Erweiterter Verfall mit dem Grundgesetz vereinbar

BVerfG, Mitteilung vom 29. 4. 2004 – 46/04 (lexetius.com/2004,603)

[1] Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts hat die Verfassungsbeschwerde (Vb) eines Beschwerdeführers (Bf) zurückgewiesen, der sich gegen die strafgerichtliche Anordnung des erweiterten Verfalls eines Sparguthabens gemäß § 73d Strafgesetzbuch (StGB) zur Wehr setzte. § 73d StGB ist in der Auslegung des Bundesgerichtshofs mit dem Grundgesetz vereinbar.
[2] 1. Zum rechtlichen Hintergrund und Sachverhalt des Ausgangsverfahrens: Durch das Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der Organisierten Kriminalität vom 15. Juli 1992 wurde die Vorschrift über den erweiterten Verfall (§ 73d StGB) in das Strafgesetzbuch eingefügt. Sie ergänzt die Regelung des § 73 StGB über den einfachen Verfall. Nach dieser Bestimmung ordnet das Strafgericht, wenn der Täter oder Teilnehmer etwas aus einer rechtswidrigen Tat oder für sie erlangt hat, den Verfall des Erlangten an. Die rechtskräftige Anordnung des Verfalls bewirkt gemäß § 73e StGB, dass das Eigentum an der Sache oder das verfallene Recht auf den Staat übergeht. Nach § 73d StGB ist, wenn eine rechtswidrige Tat nach einem auf die Vorschrift verweisenden Gesetz begangen worden ist, der Verfall von Gegenständen des Täters oder Teilnehmers auch dann anzuordnen, wenn die Umstände die Annahme rechtfertigen, dass diese Gegenstände für (andere) rechtswidrige Taten oder aus ihnen erlangt worden sind. Das Landgericht (LG) verurteilte den Bf wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren und ordnete den erweiterten Verfall eines Sparguthabens des Bf in Höhe von 42.520,18 DM an. Das LG war überzeugt, das Geld stamme aus anderen, ihm nicht bekannten Rauschgiftgeschäften des Bf. Der vom Bf angerufene Bundesgerichtshof (BGH) legte § 73d StGB verfassungskonform einengend aus: Der Tatrichter dürfe den erweiterten Verfall eines Gegenstands nur dann anordnen, wenn er uneingeschränkt davon überzeugt sei, dass der Angeklagte diesen deliktisch erlangt habe. Feststellungen über konkrete Herkunftstaten seien hierzu nicht erforderlich; insgesamt dürfe der Herkunftsnachweis nicht überspannt werden. Die Entscheidung des LG genüge diesen Anforderungen. Mit seiner Vb wendet sich der Bf gegen die im Ausgangsverfahren ergangenen Entscheidungen und mittelbar gegen § 73d StGB. Der erweiterte Verfall sei eine Strafe. Die in § 73d StGB vorgesehene Beweiserleichterung verstoße gegen den Schuldgrundsatz, gegen die Unschuldsvermutung und gegen Art. 14 GG.
[3] 2. In den Gründen der Entscheidung heißt es:
[4] Die nur teilweise zulässige Vb bleibt ohne Erfolg.
[5] a) Der in Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG sowie im Rechtsstaatsprinzip verankerte Grundsatz "Keine Strafe ohne Schuld" gebietet, dass Strafen oder strafähnliche Sanktionen in einem gerechten Verhältnis zur Schwere der Tat und zum Verschulden des Täters stehen. Strafe ist die Auferlegung eines Rechtsnachteils wegen einer schuldhaft begangenen rechtswidrigen Tat. Dem Schuldgrundsatz unterliegen auch Rechtsfolgen, die wie eine Strafe wirken. Faktische Nachteile genügen hierfür jedoch nicht. Maßgebend für die strafähnliche Wirkung einer Maßnahme sind wertende Kriterien, insbesondere der Rechtsgrund der Anordnung und der vom Gesetzgeber mit ihr verfolgte Zweck.
[6] Eine an Wortlaut, Systematik und Entstehungsgeschichte des § 73d StGB orientierte Auslegung ergibt, dass die in der Vorschrift angeordnete Entziehung deliktisch erlangter Vermögensvorteile nicht repressiv- vergeltende, sondern präventiv-ordnende Ziele verfolgt. Der Gesetzgeber sieht in der Gewinnabschöpfung nicht die Zufügung eines Übels, sondern die Beseitigung eines Vorteils, dessen Verbleib den Täter zu weiteren Taten verlocken könnte. Der erweiterte Verfall soll eine strafrechtswidrig zustandegekommene Vermögenszuordnung für die Zukunft beseitigen und verhindern, dass die mit der deliktischen Bereicherung des Täters verbundene Störung der Rechtsordnung fortdauert. Zwar knüpft § 73d StGB an vergangenheitsbezogene Voraussetzungen an; seine Zielsetzung ist aber – wie die anderer präventiver Maßnahmen der Störungsbeseitigung – zukunftsbezogen. Mit dem vermögensordnenden Zugriff will der Gesetzgeber zugleich Anreize für gewinnorientierte Delikte vermindern; er will verdeutlichen, dass deliktische Bereicherungen nicht geduldet werden und Straftaten sich nicht lohnen.
[7] Dieses generalpräventive Ziel entspricht einem alle Rechtsgebiete übergreifenden Grundsatz, wonach eine mit der Rechtsordnung nicht übereinstimmende Vermögenslage auszugleichen ist. Es verleiht dem erweiterten Verfall keinen pönalen Charakter. Die Entziehung deliktisch erlangten Vermögens ist nicht Ausdruck vergeltender, sondern ordnender Gerechtigkeit. Auch mit der Einführung des Bruttoprinzips (Abschöpfung des Taterlöses ohne Abzug für die Tat geleisteter Aufwendungen) hat der Gesetzgeber keine Strafzwecke verfolgt, sondern eine im zivilrechtlichen Bereicherungsrecht vorgefundene Risikozuweisung auf das Verfallrecht übertragen. Danach verdient nur der gutgläubige Bereicherungsschuldner Schutz vor Vermögenseinbußen, während der bösgläubige das Risiko wirtschaftlicher Verluste selbst zu tragen hat.
[8] b) § 73d StGB ist mit der Unschuldsvermutung vereinbar. Die Anordnung des erweiterten Verfalls setzt die Feststellung von Schuld nicht voraus und ist daher von Gesetzes wegen nicht mit einer gerichtlichen Schuldzuweisung verbunden.
[9] c) Die Regelung des erweiterten Verfalls verstößt in der Auslegung des Bundesgerichtshofs auch nicht gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG.
[10] Soweit § 73d StGB den Zugriff auf Vermögenswerte erlaubt, die dem Betroffenen – wie etwa Gewinne aus illegalen Drogengeschäften – wegen eines Verstoßes gegen strafrechtliche Vorschriften zivilrechtlich nicht zustehen, ist dessen Eigentumsgrundrecht nicht berührt. Soweit die Vorschrift die Entziehung von Gegenständen anordnet, die der Betroffene zwar deliktisch, aber gleichwohl zivilrechtlich wirksam erworben hat, enthält sie eine Inhalts- und Schrankenbestimmung des Eigentums im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG. Diese ist in der Auslegung des BGH verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Sie wahrt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und ist auch sonst mit dem Grundgesetz vereinbar. Der Gesetzgeber verfolgt mit der strafrechtlichen Gewinnabschöpfung legitime gesetzgeberische Ziele. § 73d StGB kann die Erreichung dieser Ziele fördern. Ein milderes, aber gleich wirksames Mittel ist nicht ersichtlich. Dies gilt auch für die Erstreckung des erweiterten Verfalls auf die vom Täter anstelle des ursprünglichen Tatgewinns oder -entgelts erworbenen Surrogate und für die in § 73d Abs. 2 i. V. m. § 73a StGB angeordnete Wertersatzpflicht; ohne sie könnte der Täter die Gewinnabschöpfung unterlaufen. Der staatliche Zugriff auf deliktisch erlangte Vermögenswerte ist einem Tatbeteiligten grundsätzlich zumutbar.
[11] Unbillige Härten sind durch eine Anwendung der gesetzlich vorgesehenen Härtefallklausel zu vermeiden. Eine Beeinträchtigung legal erworbener Vermögenspositionen ist nach der Auslegung des § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB durch den BGH nicht zu besorgen. Die von einem Tatbeteiligten für deliktische Zwecke freiwillig aufgegebene Vermögensposition, etwa das von einem Käufer als Kaufpreis für Drogen gezahlte Geld, verdient keinen verfassungsrechtlichen Schutz.
[12] Anordnungen des erweiterten Verfalls können jedoch vermögenswerte Rechtspositionen tatgeschädigter Dritter beeinträchtigen. Denn anders als beim einfachen Verfall hat der Gesetzgeber beim erweiterten Verfall Schadensersatzansprüchen von Tatopfern keinen Vorrang vor der strafrechtlichen Gewinnabschöpfung eingeräumt. Nachdem der erweiterte Verfall auf zahlreiche Delikte, auch auf Vermögensstraftaten wie Bandendiebstahl und -hehlerei, erstreckt wurde, ist eine solche Beeinträchtigung von Eigentumsrechten und Ersatzansprüchen Tatverletzter wahrscheinlicher geworden. Der Gesetzgeber hat deshalb zu prüfen, ob die Rechte Tatgeschädigter beim erweiterten Verfall nach der Ausdehnung seines Anwendungsbereichs noch hinreichend gewahrt sind. § 73d Abs. 1 Satz 1 StGB ist in der Auslegung des BGH hinreichend bestimmt. Diese Auslegung macht eine Anordnung des erweiterten Verfalls für den Täter klar vorhersehbar; sie schränkt auch die im Rechtsstaatsprinzip verankerte Selbstbelastungsfreiheit des Angeklagten nicht ein. In der Auslegung des BGH entfaltet § 73d StGB keine Rückwirkung.
[13] Die Regelung des erweiterten Verfalls beschränkt die erleichterte Abschöpfung von Deliktsgewinnen auf bestimmte, dem "Organisierten Verbrechen" zugerechnete Tätergruppen. Die abweichende Behandlung dieser Tätergruppen ist durch besondere Beweisschwierigkeiten und durch die vom Gesetzgeber mit § 73d StGB verfolgten Gewinnabschöpfungsziele sachlich hinreichend gerechtfertigt und verstößt daher nicht gegen das Gleichbehandlungsgebot.
[14] Das angegriffene Urteil des LG genügt den vom BGH aufgestellten Beweismaßanforderungen.
BVerfG, Beschluss vom 14. 1. 2004 – 2 BvR 564/95