wiederholungsgefahr besteht ein Fortsetzungsfeststellungsinteresse stets, also auch, wenn die Versammlung auf Grund des Eilverfahrens durchgeführt werden konnte. Voraussetzung ist, dass die Möglichkeit einer erneuten Durchführung einer vergleichbaren Versammlung besteht und die Behörde auch zukünftig an ihrer Rechtsauffassung festhalten wird. Der Veranstalter kann nicht stattdessen auf zukünftigen Eilrechtsschutz verwiesen werden. Andernfalls würde Rechtsschutz stets nur vorläufig und mit Unsicherheit für die Behandlung zukünftiger Fälle erlangt. Dies wäre dem Freiheitsrecht des Art. 8 GG abträglich.
[8] Mit diesen verfassungsrechtlichen Maßstäben sind die angegriffenen Entscheidungen nicht vereinbar. Der Bf will auch künftig rechtsextremistische Demonstrationen durchführen. Die Beklagte des Ausgangsverfahrens hält ausdrücklich an ihrer Rechtsauffassung fest.
BVerfG, Beschluss vom 3. 3. 2004 – 1 BvR 461/03