Bundesgerichtshof

BGH, Beschluss vom 18. 6. 2013 – 4 StR 145/13 (lexetius.com/2013,2259)

Der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und der Beschwerdeführer am 18. Juni 2013 gemäß § 349 Abs. 2 und 4, § 357 Satz 1 StPO beschlossen:
1. Auf die Revisionen der Angeklagten B. und S. wird das Urteil des Landgerichts Stralsund vom 29. November
a) im Schuldspruch dahin geändert, dass die Angeklagten im Fall II. 2 der Urteilsgründe jeweils des besonders schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung schuldig sind;
b) mit den zugehörigen Feststellungen aufgehoben,
aa) soweit die Angeklagten und der Mitangeklagte Be. im Fall II. 1 der Urteilsgründe verurteilt worden sind,
bb) in den Gesamtstrafenaussprüchen gegen die Angeklagten und den Mitangeklagten Be.,
cc) im Maßregelausspruch gegen den Angeklagten S. und
dd) im Maßregelausspruch gegen den Angeklagten B. hinsichtlich der Anordnung der Sperre für die Erteilung einer Fahrerlaubnis und des Ausspruchs über die Dauer des Vorwegvollzugs.
2. Die weiter gehenden Revisionen der Angeklagten werden verworfen.
3. Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
[1] Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten B. wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr in Tateinheit mit vorsätzlichem Fahren ohne Fahrerlaubnis und wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Gleichzeitig hat es bestimmt, dass ein Jahr und sechs Monate der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Vollstreckung der Unterbringung zu vollziehen sind und dem Angeklagten vor Ablauf von zwölf Monaten keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden darf. Gegen den Angeklagten S. hat das Landgericht wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und wegen schweren Raubes in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung die Gesamtfreiheitsstrafe von sechs Jahren und drei Monaten verhängt, die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet und den Vorwegvollzug von einem Jahr, einem Monat und zwei Wochen der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Vollstreckung der Unterbringung festgesetzt. Den nicht revidierenden Mitangeklagten Be. hat es wegen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr und wegen gefährlicher Körperverletzung zu der Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt und gleichfalls seine Unterbringung in einer Entziehungsanstalt angeordnet. Mit ihren jeweils auf die Rüge der Verletzung formellen und materiellen Rechts gestützten Revisionen wenden sich die Angeklagten B. und S. gegen ihre Verurteilungen. Die Rechtsmittel führen auch hinsichtlich des Mitangeklagten Be. zu einer Aufhebung der Schuldsprüche im Fall II. 1 der Urteilsgründe sowie der Gesamtstrafen und haben hinsichtlich der Maßregelanordnungen den aus der Entscheidungsformel ersichtlichen Erfolg. Im Übrigen erweisen sich die Revisionen als unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO.
[2] 1. Die Überprüfung des angefochtenen Urteils aufgrund der Revisionsrechtfertigungen hat keine Rechtsfehler zum Nachteil der Angeklagten ergeben, soweit sie im Fall II. 2 der Urteilsgründe verurteilt worden sind. Mit der Schuldspruchänderung stellt der Senat klar, dass sich die Angeklagten durch die Raubtat jeweils eines besonders schweren Raubes schuldig gemacht haben. Die von der Strafkammer zutreffend angenommene Verwirklichung der Qualifikation des § 250 Abs. 2 Nr. 1 StGB ist in der Urteilsformel zum Ausdruck zu bringen (st. Rspr., vgl. BGH, Beschluss vom 3. September 2009 – 3 StR 297/09, NStZ 2010, 101 mwN).
[3] 2. Dagegen hält die Verurteilung der Angeklagten wegen vorsätzlichen gefährlichen Eingriffs in den Straßenverkehr im Fall II. 1 der Urteilsgründe einer rechtlichen Prüfung nicht stand. Die bisherigen Feststellungen ergeben nicht hinreichend, dass das Fahrverhalten des Angeklagten B. eine konkrete Gefährdung der in § 315b Abs. 1 StGB bezeichneten Individualrechtsgüter zur Folge hatte. Darüber hinaus sind bei dem Angeklagten S. die subjektiven Voraussetzungen eines von § 315b Abs. 1 StGB erfassten verkehrsfeindlichen Inneneingriffs nicht festgestellt.
[4] a) Nach den Feststellungen des Landgerichts ergriffen die Zeugen M. und G. – M. zu Fuß, G. in seinem Pkw – die Flucht vor den Angeklagten und dem Mitangeklagten Be., die ihrer habhaft werden wollten, weil mit M. "etwas geklärt werden sollte". Die Angeklagten und Be. bestiegen daraufhin einen Kleintransporter Fiat Scudo, um die Verfolgung von M. und G. aufzunehmen. Während der anschließenden Fahrt steuerte der Angeklagte B. das Fahrzeug, ohne – wie er wusste – im Besitz der erforderlichen Fahrerlaubnis zu sein.
[5] Als der davonfahrende G. in der Nähe der Straße den zu Fuß flüchtenden M. bemerkte, hielt er mit seinem Pkw an, um M. das Einsteigen zu ermöglichen. Diese Gelegenheit nutzte der Angeklagte B., um an dem Pkw des G. vorbeizufahren und sich mit dem Kleintransporter quer vor diesen zu stellen. Während Be. den Kleintransporter auf der Beifahrerseite verließ und gestikulierend auf das andere Fahrzeug zulief, legte G. den Rückwärtsgang ein und setzte die Flucht in entgegengesetzter Richtung fort. Dem Angeklagten S., der, obwohl er Gelegenheit gehabt hätte, den stehenden Fiat Scudo zu verlassen, im Fahrzeug verblieben war, war ebenso wie dem wieder in den Kleintransporter eingestiegenen Be. bewusst, dass B. die Verfolgung der beiden Männer fortsetzen und versuchen werde, deren Fahrzeug an einer Weiterfahrt zu hindern. Der Angeklagte S. und der Mitangeklagte Be. nahmen zumindest billigend in Kauf, dass B. erneut versuchen könnte, den Pkw durch Querstellen des Fiat Scudo auszubremsen, oder ihn durch eine andere gefährliche, die Insassen und das Fahrzeug gefährdende Fahrweise zu stoppen. Mit einem solchen möglichen Vorgehen B. s war der Angeklagte S. nicht nur einverstanden, er hatte auch ein Interesse daran, jedenfalls des M. habhaft zu werden.
[6] Noch bevor der Pkw des G. die Ortschaft D. erreichte, konnten die Angeklagten und Be. mit dem Fiat Scudo aufschließen. B. fuhr nun mit dem Kleintransporter auf den sich weiter in Bewegung befindlichen Pkw von hinten auf, um G. – allerdings erfolglos – zum Anhalten zu bewegen.
[7] Der Anstoß war immerhin so stark, dass sich M., der sich nicht angeschnallt hatte, mit den Händen am Armaturenbrett abstützen musste, um nicht gegen die Windschutzscheibe geschleudert zu werden. Beide Fahrzeuge fuhren dann durch die Ortschaft D. und weiter in Richtung P., wobei zumindest auf der Landesstraße L 22 Geschwindigkeiten von 140 bis 150 km/h erreicht wurden. Auf der Straße zwischen den Ortschaften rammte der Angeklagte B. zumindest einmal den Pkw des G. im Bereich der Fahrertür, die dabei beschädigt wurde. Aus ungeklärter Ursache begann der Motor des Pkw des G. zu überhitzen, sodass die Leistung nachließ und G. nur noch in der Lage war, eine Geschwindigkeit von etwa 70 km/h zu erreichen.
[8] Aufgrund dessen war es dem Angeklagten B. möglich, den Pkw mit dem Kleintransporter zu überholen, sich in geringem Abstand vor diesen zu setzen und stark abzubremsen. Infolge dieses Manövers konnte G. ein Auffahren auf den Kleintransporter nicht verhindern. Nach dem Anstoß gelang es ihm, den deutlich abgebremsten Kleintransporter gleich wieder zu überholen und weiter in Richtung P. zu fahren. Im Bereich des Ortseingangs ließen die Angeklagten und Be. schließlich aus nicht geklärten Umständen von einer weiteren Verfolgung ab.
[9] b) Ein vollendeter gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr gemäß § 315b Abs. 1 StGB liegt erst dann vor, wenn durch eine der in § 315b Abs. 1 Nr. 1 bis 3 StGB genannten Tathandlungen eine Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs herbeigeführt worden ist und sich diese abstrakte Gefahrenlage zu einer konkreten Gefährdung von Leib oder Leben eines anderen Menschen oder fremder Sachen von bedeutendem Wert verdichtet hat (vgl. BGH, Urteil vom 4. Dezember 2002 – 4 StR 103/02, BGHSt 48, 119, 122; Ernemann in Satzger/Schmitt/Widmaier, StGB, § 315b Rn. 5, 17). Eine solche über die abstrakte Beeinträchtigung der Sicherheit des Straßenverkehrs hinausgehende konkrete Gefährdung wird von den bisherigen Urteilsfeststellungen nicht hinreichend belegt. Die Strafkammer hat zwar festgestellt, dass der nicht angeschnallte Beifahrer M. sich infolge des Anstoßes von hinten mit den Händen am Armaturenbrett abstützen musste, um nicht gegen die Windschutzscheibe geschleudert zu werden. Diese Feststellung steht jedoch in einem nicht ohne weiteres auflösbaren Widerspruch zu der Wertung des Landgerichts im Rahmen der rechtlichen Würdigung, wonach der Angeklagte B. das Fahrzeug des G. "zumindest einmal leicht von hinten" gerammt habe.
[10] Nähere Feststellungen zu den Geschwindigkeiten der Fahrzeuge im Zeitpunkt der verschiedenen Kollisionen und der jeweiligen Intensität der Anstöße zwischen den beteiligten Fahrzeugen (vgl. BGH, Beschluss vom 25. April 2012 – 4 StR 667/11, NStZ 2012, 700, 701) hat die Strafkammer nicht getroffen.
[11] Auch das Schadensbild, das aus den durch Bezugnahme nach § 267 Abs. 1 Satz 3 StPO zum Bestandteil der Urteilsgründe gewordenen Lichtbildern vom Fahrzeug des Zeugen G. ersichtlich ist, erlaubt keinen sicheren Schluss auf eine konkrete Leibesgefahr. Schließlich ist den Urteilsausführungen ein drohender, die Wertgrenze von 750 € (vgl. BGH, Beschluss vom 28. September 2010 – 4 StR 245/10, NStZ 2011, 215) erreichender Sachschaden ebenfalls nicht zu entnehmen, weil sich das Landgericht zum Wert des für den Gefahrenerfolg allein maßgeblichen Fahrzeugs des Zeugen G. – etwa zu Modell, Baujahr, Laufleistung oder Zustand – nicht verhält (vgl. BGH, Beschluss vom 25. Januar 2012 – 4 StR 507/11, NZV 2012, 393).
[12] c) Die Strafbarkeit nach § 315b Abs. 1 StGB bei Verkehrsvorgängen im fließenden Verkehr (verkehrsfeindlicher Inneneingriff) setzt nach der Rechtsprechung des Senats voraus, dass zu dem bewusst zweckwidrigen Einsatz des Fahrzeugs in verkehrsfeindlicher Einstellung hinzukommt, dass das Fahrzeug mit mindestens bedingtem Schädigungsvorsatz – etwa als Waffe oder Schadenswerkzeug – missbraucht wird. Erst dann liegt eine – über den Tatbestand des § 315c StGB hinausgehende und davon abzugrenzende – verkehrsatypische "Pervertierung" eines Verkehrsvorgangs zu einem gefährlichen "Eingriff" in den Straßenverkehr im Sinne des § 315b Abs. 1 StGB vor (vgl. BGH, Urteil vom 20. Februar 2003 – 4 StR 228/02, BGHSt 48, 233, 237; Beschluss vom 9. Februar 2010 – 4 StR 556/09, NStZ 2010, 391, 392; vom 22. November 2011 – 4 StR 522/11, DAR 2012, 390). Da sich die subjektiven Vorstellungen des Angeklagten S. nach den Feststellungen auf die billigende Inkaufnahme von für das verfolgte Fahrzeug und dessen Insassen gefährlichen Fahrmanövern des Angeklagten B. beschränkte, er mithin nur mit Gefährdungsvorsatz handelte, scheidet eine Strafbarkeit des Angeklagten S. nach § 315b StGB auf der Grundlage der bisherigen Urteilsfeststellungen aus.
[13] d) Die Aufhebung der Schuldsprüche im Fall II. 1 der Urteilsgründe, die bei dem Angeklagten B. auch die an sich rechtsfehlerfreie Verurteilung wegen tateinheitlich begangenen vorsätzlichen Fahrens ohne Fahrerlaubnis umfasst, ist gemäß § 357 Satz 1 StPO auf den nicht revidierenden, durch die materiell-rechtlichen Aufhebungsgründe in gleicher Weise betroffenen Mitangeklagten Be. zu erstrecken. Der neu zur Entscheidung berufene Tatrichter wird bei dem Angeklagten S. und dem Mitangeklagten Be. die tatbestandlichen Voraussetzungen der Mittäterschaft eingehender als bisher geschehen zu prüfen und gegebenenfalls nähere Feststellungen zu deren Tatbeteiligung zu treffen haben.
[14] Die Aufhebung der Schuldsprüche und der zugehörigen Einzelstrafen entzieht den Gesamtstrafenaussprüchen gegen die Angeklagten und den Mitangeklagten Be. die Grundlage.
[15] 3. Die Unterbringung des Angeklagten S. in einer Entziehungsanstalt gemäß § 64 StGB begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken.
[16] Das Landgericht hat die Gefahr künftiger hangbedingter erheblicher Straftaten des Angeklagten S. bejaht und dies allein damit begründet, dass auch bei früheren – ausweislich der Urteilsgründe bereits getilgten – Verurteilungen Alkohol und Drogen jeweils eine nicht unbedeutende Rolle gespielt hätten. In der Heranziehung im Bundeszentralregister getilgter Verurteilungen zur Beurteilung der Gefährlichkeitsprognose liegt ein Verstoß gegen das auch bei der Anordnung von Maßregeln der Besserung und Sicherung geltende gesetzliche Verwertungsverbot des § 51 Abs. 1 BZRG, der auf Sachrüge hin zu berücksichtigen ist (vgl. BGH, Beschlüsse vom 28. August 2012 – 3 StR 309/12, BGHSt 57, 300, 302 f.; vom 21. August 2012 – 4 StR 247/12, NStZ-RR 2013, 84). Nach dieser Vorschrift dürfen aus Taten, die Gegenstand getilgter Verurteilungen sind, keine nachteiligen Schlüsse auf die Persönlichkeit eines Angeklagten gezogen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 4. Februar 2010 – 3 StR 8/10, BGHR BZRG § 51 Verwertungsverbot 11).
[17] Des Weiteren hat sich das Landgericht nicht von der nach § 64 Satz 2 StGB erforderlichen konkreten Erfolgsaussicht der Behandlung in der Unterbringung überzeugen können, sondern diese lediglich "zu Gunsten" des Angeklagten S. unterstellt. Dabei hat die Strafkammer verkannt, dass es sich bei der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt nach § 64 StGB um eine den Angeklagten beschwerende Maßregel handelt (vgl. BGH, Beschluss vom 13. Juni 1991 – 4 StR 105/91, BGHSt 38, 4, 7), deren tatbestandliche Voraussetzungen bei einer Anordnung sicher feststehen müssen (vgl. BGH, Urteil vom 24. Juni 2003 – 1 StR 25/03, insoweit in NStZ 2004, 111 nicht abgedruckt; Beschluss vom 1. März 2001 – 4 StR 36/01, NStZ-RR 2001, 295). Für eine Anwendung des Zweifelssatzes ist insoweit kein Raum.
[18] 4. Bei dem Angeklagten B. hat die Aufhebung des Schuldspruchs im Fall II. 1 der Urteilsgründe die Aufhebung des an diese Verurteilung anknüpfenden Maßregelausspruchs nach § 69a StGB zur Folge. Die Anordnung des Vorwegvollzugs eines Teils der Gesamtfreiheitsstrafe vor der Unterbringung kann schon wegen der Aufhebung der Gesamtstrafe keinen Bestand haben, ohne dass es noch auf den Widerspruch im schriftlichen Urteil hinsichtlich der Dauer des Vorwegvollzugs und das vollständige Fehlen einer nachvollziehbaren Begründung für deren Festsetzung ankommt. Der neue Tatrichter wird die voraussichtlich erforderliche Dauer der Behandlung in der Unterbringung festzustellen (vgl. Fischer, StGB, 60. Aufl., § 67 Rn. 11b mwN) und hiervon ausgehend erneut über den Vorwegvollzug nach § 67 Abs. 2 StGB zu befinden haben.