Bundesgerichtshof
BGB § 823
Bestehen bei einer Zwillingsschwangerschaft für Mutter oder Kind im Falle eines Zuwartens erhebliche Risiken, so ist über die Alternative einer primären Schnittentbindung aufzuklären.

BGH, Urteil vom 14. 9. 2004 – VI ZR 186/03 (lexetius.com/2004,2314)

[1] Der VI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. September 2004 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Müller, die Richter Dr. Greiner und Wellner, die Richterin Diederichsen und den Richter Stöhr für Recht erkannt:
[2] Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des 4. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Bamberg vom 26. Mai 2003 aufgehoben und das Urteil des Landgerichts Würzburg vom 5. Oktober 2000 abgeändert.
[3] Der Anspruch der Klägerin auf Zahlung eines Schmerzensgeldes ist gegen den Beklagten zu 2) dem Grunde nach gerechtfertigt.
[4] Es wird festgestellt, daß die Beklagten zu 1) und 2) gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin allen materiellen Schaden zu ersetzen, der ihr im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit Ersatzansprüche nicht auf Sozialversicherungsträger oder sonstige Dritte übergegangen sind.
[5] In diesem Umfang werden die Berufungen der Beklagten zurückgewiesen.
[6] Die Sache wird zur Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes an das Berufungsgericht zurückverwiesen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden hat.
[7] Tatbestand: Die Mutter der Klägerin wurde am 14. Juni 1991 wegen grenzwertiger Hypertonie und der Risiken bei EPH-Gestose und einer Zwillingsschwangerschaft stationär in die Universitäts – Frauenklinik, deren Träger der Beklagte zu 2) ist, aufgenommen. Sie schloß mit dem Beklagten zu 1) einen Behandlungsvertrag als Privatpatientin. Der errechnete Entbindungstermin war der 8. Juli 1991.
[8] Die Mutter der Klägerin war bei einem Gespräch am 24. Juni 1991 (38. Schwangerschaftswoche) mit einem "zunächst expektativen Vorgehen" einverstanden. Am 3. Juli 1991 wurde sie nach mehreren CTG-Ableitungen um 19. 45 Uhr in den Kreißsaal gebracht. Ab 21. 00 Uhr zeigte sich bei einer Ultraschalluntersuchung kaum Fruchtwasser, die Herzfrequenz des einen (rechten) Zwillings war nicht darstellbar. Um 21. 30 Uhr entschloß sich der geburtsleitende Arzt zur Schnittentbindung. Die Klägerin wurde als erster Zwilling aus der Beckenendlage um 21. 58 Uhr lebend, der zweite (rechte) ebenfalls weibliche Zwilling um 21. 59 Uhr tot mit Leichenflecken geboren. Bei der Klägerin besteht infolge der erlittenen Asphyxie und Anämie eine schwere zerebrale Bewegungsstörung, sie ist fast blind und leidet an einer schlecht behandelbaren Epilepsie und einer globalen mentalen Entwicklungsverzögerung. Sie erlitt ein Hirnödem mit Hirnsubstanzverlust und ist infolge ihrer Mehrfachbehinderung schwer pflegebedürftig. Als Todesursache für den tot geborenen zweiten Zwilling wurde ein intrauteriner Fruchttod bei Asphyxie festgestellt mit Verdacht auf feto-fetale Transfusion. Die Klägerin nimmt den Beklagten zu 2) auf Zahlung von Schmerzensgeld und beide Beklagte auf Feststellung ihrer materiellen Schadensersatzpflicht in Anspruch.
[9] Das Landgericht hat den Beklagten zu 2) verurteilt, an die Klägerin ein Schmerzensgeld von 300.000 DM zu zahlen; ferner hat es die gesamtschuldnerische Ersatzpflicht der Beklagten für allen materiellen Schaden festgestellt, der der Klägerin im Zusammenhang mit ihrer Geburt entstanden ist und entstehen wird, soweit Ersatzansprüche nicht auf Dritte übergegangen sind. Hiergegen haben die Beklagten Berufung und die Klägerin Anschlußberufung wegen einer Erhöhung des Schmerzensgeldes eingelegt. Das Oberlandesgericht hat die Klage insgesamt abgewiesen. Mit der vom erkennenden Senat zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihr Klagebegehren weiter.
[10] Entscheidungsgründe: I. Das Berufungsgericht führt in dem angefochtenen Urteil aus:
[11] Die den Beklagten vorgeworfenen Fehler seien weitgehend nicht bewiesen; soweit ein Fehler vorliegen könnte, lasse sich jedenfalls seine Ursächlichkeit für den Gesundheitsschaden der Klägerin nicht feststellen. Eine Beweislastumkehr unter dem Gesichtspunkt eines groben Behandlungsfehlers komme nicht in Betracht. Soweit der Privatgutachter Prof. Dr. Re. eine Schwangerschaftsbeendigung durch eine primäre Schnittentbindung in der 38. Schwangerschaftswoche unter Hinweis auf die drohende Plazentainsuffizienz gefordert habe, könne eine solche nach den Ausführungen des Gerichtssachverständigen bis zum Nachmittag/Abend des 3. Juli 1991 ausgeschlossen werden. Zudem könne das Unterlassen einer primären Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38. Schwangerschaftswoche und führendem ersten Zwilling in Beckenendlage nicht eo ipso als Behandlungsfehler gewertet werden.
[12] Bei dem Vorwurf der unterlassenen Aufklärung der Mutter der Klägerin über die Vor- und Nachteile einer Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens nach Aufnahme in die stationäre Behandlung handele es sich nicht um eine Einwilligungsaufklärung, sondern um eine "Selbstbestimmungsaufklärung (therapeutische Aufklärung)". Diese sei Teil der Behandlung; ein Verstoß gegen sie stelle deshalb einen Behandlungsfehler, nicht aber eine Aufklärungspflichtverletzung dar. Einen solchen Verstoß habe die Klägerin nicht bewiesen. Insoweit stünden sich die Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin als Partei gegenüber, ohne daß der Senat die Richtigkeit der einen oder anderen Version bejahen könne.
[13] II. Das Berufungsurteil hält den Angriffen der Revision nicht stand.
[14] 1. Ersichtlich geht das Berufungsgericht davon aus, daß die Mutter der Klägerin spätestens bei dem Gespräch am 24. Juni 1991 über die Vor- und Nachteile einer primären Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens hätte aufgeklärt werden müssen. Dieser rechtliche Ansatz wird von den Beklagten nicht in Zweifel gezogen. Er entspricht auch der Rechtsprechung des erkennenden Senats.
[15] Hiernach ist eine Unterrichtung über eine alternative Behandlungsmöglichkeit erforderlich, wenn für eine medizinisch sinnvolle und indizierte Therapie mehrere gleichwertige Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, die zu jeweils unterschiedlichen Belastungen des Patienten führen oder unterschiedliche Risiken und Erfolgschancen bieten (vgl. Senatsurteile BGHZ 102, 17, 22; 144, 1, 10; vom 21. November 1995 – VI ZR 329/94VersR 1996, 233). Gemäß diesem allgemeinen Grundsatz braucht der geburtsleitende Arzt zwar in einer normalen Entbindungssituation, bei der die Möglichkeit einer Schnittentbindung medizinisch nicht indiziert und deshalb keine echte Alternative zur vaginalen Geburt ist, ohne besondere Veranlassung die Möglichkeit einer Schnittentbindung nicht zur Sprache bringen. Anders liegt es aber, wenn für den Fall, daß die Geburt vaginal erfolgt, für das Kind ernstzunehmende Gefahren drohen, daher im Interesse des Kindes gewichtige Gründe für eine Schnittentbindung sprechen und diese unter Berücksichtigung auch der Konstitution und der Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative darstellt (vgl. Senatsurteile BGHZ 106, 153, 157; vom 16. Februar 1993 – VI ZR 300/91VersR 1993, 703, 704; vom 19. Januar 1993 – VI ZR 60/92VersR 1993, 835, 836). Dabei macht es keinen Unterschied, ob die Risiken für die Mutter oder das Kind entstehen, weil die Mutter die natürliche Sachwalterin der Belange auch des Kindes ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 106, 153, 157 f.).
[16] Hierzu verweist die Revision auf die Ausführungen des Gerichtssachverständigen, wonach eine primäre Schnittentbindung als echte Alternative in Betracht gekommen ist. Zudem ergibt sich aus dem Berufungsurteil, daß der Gerichtssachverständige in einer solchen Situation eine primäre Schnittentbindung als den zu bevorzugenden Modus angesehen hat. Das Unterlassen einer Schnittentbindung bei Zwillingsgravidität in der 38. Schwangerschaftswoche und führendem ersten Zwilling in Beckenendlage hat das Berufungsgericht nur deswegen nicht "eo ipso" als Behandlungsfehler gewertet, weil damit nicht gegen eindeutig festgelegte Behandlungskriterien verstoßen worden sei. Unter diesen Umständen ist gegen die Beurteilung des Berufungsgerichts, daß eine Aufklärung über die Behandlungsalternative erfolgen mußte, aus revisionsrechtlicher Sicht nichts einzuwenden.
[17] 2. Entgegen der Auffassung der Revisionserwiderung ist auch nicht zu beanstanden, daß das Berufungsgericht keine Überzeugung gewinnen konnte, ob eine Aufklärung erfolgt ist. Dessen auf einer sorgfältigen Abwägung der Aussagen des Zeugen Prof. Dr. R. und der Mutter der Klägerin beruhende Beweiswürdigung läßt keine revisionsrechtlich relevanten Fehler erkennen. Zwar dürfen an den Beweis der ordnungsgemäßen Aufklärung keine übertriebenen und unbilligen Anforderungen gestellt werden. Solche lassen sich aber nicht daraus ableiten, daß das Berufungsgericht nicht der Aussage des Zeugen Prof. Dr. R. den Vorzug gegenüber der detaillierten Darstellung der Mutter der Klägerin gegeben hat, zumal dieser nur pauschal erklärt hat, es sei Usus gewesen, die Patientinnen entsprechend dem Inhalt der mündlichen Erläuterung des Sachverständigen zu informieren. Unter diesen Umständen läßt die Wertung des Tatsachengerichts im konkreten Fall Rechtsfehler nicht erkennen.
[18] 3. Mit Recht rügt jedoch die Revision, daß das Berufungsgericht hinsichtlich der Frage, ob die gebotene Aufklärung erfolgte, die Beweislast verkannt hat.
[19] Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts handelt es sich nicht um einen Fall der sog. Sicherheits- oder therapeutischen Aufklärung, also der ärztlichen Beratung über ein therapierichtiges Verhalten zur Sicherstellung des Behandlungserfolgs und zur Vermeidung möglicher Selbstgefährdungen des Patienten. In diesem Bereich wären ärztliche Versäumnisse allerdings als Behandlungsfehler anzusehen, so daß sie den von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Regeln folgen und die Klägerin – wie vom Berufungsgericht angenommen – beweisen müßte, daß die gebotene Aufklärung unterblieben ist oder unzureichend war (vgl. dazu Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, 4. Aufl. 2001, Rdn. B 95 ff.; Steffen/Dressler, Arzthaftungsrecht, 9. Aufl. 2002, Rdn. 325, 574 ff.). Bei der im Streitfall maßgebenden Frage einer Aufklärung über eine primäre Schnittentbindung als Behandlungsalternative zu der durchgeführten zunächst abwartenden Behandlung handelt es sich jedoch um einen Fall der sog. Eingriffs- oder Risikoaufklärung, die der Unterrichtung des Patienten über das Risiko des beabsichtigten ärztlichen Vorgehens dient, damit dieser sein Selbstbestimmungsrecht ausüben kann. Die Beweislast für die Erfüllung dieser Aufklärungspflicht liegt beim Arzt (vgl. Senatsurteile vom 22. Mai 2001 – VI ZR 268/00VersR 2002, 120, 121; vom 29. September 1998 – VI ZR 268/97VersR 1999, 190, 191; vom 12. November 1991 – VI ZR 369/90VersR 1992, 237, 238; vom 8. Januar 1985 – VI ZR 15/83VersR 1985, 361, 362; vom 21. September 1982 – VI ZR 302/80VersR 1982, 1193, 1194).
[20] 4. Auf dieser Verkennung der Beweislast beruht das angefochtene Urteil. Das Berufungsgericht konnte sich aufgrund der Beweisaufnahme keine Überzeugung bilden, ob die Angaben des Zeugen Prof. Dr. R. oder die der Mutter der Klägerin hinsichtlich einer erfolgten Aufklärung über die Vor- und Nachteile einer Schnittentbindung bzw. eines abwartenden Verhaltens zutreffen. Das ergibt sich entgegen der Auffassung der Revisionsbeklagten eindeutig aus der abschließenden Beweiswürdigung in den Gründen des angefochtenen Urteils. Als Folge dieses "non liquet" ist nach den oben dargelegten Grundsätzen davon auszugehen, daß die erforderliche Aufklärung über die Behandlungsalternative nicht erfolgt ist.
[21] Soweit die Beklagten einwenden, eine Verletzung der Aufklärungspflicht sei für die Schädigung der Klägerin nicht kausal geworden, kann dem nicht gefolgt werden, ohne daß es hierzu noch tatsächlicher Feststellungen bedarf. Die Beklagten gehen selbst davon aus, daß die Schädigung der Klägerin erst am 3. Juli 1991 erfolgt sei. Das steht in Einklang mit den Ausführungen des Gerichtssachverständigen. Danach ist der rechte Zwilling nämlich erst in den späten Nachmittagsstunden des 3. Juli 1991 verstorben, wobei die Klägerin höchstwahrscheinlich erst nach dem Tod des rechten Zwillings geschädigt worden sei. Hierzu verweist die Revision auf die Aussage des Sachverständigen, man könne mit Sicherheit sagen, daß eine Schnittentbindung noch am 3. Juli 1991 gegen etwa 16. 00 Uhr "das schwere Leid von den Kindern genommen hätte". Zu diesem Zeitpunkt hätte jedoch die erforderliche Aufklärung längst erfolgt sein müssen.
[22] Erfolglos machen die Beklagten geltend, daß die Aufklärung erst am 3. Juli 1991 geboten gewesen sei. Wie eingangs dargelegt, nimmt das Berufungsgericht an, daß die Aufklärung bereits am 24. Juni 1991 erfolgen mußte, bevor die Entscheidung für ein "zunächst expektatives Vorgehen" getroffen wurde. Das erweist sich unter den Umständen des Streitfalls als zutreffend und entspricht der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats. Hiernach muß die Aufklärung so rechtzeitig erfolgen, daß der Patient, hier die Mutter der Klägerin, durch hinreichende Abwägung der für und gegen die Behandlungsalternativen sprechenden Gründe seine Entscheidungsfreiheit und damit sein Selbstbestimmungsrecht in angemessener Weise wahren kann (vgl. Senatsurteile vom 23. März 2003 – VI ZR 131/02VersR 2003, 1441, 1443; vom 17. März 1998 – VI ZR 74/97VersR 1998, 766, 767; vom 4. April 1995 – VI ZR 95/94VersR 1995, 1055, 1056 f.; vom 14. Juni 1994 – VI ZR 178/93VersR 1994, 1235, 1236; vom 7. April 1992 – VI ZR 192/91VersR 1992, 960 f.).
[23] 5. Im Hinblick auf die vorstehenden Ausführungen kommt es auf die weiteren Rügen der Revision und insbesondere auf das Vorliegen eines ursächlichen Behandlungsfehlers nicht mehr an. Schon wegen des oben dargestellten Aufklärungsfehlers haftet nämlich der Beklagte zu 2) hinsichtlich des geltend gemachten Schmerzensgeldanspruchs dem Grunde nach und haften beide Beklagten hinsichtlich des Feststellungsanspruchs als Gesamtschuldner für den Schaden der Klägerin.
[24] III. Bei dieser Sachlage kann der erkennende Senat über den Grund des Schmerzensgeldanspruchs und über den Feststellungsantrag entscheiden. Eine abschließende Entscheidung über die Höhe des Schmerzensgeldes kommt hingegen nicht in Betracht, weil das Berufungsgericht – aus seiner Sicht folgerichtig – keine Feststellungen zur Höhe und insbesondere zur Anschlußberufung der Klägerin getroffen hat. Insoweit ist die Sache daher an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.