Bundesverwaltungsgericht
Lösung von Strafurteil; Anforderungen an einen "Deal" (Verfahrensabsprache, Urteilsabsprache).
GG Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3; WDO § 84 Abs. 1 Satz 1 und 2
1. Erhebliche und damit für einen Lösungsbeschluss gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO ausreichende Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen liegen dann vor, wenn der Soldat die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Vorwürfe dezidiert bestreitet und geltend macht, dem strafgerichtlichen Urteil liege ein "Deal" (Urteilsabsprache) zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung zugrunde, der den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Verfahrensabsprache nicht genüge.
2. Zu den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Verfahrensabsprache, wie sie sich aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein faires rechtsstaatliches Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ergeben.

BVerwG, Urteil vom 14. 3. 2007 – 2 WD 3.06; TDG Süd (lexetius.com/2007,1636)

[1] Der Soldat, ein Hauptfeldwebel, wurde durch das Amtsgericht – Schöffengericht – K. am 23. Dezember 2004, rechtskräftig seit demselben Tage, wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung gemäß §§ 223, 224 Abs. 1 Nr. 2 und 4, § 25 Abs. 2, § 56 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von elf Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Das Truppendienstgericht hatte keine Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils, sah deshalb keinen Anlass, sich von dessen Feststellungen gemäß § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO zu lösen und setzte den Soldaten wegen eines Dienstvergehens in den Dienstgrad eines Oberfeldwebels herab. Auf die Berufung des Soldaten hob der Senat das Urteil des Truppendienstgerichts auf und sprach den Soldaten frei.
Aus den Gründen: …
[2] 25 Die tatsächlichen Feststellungen des sachgleichen rechtskräftigen Strafurteils des Amtsgerichts K. vom 23. Dezember 2003 waren für den Senat nicht bindend, da er deren Nachprüfung nach § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO einstimmig beschlossen hat. Nach ständiger Rechtsprechung des Senats (Urteile vom 12. Februar 2003 BVerwG 2 WD 8.02 BVerwGE 117, 371 = Buchholz 236. 1 § 7 SG Nr. 48 = NZWehrr 2003, 214, vom 28. April 2005 BVerwG 2 WD 25.04 und vom 13. Juni 2006 BVerwG 2 WD 1.06 -) ist die Lösung von den tatsächlichen Feststellungen eines sachgleichen rechtskräftigen strafgerichtlichen Urteils auf Fälle beschränkt, in denen das Wehrdienstgericht sonst gezwungen wäre, auf der Grundlage offenkundig unzureichender oder inzwischen als unzutreffend erkannter Feststellungen zu entscheiden. Erhebliche und damit für einen Lösungsbeschluss ausreichende Zweifel an der Richtigkeit der strafgerichtlichen Feststellungen liegen jedenfalls dann vor, wenn die strafgerichtlichen Feststellungen in sich widersprüchlich oder sonst unschlüssig sind, im Widerspruch zu den Denkgesetzen oder allgemeinen Erfahrungssätzen stehen oder aus sonstigen – vergleichbar gewichtigen – Gründen offenkundig unzureichend sind. Offenkundig unzureichend in diesem Sinne sind strafgerichtliche Feststellungen dann, wenn sie in einem entscheidungserheblichen Punkt unter offenkundiger Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften zustande gekommen sind oder wenn entscheidungserhebliche neue Beweismittel vorgelegt werden, die dem Strafgericht noch nicht zur Verfügung standen oder wenn die im strafgerichtlichen Urteil vorgenommene Beweiswürdigung ausweislich der Urteilsgründe nicht nachvollziehbar ist (Urteil vom 12. Februar 2003 a. a. O.).
[3] 26 Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils des Amtsgerichts K. vom 23. Dezember 2004 ergeben sich hier im Hinblick auf eine offenkundige Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften deshalb, weil der Soldat die Richtigkeit der gegen ihn erhobenen Vorwürfe ungeachtet der rechtskräftigen strafgerichtlichen Feststellungen dezidiert bestritten und geltend gemacht hat, dem strafgerichtlichen Urteil liege ein "Deal" (Urteilsabsprache) zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und damaliger Verteidigung zugrunde, der den rechtsstaatlichen Anforderungen an eine Verfahrensabsprache, wie sie sich aus dem verfassungsrechtlichen Anspruch auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren nach Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG und der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes ergeben, nicht genüge. Konkrete Anhaltspunkte für die Richtigkeit dieses Vorbringens ergeben sich aus dem Protokoll der Hauptverhandlung vor dem Strafgericht und aus dem Text des strafgerichtlichen Urteils.
[4] 27 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes (vgl. u. a. Urteil des 4. Strafsenats vom 28. August 1997 – 4 StR 240/97BGHSt 43, 195) bestehen folgende Mindestbedingungen für die Zulässigkeit einer "Verständigung" bzw. "Urteilsabsprache" ("Deal") zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft, Verteidigung und Angeklagtem in einem Strafverfahren:
(1) keine Absprache über den Schuldspruch;
(2) das Geständnis muss vom Gericht auf seine Glaubwürdigkeit überprüft werden;
(3) alle Verfahrensbeteiligten sind einzubeziehen; nicht zulässig ist insbesondere eine Absprache ohne Beteiligung des Angeklagten oder auch unter Ausschluss der Schöffen;
(4) das Ergebnis der Absprache ist, da es sich um einen wesentlichen Verfahrensvorgang handelt, im Protokoll über die Hauptverhandlung festzuhalten;
(5) bei Abweichungen von der Absprache müssen die gebotenen Grenzen eingehalten werden: nachträgliches Bekanntwerden neuer schwerwiegender Umstände zu Lasten des Angeklagten; Korrektur eines Rechts- oder Tatsachenirrtums; die beabsichtigte Abweichung ist in der Hauptverhandlung mitzuteilen;
(6) die gemäß der Urteilsabsprache verhängte Strafe muss schuldangemessen sein;
(7) es ist unzulässig, im Rahmen einer Urteilsabsprache einen gesetzlich nicht vorgesehenen Vorteil in Aussicht zu stellen oder eine überhöhte Strafe anzudrohen, um den Angeklagten zum Geständnis zu drängen;
(8) die Vereinbarung eines Rechtsmittelverzichts ist unzulässig.
[5] 29 Diese Grundsätze sind der Sache nach vom Großen Senat des Bundesgerichtshofes in Strafsachen in der Entscheidung vom 3. März 2005 – GSSt 1/04BGHSt 50, 40 ff. bestätigt, konkretisiert und ergänzt worden:
- Das Gericht darf "nicht vorschnell auf eine Urteilsabsprache ausweichen, ohne zuvor pflichtgemäß die Anklage tatsächlich anhand der Akten und insbesondere auch rechtlich überprüft zu haben".
- Das bei einer Urteilsabsprache in der Regel abgelegte Geständnis muss vom Gericht auf seine Zuverlässigkeit überprüft werden. Das Gericht muss von seiner Richtigkeit überzeugt sein. Dazu muss das selbstbelastende, keinen besonderen Zweifeln im Einzelfall unterliegende Geständnis wenigstens so konkret sein, dass geprüft werden kann, ob es derart im Einklang mit der Aktenlage steht, dass sich hiernach keine weitergehende Sachaufklärung aufdrängt. Ein bloßes inhaltsleeres Formalgeständnis reicht hingegen nicht aus.
- Die Urteilsabsprache darf nicht unter dem Deckmantel der Unkontrollierbarkeit stattfinden, ihr Inhalt muss auch für das Revisionsgericht überprüfbar sein.
- Das Gericht darf sich nicht aktiv an Gesprächen beteiligen, soweit diese – über die Urteilsabsprache hinaus – auch einen etwaigen Rechtsmittelverzicht zum Gegenstand haben.
- Der Verzicht auf die Einlegung eines Rechtsmittels, der nach einer unzulässig zustande gekommenen Urteilsabsprache erklärt wurde, ist unwirksam. Dieses Verdikt der Unwirksamkeit des Rechtsmittelverzichts entfällt dann, wenn dem Rechtsmittelberechtigten über die Freiheit, unbeschadet der Absprache Rechtsmittel einlegen zu können, eine von der eigentlichen Rechtsmittelbelehrung abgehobene, qualifizierte Belehrung erteilt worden ist.
- Bei jeder Urteilsabsprache – mit Gesprächen über den Rechtsmittelverzicht oder auch ohne diese, mit oder ohne Aufnahme in das Hauptverhandlungsprotokoll – ist dem Betroffenen, der nach § 35a Satz 1 StPO über ein Rechtsmittel zu belehren ist, über die hier unverzichtbare Rechtsmittelbelehrung hinaus stets auch eine qualifizierte Belehrung über seine fortbestehende Rechtsmittelbefugnis zu erteilen. Diese ist als wesentliche Förmlichkeit zu protokollieren (§ 273 Abs. 1 StPO) und nimmt an der Beweiskraft des Protokolls nach § 274 StPO teil.
[6] 30 Im vorliegenden Fall ergeben sich Anhaltspunkte für eine vor dem Amtsgericht K. erfolgte "Urteilsabsprache" ("Deal"), die diesen Anforderungen nicht genügte, nicht nur aus dem Vorbringen des Verteidigers, sondern auch aus dem aus dem Hauptverhandlungsprotokoll ersichtlichen Verfahrensablauf: keine Vernehmung des Soldaten (damals Angeklagter zu 5.) zur Sache, lediglich pauschale (Formal)" Geständnisse" sämtlicher Angeklagten durch ihre Verteidiger, übereinstimmende Anträge der Staatsanwaltschaft, pauschalierende Begründung im Urteil. Diese "Verfahrensabsprache" ("Deal") zwischen Gericht, Staatsanwaltschaft und Verteidigung, auf der das strafgerichtliche Urteil tatsächlich beruht, ist nicht in das Protokoll der Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht K. aufgenommen worden. Es ist auch nicht ersichtlich, dass der Wahrheitsgehalt des Formalgeständnisses des Soldaten und der anderen Angeklagten vom Gericht hinreichend überprüft wurde. Angesichts der sich daraus ergebenden Zweifel an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des Strafurteils des Amtsgerichts K. hat der Senat daher einen Lösungsbeschluss nach § 84 Abs. 1 Satz 2 WDO gefasst. …
[7] 35 Auf der Grundlage der durchgeführten Beweisaufnahme und der vorgenommenen Gesamtwürdigung der Beweismittel hat der Senat nicht die erforderliche Gewissheit gewinnen können, dass dem Soldaten das ihm in der Anschuldigungsschrift zur Last gelegte Verhalten nachzuweisen war. …
[8] 37 Die Anschuldigung, die die tatsächlichen Feststellungen des rechtskräftigen Strafurteils des Amtsgerichts K. vom 23. Dezember 2004 zugrunde legte, hatte, wie sich auch aus dem Ermittlungsergebnis der Anschuldigungsschrift ergibt, dem Soldaten vorgeworfen, als Mittäter der an Herrn H. begangenen gemeinschaftlichen gefährlichen Körperverletzung beteiligt gewesen zu sein und im Vorfeld der Tat "neben drei anderen zugesagt zu haben, den V. zum Übergabeort verdeckt zu begleiten, um dem H. eine 'Abreibung' zu verpassen"; ferner war dem Soldaten zum Tatvorwurf gemacht worden, "mit drei anderen" die Verstecke verlassen zu haben und dann "auf H." eingestürzt zu sein und ihn zusammengeschlagen zu haben. …