Bundesverwaltungsgericht
Laufbahn; Eignung; Verwaltungspraxis; Selbstbindung.
SLV § 40; GG Art. 3 Abs. 1
Eine durch ständige Verwaltungspraxis vorgenommene Ermessensbindung des Bundesministeriums der Verteidigung kann ohne Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG oder Vertrauensschutzaspekte für die Zukunft geändert werden, wenn dafür ein sachlicher Grund vorliegt.

BVerwG, Beschluss vom 26. 6. 2007 – 1 WB 12.07 (lexetius.com/2007,2398)

[1] Der Antragsteller wendet sich gegen die Aufhebung einer Zusage des Personalamtes der Bundeswehr, mit der ihm unter der Voraussetzung seiner uneingeschränkten körperlichen Eignung die Zulassung zu einer Offizierlaufbahn zum 1. Oktober 2006 angekündigt worden war. Der zuständige Truppenarzt stellte in der Folgezeit die "vorübergehend" fehlende gesundheitliche Eignung des Antragstellers fest. Der Antragsteller rügt, bis 2005 sei Bewerbern mit lediglich vorübergehend fehlender gesundheitlicher Eignung eine Neubegutachtung mit der Zulassungsmöglichkeit im Folgejahr eingeräumt worden.
[2] Das Bundesverwaltungsgericht hat den Bundesminister der Verteidigung zur Neubescheidung des Antrags auf Zulassung zu der Offizierlaufbahn verpflichtet.
[3] Aus den Gründen: …
[4] 23 Im Rahmen der Beurteilung der gesundheitlichen Eignung eines Soldaten für eine bestimmte Verwendung steht der zuständigen Stelle ein – gerichtlich nur eingeschränkt überprüfbarer – Beurteilungsspielraum zu (Beschlüsse vom 30. August 1995 BVerwG 1 WB 111.94 Buchholz 236. 1 § 10 SG Nr. 13, vom 21. Februar 2002 BVerwG 1 WB 73.01 und vom 24. Juni 2003 BVerwG 1 WB 5.03 -). Die gerichtliche Kontrolle beschränkt sich auf die Prüfung, ob die zuständige Stelle den anzuwendenden Begriff der Eignung oder den gesetzlichen Rahmen, in dem sie sich frei betätigen kann, verkannt hat, ob sie von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen ist, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachwidrige Erwägungen angestellt hat; ferner findet eine Überprüfung der Entscheidung auf Verfahrensfehler statt (vgl. Beschluss vom 24. Januar 2006 BVerwG 1 WB 9.05 Buchholz 449. 2 § 40 SLV 2002 Nr. 1).
[5] 24 Das Personalamt der Bundeswehr hat den ihm zustehenden Beurteilungsspielraum bei der Einschätzung eingehalten, dass der Antragsteller zum Stichtag 1. Oktober 2006 nicht über die erforderliche uneingeschränkte körperliche Eignung für die angestrebte Laufbahn der Offiziere des militärfachlichen Dienstes verfügt. Insbesondere ist der Entscheidung des Personalamtes der Bundeswehr nicht eine Verkennung des Begriffs der Eignung für die Offizierlaufbahn zu entnehmen. Es liegt in der militärisch-fachlichen Beurteilungskompetenz der zuständigen Stelle, die Eignungsanforderungen dahin abzugrenzen, dass Bewerbern um einen Laufbahnwechsel dieser Wechsel nur dann ermöglicht werden soll, wenn diese uneingeschränkt körperlich geeignet sind. Im Übrigen bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass das Personalamt der Bundeswehr oder der Bundesminister der Verteidigung insoweit für den Zeitpunkt 1. Oktober 2006 von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen wären, allgemeingültige Wertmaßstäbe nicht beachtet oder sachwidrige Erwägungen angestellt hätten. Auch ein Verstoß gegen Verfahrensvorschriften ist weder geltend gemacht noch ersichtlich. Vielmehr räumt der Antragsteller selbst ein, dass er zu dem vorbezeichneten Stichtag nicht über die in dem Zusagebescheid vom 9. Dezember 2005 geforderte uneingeschränkte körperliche Eignung verfügte.
[6] 25 Rechtsfehlerhaft ist jedoch die vom Personalamt der Bundeswehr getroffene Ermessensentscheidung, den Zusagebescheid vom 9. Dezember 2005 ohne Einschränkung aufzuheben und dem Antragsteller – angesichts der ihm lediglich "vorübergehend" fehlenden gesundheitlichen Eignung – nicht die Möglichkeit zu eröffnen, eine Neubegutachtung unter gleichzeitiger Verschiebung des Zulassungstermins um ein Jahr durchführen zu lassen.
[7] 26 Im Rahmen der Ermessensausübung liegt ein Ermessensfehlgebrauch vor, wenn die zuständige Stelle die ihr Ermessen bindenden bzw. regelnden Verwaltungsvorschriften oder eine ständige Verwaltungspraxis im Einzelfall unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht beachtet. Das ist hier der Fall.
[8] 27 Der Bundesminister der Verteidigung hat dargelegt, bis zum Auswahljahr 2005 habe die Verwaltungspraxis des Personalamtes der Bundeswehr bestanden, bei ausgewählten Bewerbern für die Zulassung zur Laufbahn der Offiziere des militärfachlichen Dienstes, die "vorübergehend gesundheitlich nicht geeignet" sind, den Zulassungszeitpunkt in das Folgejahr zu verschieben. Diese bisherige – ständige – Verwaltungspraxis im Sinne einer Selbstbindung des Personalamtes der Bundeswehr begegnet keinen rechtlichen Bedenken. Sie ist insbesondere vereinbar mit der Fürsorgepflicht nach § 10 Abs. 3 SG. Für den Senat ist auch keine – vor dem Hintergrund des Art. 3 Abs. 1 GG ungerechtfertigte "Verzerrung" des Bedarfs im jeweiligen Folgejahr zu erkennen. Denn nach Nr. 5 i. V. m. Nr. 9 der Richtlinie für die Auswahl von Feldwebeln für die Zulassung zur Laufbahn der Offiziere des militärfachlichen Dienstes – PSZ I 1 – 16—05—12/16 – vom 23. Juli 2002 erfolgt die Bedarfsdeckung in der Laufbahn der Offiziere des militärfachlichen Dienstes für die einzelnen Geburtsjahrgänge "schrittweise über – mehrere Kalenderjahre"; diese – ebenfalls ermessensbindende – Bestimmung ermöglicht damit dem Personalamt der Bundeswehr eine flexible Bedarfsdeckung ohne Fixierung auf ein einziges konkretes Auswahljahr.
[9] 28 Der vom Bundesminister der Verteidigung betonte Aspekt einer "nicht gerechtfertigten Privilegierung" von Bewerbern, die die allgemeine Zulassungsvoraussetzung uneingeschränkter körperlicher Eignung zum vorgesehen Zulassungszeitpunkt nicht erfüllten, begründet nicht die Rechtswidrigkeit der bis 2005 geübten ständigen Verwaltungspraxis. Diese "Privilegierung" wäre unter Berücksichtigung des Gleichbehandlungsgrundsatzes nur dann zu beanstanden, wenn sie sich zu Lasten von Bewerbern mit uneingeschränkter körperlicher Eignung in der Weise ausgewirkt hätte, dass diese zum vorgesehenen Zulassungszeitpunkt nicht zugelassen worden wären. Für eine derartige Annahme ist der Stellungnahme des Bundesministers der Verteidigung wie auch dem Vorbringen des Antragstellers nichts zu entnehmen.
[10] 29 Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann eine durch Verwaltungsvorschriften vorgenommene Ermessensbindung jederzeit aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft geändert werden (Urteile vom 8. April 1997 BVerwG 3 C 6.95 BVerwGE 104, 220 [223] und vom 11. Mai 2006 BVerwG 5 C 10.05 BVerwGE 126, 33 [51]; vgl. auch Beschluss vom 20. Juli 1995 BVerwG 1 WB 82.94 -). In gleicher Weise kann eine Ermessensbindung in Gestalt einer rein tatsächlichen Verwaltungspraxis – ohne Verstoß gegen Vertrauensschutzaspekte – aus sachgerechten Erwägungen für die Zukunft geändert werden, auch wenn die Betroffenen gegenüber der bisherigen Praxis benachteiligt werden (Urteile vom 28. August 1986 BVerwG 2 C 5.84 Buchholz 232 § 23 BBG Nr. 29 und vom 5. November 1998 BVerwG 2 A 3.98 Buchholz 232 § 79 BBG Nr. 116; Beschluss vom 7. April 2000 BVerwG 2 B 21.00 juris Rn. 2; vgl. ferner Beschluss vom 10. November 1993 BVerwG 1 WB 22.93 -).
[11] 30 Obwohl der Antragsteller schon in seiner Beschwerdebegründung auf den "Berufungsfall" des Hauptfeldwebels W. hingewiesen hat, ist die Darlegung eines sachlichen Grundes für die Änderung der bis 2005 geübten ständigen Verwaltungspraxis im Verlauf des Wehrbeschwerdeverfahrens unterblieben. Insbesondere ist dem Hinweis des Bundesministers der Verteidigung auf die Förderung eines engen zeitlichen Zusammenhangs zwischen dem Zulassungszeitpunkt und dem Beginn der militärfachlichen Ausbildung zum Offizier des militärfachlichen Dienstes – jedenfalls nach der konkreten Umsetzung dieses Ziels – ein derartiger sachlicher Grund nicht zu entnehmen. Dieser nach Darstellung des Bundesministers der Verteidigung generell – d. h. für alle Bewerber – geltende Aspekt rechtfertigt nicht, warum – nach wie vor – bei fehlenden Bildungsvoraussetzungen nach Nr. 801 ZDv 20/7 der Zulassungszeitpunkt nach Nr. 11 der zitierten Auswahlrichtlinie verschoben werden kann, obwohl mit der Nachholung des erforderlichen Bildungsstandes häufig ein wesentlich späterer Beginn der militärfachlichen Ausbildung der Bewerber in Kauf genommen wird, während Bewerber, die nur "vorübergehend gesundheitlich nicht geeignet" sind, einen derartigen Zeitverlust größeren Umfangs in der Regel nicht verursachen.
[12] 31 In Ermangelung eines – konsequent umgesetzten – sachlichen Grundes für die Änderung der bis 2005 geübten ständigen Verwaltungspraxis hat der Antragsteller Anspruch auf Neubescheidung seines Zulassungsantrages unter Berücksichtigung dieser früheren Verwaltungspraxis. Die Neubescheidung hat die im Bescheid des Personalamtes der Bundeswehr vom 9. Dezember 2005 mitgeteilte positive Auswahlentscheidung der Auswahlkonferenz zugrunde zu legen und über die aktuelle gesundheitliche Eignung des Antragstellers für die angestrebte Laufbahn neu zu entscheiden. …