Bundesgerichtshof

BGH, Beschluss vom 25. 5. 2011 – IV ZR 191/09; OLG Saarbrücken (lexetius.com/2011,2887)

[1] Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofes hat durch die Vorsitzende Richterin Dr. Kessal-Wulf, die Richter Wendt, Felsch, Lehmann und die Richterin Dr. Brockmöller am 25. Mai 2011 beschlossen:
[2] Der Senat beabsichtigt, die Revision der Klägerin gegen das Urteil des 5. Zivilsenats des Saarländischen Oberlandesgerichts vom 9. September 2009 gemäß § 552a ZPO zurückzuweisen.
[3] Die Parteien erhalten Gelegenheit, hierzu binnen eines Monats Stellung zu nehmen.
[4] Gründe: I. Die Klägerin fordert als Bezugsberechtigte einer von ihrem Ehemann im November 2003 für die Dauer von fünf Jahren abgeschlossenen Risikolebensversicherung die Todesfallleistung in Höhe von 100.000 €.
[5] Der Versicherungsnehmer starb am 21. November 2007 an den Folgen eines metastasierenden Melanoms. Er hatte bei Antragstellung im Oktober 2003 die jeweils auf die letzten fünf Jahre vor Antragstellung zielenden Gesundheitsfragen Nr. 7 (nach Krankheiten, Störungen und Beschwerden) und Nr. 8 (nach Untersuchungen, Beratungen, Behandlungen und Operationen) falsch beantwortet, indem er zwar einen – auf lange Sicht folgenlosen – Fahrradsturz angegeben, sonstige Erkrankungen oder Behandlungen aber verneint und damit eine seit 1996 bestehende, dauerhaft mit Immunsuppressiva behandelte Erkrankung an Morbus Crohn verschwiegen hatte. Der Versicherungsnehmer hatte bei Antragstellung ferner nachfolgende "Schlusserklärung des Antragstellers und der zu versichernden Person" unterzeichnet:
"[…] Ich ermächtige [die Beklagte] zur Nachprüfung und Verwertung der von mir über meine Gesundheitsverhältnisse gemachten Angaben alle Ärzte, Krankenhäuser und sonstigen Krankenanstalten sowie Pflegeeinrichtungen, bei denen ich in Behandlung oder Pflege war oder sein werde, […] über meine Gesundheitsverhältnisse bei Vertragsabschluss zu befragen.
Dies gilt für die Zeit vor der Antragsannahme und die nächsten drei Jahre […] nach der Antragsannahme. Die [Beklagte] darf auch die Ärzte, die die Todesursachen feststellen, die Ärzte die mich im letzten Jahr vor meinem Tode untersuchen oder behandeln werden, sowie Behörden – mit Ausnahme von Sozialversicherungsträgern – über die Todesursachen oder die Krankheiten, die zum Tode geführt haben, befragen. […]"
[6] Die Morbus-Crohn-Erkrankung hatte unstreitig nicht zum Tode geführt. Die Beklagte stieß erstmals darauf, nachdem sie die zuletzt behandelnde Ärztin mittels eines Vordrucks um ein "Ärztliches Zeugnis im Todesfall" ersucht und die Ärztin im Rahmen der darin verlangten "Ausführlichen Anamnese" auch Erkenntnisse über (im Vordruck ausdrücklich erfragte) frühere Krankheiten des Verstorbenen mitgeteilt hatte.
[7] Mit Schreiben vom 19. Februar 2008 erklärte die Beklagte die Anfechtung ihrer Vertragsannahme wegen arglistiger Täuschung und lehnte die beantragte Versicherungsleistung ab.
[8] Das Landgericht hat diese Anfechtung durchgreifen lassen und die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen und die Revision zugelassen, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt.
[9] II. Die Voraussetzungen für die Zulassung der Revision i. S. von § 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO liegen nicht vor. Das Rechtsmittel hat auch keine Aussicht auf Erfolg.
[10] 1. Soweit der Fall grundsätzliche Fragen zu den Rechtsfolgen einer ohne ausreichende Ermittlungsermächtigung und Schweigepflichtentbindung gewonnenen Kenntnis des Personenversicherers über vom Versicherungsnehmer bei Vertragsschluss verschwiegene Vorerkrankungen berührt, sind diese durch das Senatsurteil vom 28. Oktober 2009 (IV ZR 140/08, VersR 2010, 97) hinreichend geklärt.
[11] a) Sachlich-rechtlich geht es darum, ob der Versicherer infolge einer Datenerhebung ohne ausreichende Rechtsgrundlage nach § 242 BGB gehindert ist, sich auf die Ergebnisse seiner Ermittlungen zu berufen und insbesondere von dem Gestaltungsrecht der Arglistanfechtung nach § 123 BGB Gebrauch zu machen (Senat aaO Rn. 19—21). Dafür spielt es keine Rolle, ob diese Ermittlungsergebnisse des Versicherers im Rechtsstreit noch streitig sind. Vielmehr ist – auch im Falle unstreitig verschwiegener Vorerkrankungen – allein zu klären, ob ihre Verwendung sich bei der Ausübung von Gestaltungsrechten wie Rücktritt oder Anfechtung als unzulässige Rechtsausübung darstellt, wobei der Einwand aus § 242 BGB keine Einrede, sondern einen von Amts wegen zu beachtenden Umstand darstellt (vgl. dazu BGH, Urteile vom 12. Juli 1951 – III ZR 168/50, BGHZ 3, 94, 103, 104; 23. Mai 1962 – V ZR 123/60, BGHZ 37, 147, 152; Palandt/Grüneberg, BGB 70. Aufl. § 242 Rn. 15).
[12] Dabei führt nicht jedes rechts- oder pflichtwidrige Verhalten stets oder auch nur regelmäßig zur Unzulässigkeit der Ausübung der hierdurch erlangten Rechtsstellung. Insbesondere wenn sich ein zielgerichtet treuwidriges Verhalten nicht feststellen lässt, muss durch eine umfassende Abwägung der maßgeblichen Umstände des Einzelfalles entschieden werden, ob und inwieweit einem Beteiligten die Ausübung einer Rechtsposition verwehrt sein soll. Dies muss umso mehr gelten, wenn beiden Seiten ein Rechtsverstoß zur Last fällt (vgl. Senat aaO m. w. N.).
[13] b) Übertragen auf den hier gegebenen Fall bedeutet dies:
[14] aa) Das Berufungsgericht hat die oben zitierte "Schlusserklärung" ohne Rechtsfehler dahin ausgelegt, dass ihr eine Befugnis des Versicherers, noch nach Ablauf des Monats Oktober 2006 Ärzte zu Erkrankungen des Versicherungsnehmers aus der Zeit bei Vertragsschluss (1. November 2003) zu befragen, nicht entnommen werden kann und auch keine korrespondierende Schweigepflichtsentbindung vorlag. Spätere Befragungen durften nur noch auf todesursächliche Erkrankungen zielen. Der der zuletzt behandelnden Ärztin Anfang 2008 zugesandte Fragebogen für das "Ärztliche Zeugnis im Todesfall" steht mit dem Verlangen nach einer "ausführlichen Anamnese" dazu im Widerspruch. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die Ärztin auf anderer Grundlage befragt worden wäre.
[15] bb) Wenngleich demnach die zeitlich begrenzte Ermittlungsermächtigung mit Schweigepflichtsentbindung für sich genommen nicht zu beanstanden wäre, stellt sie deshalb keine tragfähige Grundlage für die Ermittlungen des Versicherers dar, weil die ihm gesetzten zeitlichen Grenzen hier überschritten wurden. Das wirft ebenso wie die Verwendung einer zu weiten Ermittlungsermächtigung mit Schweigepflichtsentbindung die vorgenannten materiell-rechtlichen Fragen auf. Sie sind ebenfalls nach den Maßstäben der Senatsentscheidung vom 28. Oktober 2009 (aaO) zu beantworten.
[16] c) Dass das Verhalten der Beklagten hier darauf gerichtet war, die Voraussetzungen für die Arglistanfechtung, d. h. das Wissen um eine verschwiegene Vorerkrankung des Versicherungsnehmers unter gezielter Umgehung der zeitlichen Beschränkungen der Schlusserklärung treuwidrig zu erlangen, hat die Klägerin in den Vorinstanzen nicht vorgetragen.
[17] Auch die Revision führt dazu nichts aus.
[18] Es kommt hinzu, dass das Berufungsgericht zu Recht annimmt, die Schlusserklärung habe keinen bindenden Verzicht der Beklagten auf we itere Ermittlungen zu Vorerkrankungen des Versicherungsnehmers enthalten. Die Beklagte hatte infolge des von ihr im Versicherungsvertrag übernommenen Risikos ein anerkennenswertes Interesse daran, risikorelevante Vorerkrankungen des Versicherungsnehmers offen gelegt zu bekommen (Senatsurteil vom 28. Oktober 2009 aaO Rn. 24). Selbst wenn das Recht auf informationelle Selbstbestimmung und die damit verbundene Befugnis, Schweigepflichtsentbindungen zu erklären, als höchstpersönliche Rechte nicht im Wege der Universalsukzession auf die Erben übergehen (Senatsbeschluss vom 4. Juli 1984 – IVa ZB 18/83, BGHZ 91, 392, 399) und die Beklagte damit nach dem Tode des Versicherungsnehmers keine Möglichkeit mehr hatte, weitergehende Schweigepflichtsentbindungen zu erlangen, hätte sie jedenfalls zu Lebzeiten des Vers i12 cherungsnehmers das Wissen um die Morbus-Crohn-Erkrankung mittels einer weiteren Ermittlungsermächtigung und Schweigepflichtsentbindung noch rechtmäßig erlangen können. Mithin beschränkt sich ihr möglicher Rechtsverstoß darauf, ihr Wissen formell fehlerhaft erworben zu haben.
[19] d) Demgegenüber hat der Versicherungsnehmer seinerseits die Beklagte nach den insoweit rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen des Berufungsgerichts über einen risikoerheblichen Umstand, die Erkrankung an Morbus Crohn und die damit einhergehende Medikation, arglistig getäuscht. Zwar beanstandet die Revision, das Berufungsgericht habe keine tragfähigen Feststellungen zur Täuschungsabsicht des Vers icherungsnehmers getroffen. Insoweit versucht sie, die tatrichterliche Würdigung durch eine eigene, vermeintlich bessere zu ersetzen, ohne jedoch durchgreifende Rechtsfehler aufzuzeigen.
[20] e) Der Umstand, dass der Versicherungsnehmer vor Abschluss der Lebensversicherung an Morbus Crohn erkrankt und deshalb behandelt worden war, ist bei der Entscheidung zu berücksichtigen. Stellt – wie hier die Klägerin – eine Partei im Rechtsstreit diejenigen Tatsachen von vorn herein unstreitig, auf die der Gegner seine Arglistanfechtung stützt, indem sie sie selbst vorträgt, so lässt sich ein Verwertungsverbot für diese Tatsachen regelmäßig nicht begründen. Auf die vom Berufungsgericht weiter erwogenen prozessualen Fragen kommt es im Übrigen nicht mehr an.
[21] f) Insgesamt ergibt die Abwägung hier nicht, dass die Rechtsverletzung der Beklagten diejenige des Versicherungsnehmers hinsichtlich des verletzten Rechtsguts oder der Eingriffsintensität derart überwiegt, dass Treu und Glauben es gebieten, ihr die Arglistanfechtung als unzulässige Rechtsausübung zu versagen.
[22] 2. Das Vorbringen der Revisionsführerin zum Allgemeinen Gleichstellungsgesetz (AGG) deckt keinen entscheidungserheblichen Rechtsfehler und in Anbetracht der besonderen Fallumstände auch keinen Zulassungsgrund i. S. von § 543 Abs. 2 ZPO auf.
[23] a) Zweifel an der Anwendbarkeit des AGG ergeben sich hier bereits aus der Besonderheit, dass der Versicherungsfall, der ungeachtet der Arglistanfechtung des Versicherers ohnehin zur Beendigung des Versicherungsverhältnisses geführt hatte, bereits vor dem 22. Dezember 2007 eingetreten war, so dass eine Fortgeltung des Vertrages über diesen nach § 33 Abs. 4 AGG maßgeblichen Zeitpunkt hinaus nicht in Rede steht.
[24] b) Es bedarf allerdings keiner Entscheidung, ob das AGG hier Anwendung findet. Selbst wenn man dies unterstellt, wäre die Beklagte in ihrer von § 123 BGB geschützten rechtsgeschäftlichen Entschlussfreiheit durch die Täuschung des Versicherungsnehmers beeinträchtigt gewesen. Auch unter der Geltung des AGG obliegt es weiterhin der Prüfung des Versicherers, wie er eine Behinderung des Versicherungsnehmers bei Abschluss einer Personenversicherung mit Blick auf das Risiko bewertet. Ihm bleiben verschiedene Möglichkeiten der Vertragsgestaltung.
[25] Insbesondere darf er im Rahmen des § 20 Abs. 2 Satz 3 AGG prüfen, ob nach anerkannten Prinzipien risikoadäquater Kalkulation ein behinderungsbedingter Risikozuschlag erhoben oder der Vertragsschluss sogar ganz abgelehnt werden kann. Dieses Recht, Vorerkrankungen auf ihre Risikoerheblichkeit hin zu bewerten, das dem Versicherer auch unter Geltung des AGG eröffnet ist, hatte ihm die Täuschung des Versicherungsnehmers hier abgeschnitten. Dem Berufungsgericht ist deshalb darin zuzustimmen, dass nicht die Behinderung des Versicherungsnehmers als solche, sondern vielmehr seine Täuschung über die Behinderung den Anfechtungsgrund darstellt. Der Argumentation der Revision wäre nur zu folgen, wenn die Beklagte hier infolge eines Kontrahierungszwanges verpflichtet gewesen wäre, den Vertrag zu ganz bestimmten Bedingungen mit dem Antragsteller abzuschließen. Einen solchen Kontrahierungszwang begründet das AGG aber jedenfalls in den Fällen nicht, in denen der Versicherer unterschiedliche Möglichkeiten hat, bei der Vertragsgestaltung auf die Behinderung zu reagieren.
[26] III. Der Revisionszurückweisung steht nicht im Wege, dass die grundsätzliche Klärung entscheidungserheblicher Rechtsfragen (vgl. oben I. 1.) hier erst im Senatsurteil vom 28. Oktober 2009 (aaO) und mithin nach Erlass des Berufungsurteils erfolgt ist (vgl. dazu BGH, Beschluss vom 20. Januar 2005 – I ZR 255/02, NJW-RR 2005, 650 unter II 1).