Europäischer Gerichtshof
"Überprüfung des Urteils des Gerichts in der Rechtssache T-268/11 P – Öffentlicher Dienst – Entscheidung der Kommission, die Übertragung von bezahltem Jahresurlaub abzulehnen, den ein Beamter während des Bezugszeitraums wegen eines lang andauernden Krankheitsurlaubs nicht in Anspruch nehmen konnte – Art. 1e Abs. 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Union – Art. 4 des Anhangs V des Statuts – Richtlinie 2003/88/EG – Art. 7 – Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – Grundsatz des Sozialrechts der Union – Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Beeinträchtigung der Einheit und der Kohärenz des Unionsrechts"
1. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union (Rechtsmittelkammer) vom 8. November 2012, Kommission/Strack (T-268/11 P), beeinträchtigt dadurch die Einheit und die Kohärenz des Unionsrechts, dass das Gericht als Rechtsmittelgericht den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union, der auch ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union verankert und insbesondere Gegenstand der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung ist, in Anbetracht der Auslegung dieses Anspruchs durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union missachtet hat, indem es
- Art. 1e Abs. 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Union dahin ausgelegt hat, dass er nicht die Vorschriften über die Arbeitszeitgestaltung in der Richtlinie 2003/88 und insbesondere den bezahlten Jahresurlaub erfasse, und
- nachfolgend Art. 4 des Anhangs V des Statuts dahin ausgelegt hat, dass er impliziere, dass der Anspruch auf Übertragung des Jahresurlaubs über die in dieser Bestimmung festgelegte Grenze hinaus nur bei einer Verhinderung im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Beamten in Ausübung seines Dienstes gewährt werden könne.
2. Das Urteil des Gerichts der Europäischen Union wird aufgehoben.
3. Das Rechtsmittel der Europäischen Kommission gegen das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union vom 15. März 2011, Strack/Kommission (F-120/07), wird zurückgewiesen.
4. Die Europäische Kommission trägt die Kosten, die Herrn Guido Strack durch das Überprüfungsverfahren und durch das Verfahren vor dem Gericht der Europäischen Union entstanden sind.
5. Der Rat der Europäischen Union und die Europäische Kommission tragen ihre eigenen durch das Überprüfungsverfahren entstandenen Kosten.
6. Die Europäische Kommission trägt ihre eigenen durch das Verfahren vor dem Gericht der Europäischen Union entstandenen Kosten.

EuGH, Urteil vom 19. 9. 2013 – C-579/12 RX-II (lexetius.com/2013,3333)

In der Rechtssache C-579/12 RX-II betreffend die Überprüfung, gemäß Art. 256 Abs. 2 Unterabs. 2 AEUV, des Urteils des Gerichts der Europäischen Union vom 8. November 2012, Kommission/Strack (T-268/11 P), in dem Verfahren Europäische Kommission gegen Guido Strack, ehemaliger Beamter der Europäischen Kommission, wohnhaft in Köln (Deutschland), erlässt DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer) unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten L. Bay Larsen, der Richter J. Malenovský, U. Lõhmus und M. Safjan sowie der Richterin A. Prechal (Berichterstatterin), Generalanwältin: J. Kokott, Kanzler: A. Calot Escobar, aufgrund des schriftlichen Verfahrens, unter Berücksichtigung der Erklärungen – von Herrn Strack, vertreten durch Rechtsanwalt H. Tettenborn, – der Europäischen Kommission, vertreten durch B. Eggers, J. Currall und H. Kraemer als Bevollmächtigte, – des Rates der Europäischen Union, vertreten durch P. Plaza Garcia, M. Bauer und J. Hermann als Bevollmächtigte, in Anbetracht der Art. 62a und 62b Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, nach Anhörung der Generalanwältin folgendes Urteil (*):
[1] 1 Das vorliegende Verfahren betrifft die Überprüfung des Urteils des Gerichts der Europäischen Union (Rechtsmittelkammer) vom 8. November 2012, Kommission/Strack (T-268/11 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, im Folgenden: Urteil vom 8. November 2012), mit dem das Gericht das Urteil des Gerichts für den öffentlichen Dienst der Europäischen Union vom 15. März 2011, Strack/Kommission (F-120/07, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht), aufgehoben hat, durch das die Entscheidung der Kommission vom 15. März 2007, die Übertragung des von Herrn Strack im Jahr 2004 nicht genommenen Jahresurlaubs auf zwölf Tage zu beschränken (im Folgenden: streitige Entscheidung), aufgehoben worden war.
[2] 2 Die Überprüfung erstreckt sich darauf, ob in Anbetracht der Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union, der auch ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im Folgenden: Charta) verankert und insbesondere Gegenstand der Richtlinie 2003/88/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 4. November 2003 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 299, S. 9) ist, das Urteil vom 8. November 2012 dadurch die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigt, dass das Gericht der Europäischen Union als Rechtsmittelgericht
- Art. 1e Abs. 2 des Statuts der Beamten der Europäischen Union (im Folgenden: Statut) dahin ausgelegt hat, dass er nicht die Vorschriften über die Arbeitszeitgestaltung in der Richtlinie 2003/88 und insbesondere den bezahlten Jahresurlaub erfasse, und
- nachfolgend Art. 4 des Anhangs V des Statuts dahin ausgelegt hat, dass er impliziere, dass der Anspruch auf Übertragung des Jahresurlaubs über die in dieser Bestimmung festgelegte Grenze hinaus nur bei einer Verhinderung im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Beamten in Ausübung seines Dienstes gewährt werden könne.
Rechtlicher Rahmen
Charta
[3] 3 Art. 31 ("Gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen") der Charta bestimmt:
"(1) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf gesunde, sichere und würdige Arbeitsbedingungen.
(2) Jede Arbeitnehmerin und jeder Arbeitnehmer hat das Recht auf eine Begrenzung der Höchstarbeitszeit, auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten sowie auf bezahlten Jahresurlaub."
Statut
[4] 4 Der in Titel I ("Allgemeine Vorschriften") des Statuts enthaltene Art. 1e Abs. 2 lautet:
"Für Beamte im aktiven Dienst gelten Arbeitsbedingungen, bei denen angemessene Gesundheits- und Sicherheitsnormen eingehalten werden, die zumindest den Mindestvorschriften aufgrund von Maßnahmen entsprechen, die in diesen Bereichen nach den Verträgen erlassen wurden."
[5] 5 Art. 57 Abs. 1 des Statuts bestimmt:
"Dem Beamten steht entsprechend einer Regelung, die von den Organen der [Union] im gegenseitigen Einvernehmen nach Stellungnahme des Statutsbeirats festzulegen ist, für jedes Kalenderjahr ein Jahresurlaub von mindestens vierundzwanzig und höchstens dreißig Arbeitstagen zu."
[6] 6 Art. 4 des Anhangs V des Statuts sieht vor:
"Hat ein Beamter aus Gründen, die nicht auf dienstliche Erfordernisse zurückzuführen sind, bis zum Ende des laufenden Kalenderjahrs nur einen Teil seines Jahresurlaubs genommen, so darf die Übertragung des Urlaubsanspruchs auf das folgende Jahr zwölf Urlaubstage nicht überschreiten.
Hat ein Beamter bei seinem Ausscheiden aus dem Dienst nur einen Teil seines Jahresurlaubs genommen, so erhält er als Ausgleich für jeden nicht in Anspruch genommenen Urlaubstag einen Betrag in Höhe von einem Dreißigstel seiner monatlichen Dienstbezüge im Zeitpunkt des Ausscheidens aus dem Dienst. …"
Richtlinie 2003/88
[7] 7 In Art. 1 ("Gegenstand und Anwendungsbereich") der Richtlinie 2003/88 heißt es:
"(1) Diese Richtlinie enthält Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung.
(2) Gegenstand dieser Richtlinie sind
a) … der Mindestjahresurlaub …"
[8] 8 Art. 7 der Richtlinie lautet:
"(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit jeder Arbeitnehmer einen bezahlten Mindestjahresurlaub von vier Wochen nach Maßgabe der Bedingungen für die Inanspruchnahme und die Gewährung erhält, die in den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften und/oder nach den einzelstaatlichen Gepflogenheiten vorgesehen sind.
(2) Der bezahlte Mindestjahresurlaub darf außer bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht durch eine finanzielle Vergütung ersetzt werden."
Vorgeschichte der zu überprüfenden Rechtssache
Sachverhalt des Rechtsstreits
[9] 9 Herr Strack ist ein ehemaliger Beamter der Europäischen Kommission. Vom 1. März 2004 bis zu seiner Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit zum 1. April 2005 befand er sich im Krankheitsurlaub.
[10] 10 Am 27. Dezember 2004 beantragte Herr Strack die Übertragung von 38, 5 Urlaubstagen, die er im Jahr 2004 nicht genommen hatte, auf das Jahr 2005 und verwies darauf, dass er diese Urlaubstage insbesondere aufgrund seiner dienstbedingten Erkrankung nicht habe nehmen können. Sein Antrag wurde mit Entscheidung vom 30. Mai 2005 in Bezug auf die 26, 5 Tage abgelehnt, die die zwölf gemäß Art. 4 des Anhangs V des Statuts automatisch übertragenen Tage überstiegen. Auf seine Beschwerde hin wurde diese Entscheidung mit Entscheidung vom 25. Oktober 2005 bestätigt; darin wurde ihm allerdings in Aussicht gestellt, dass er später einen neuen Antrag auf Übertragung der verbleibenden Urlaubstage für das Jahr 2004 stellen könne, falls seine Krankheit als Berufskrankheit anerkannt werden sollte.
[11] 11 Ein solcher neuer Übertragungsantrag wurde von Herrn Strack am 22. November 2006 gestellt und mit der streitigen Entscheidung zurückgewiesen.
Urteil Strack/Kommission
[12] 12 Am 22. Oktober 2007 erhob Herr Strack beim Gericht für den öffentlichen Dienst Klage, die u. a. auf Aufhebung der streitigen Entscheidung gerichtet war, soweit darin die Übertragung seines im Jahr 2004 nicht genommenen Jahresurlaubs auf zwölf Tage beschränkt und infolgedessen der Ausgleich für den von ihm zum Zeitpunkt seines Ausscheidens aus dem Dienst nicht genommenen Jahresurlaub entsprechend reduziert wurde.
[13] 13 Zur Stützung seiner Klage machte Herr Strack als einzigen Klagegrund einen Verstoß gegen Art. 4 Abs. 1 und 2 des Anhangs V des Statuts geltend. In der mündlichen Verhandlung berief er sich außerdem auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs vom 20. Januar 2009, Schultz-Hoff u. a. (C-350/06 und C-520/06, Slg. 2009, I-179).
[14] 14 In den Randnrn. 55 bis 58 des Urteils Strack/Kommission entschied das Gericht für den öffentlichen Dienst zunächst, dass es, wie sich aus Art. 1e Abs. 2 des Statuts ergebe, der Kommission obliege, bei der Anwendung und Auslegung der Statutsbestimmungen über den Jahresurlaub und insbesondere von Art. 4 Abs. 1 und 2 des Anhangs V des Statuts unter Beachtung der Gesundheits- und Sicherheitsnormen, die in der Richtlinie 2003/88 und insbesondere ihrem den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub betreffenden Art. 7 enthalten seien, für die Einhaltung der im Bereich der Arbeitsbedingungen geltenden Mindestvorschriften zu sorgen.
[15] 15 In den Randnrn. 59 bis 69 seines Urteils stellte das Gericht für den öffentlichen Dienst sodann zum einen fest, dass Herr Strack aus medizinischen Gründen während fast des gesamten Jahres 2004 seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht habe ausüben können. Zum anderen führte es, unter Bezugnahme speziell auf die Randnrn. 22, 23, 25, 41, 45, 50 und 61 des Urteils Schultz-Hoff u. a., aus, nach Art. 7 der Richtlinie 2003/88 impliziere der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub – der im Übrigen ein besonders bedeutsamer, auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerter Grundsatz des Sozialrechts der Union sei –, dass Herrn Strack im vorliegenden Fall nicht die Möglichkeit genommen werden dürfe, eine finanzielle Vergütung für den nicht genommenen Jahresurlaub zu erhalten.
[16] 16 Schließlich befand das Gericht für den öffentlichen Dienst in den Randnrn. 70 bis 78 des Urteils Strack/Kommission im Wesentlichen, dass Art. 4 Abs. 1 des Anhangs V des Statuts nicht die Frage regele, ob Jahresurlaubstage zu übertragen seien, wenn es dem Beamten aus Gründen, die – wie medizinische Gründe – unabhängig von seinem Willen bestanden hätten, nicht möglich gewesen sei, sie zu nehmen. Die Mindestvorschriften in Bezug auf Sicherheit und Gesundheit im Sinne von Art. 1e des Statuts und insbesondere die Bestimmungen des Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ergänzten insoweit die im Statut selbst vorgesehenen Bestimmungen über Urlaub, und daher sei die vom Gerichtshof im Urteil Schultz-Hoff u. a. vorgenommene Auslegung von Art. 7 mittels Art. 1e des Statuts in Verbindung mit dessen Art. 57 auf den vorliegenden Fall zu übertragen.
[17] 17 Infolgedessen kam das Gericht für den öffentlichen Dienst in Randnr. 79 seines Urteils zu dem Ergebnis, die Kommission habe dadurch, dass sie unter den Umständen des vorliegenden Falles in Anwendung von Art. 4 Abs. 1 des Anhangs V des Statuts die Übertragung des im Jahr 2004 wegen eines lang andauernden Krankheitsurlaubs nicht genommenen bezahlten Jahresurlaubs auf zwölf Tage beschränkt habe, die Tragweite dieser Bestimmung nicht beachtet. Daher hob es die streitige Entscheidung auf.
Urteil vom 8. November 2012
[18] 18 Das von der Kommission mit einem Rechtsmittel gegen das Urteil Strack/Kommission befasste Gericht hat im Urteil vom 8. November 2012 zunächst den dritten Rechtsmittelgrund zurückgewiesen, mit dem das Vorliegen eines Verfahrensfehlers geltend gemacht wurde.
[19] 19 Anschließend hat das Gericht dem ersten Rechtsmittelgrund und dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes, mit denen Verstöße gegen Art. 4 des Anhangs V des Statuts und gegen Art. 1e Abs. 2 des Statuts geltend gemacht wurden, in den Randnrn. 38 bis 56 seines Urteils mit folgenden Erwägungen stattgegeben:
"38 [Das Gericht für den öffentlichen Dienst] ist … davon ausgegangen, dass … Art. 1e Abs. 2 des Statuts verlange, dass die im Statut hinsichtlich der Arbeitszeitgestaltung und insbesondere des Jahresurlaubs vorgesehenen Bestimmungen den in Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Mindestvorschriften in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof, namentlich im Urteil Schultz-Hoff u. a., entsprächen oder zumindest gleichwertig seien. …
40 Die Richtlinien richten sich jedoch an die Mitgliedstaaten und nicht an die Unionsorgane. Folglich kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 als solche den Organen Verpflichtungen in ihren Beziehungen zu ihrem Personal auferlegen …
42 Der Umstand, dass eine Richtlinie als solche die Organe nicht bindet und keine Einrede der Rechtswidrigkeit einer Bestimmung des Statuts begründen kann, schließt gleichwohl nicht aus, dass die in dieser Richtlinie aufgestellten Regeln oder Grundsätze den Organen entgegengehalten werden können, wenn sie selbst nur als spezifischer Ausdruck von Grundregeln des [EG-] Vertrags und allgemeinen Grundsätzen erscheinen, die unmittelbar für die Organe gelten (vgl. in diesem Sinne Urteil des Gerichtshofs vom 9. September 2003, Rinke, C-25/02, Slg. 2003, I-8349, Randnrn. 25 bis 28 …).
43 Desgleichen könnte eine Richtlinie für ein Organ bindend sein, wenn das Organ, im Rahmen seiner organisatorischen Autonomie und innerhalb der Grenzen des Statuts, eine bestimmte in einer Richtlinie aufgestellte Verpflichtung umsetzen wollte oder wenn eine intern anwendbare Handlung von allgemeiner Geltung selbst ausdrücklich auf Maßnahmen verweist, die der Unionsgesetzgeber in Anwendung der Verträge getroffen hat (Urteil [des Gerichts für den öffentlichen Dienst vom 30. April 2009,] Aayhan u. a. /Parlament, [F-65/07, Slg. ÖD 2009, I-A-1—1054 und II-A-1—567,] Randnr. 116). …
45 Die vorgenannten Ausnahmen, wonach die Bestimmungen einer Richtlinie für ein Organ unter bestimmten Umständen mittelbar bindend sein können …, sind im vorliegenden Fall jedoch nicht anwendbar.
46 Insoweit ist erstens … darauf hinzuweisen, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub, auf den sich Art. 7 der Richtlinie 2003/88 bezieht, nach ständiger Rechtsprechung als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, von dem nicht abgewichen werden darf und den die zuständigen nationalen Stellen nur in den von der Richtlinie selbst ausdrücklich gezogenen Grenzen umsetzen dürfen (vgl. Urteil des Gerichtshofs vom 24. Januar 2012, Dominguez, C-282/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 16 und die dort angeführte Rechtsprechung).
47 Zweitens ist zu beachten, dass der Anspruch auf Jahresurlaub ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der [Charta] verankert ist, der von Art. 6 Abs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang wie den Verträgen zuerkannt wird (vgl. in diesem Sinne Urteile des Gerichtshofs vom 22. November 2011, KHS, C-214/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 37, vom 3. Mai 2012, Neidel, C-337/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 40, und vom 21. Juni 2012, ANGED, C-78/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 17).
48 Drittens darf der Anspruch auf Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden (vgl. Urteil ANGED, Randnr. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).
49 Selbst wenn man unterstellt, dass der Anspruch auf Jahresurlaub als allgemeiner Rechtsgrundsatz im Sinne der oben in Randnr. 42 angeführten Rechtsprechung aufzufassen wäre, der die Organe unmittelbar bindet und anhand dessen die Rechtmäßigkeit eines ihrer Rechtsakte geprüft werden könnte, kann aber jedenfalls nicht davon ausgegangen werden, dass Herr Strack durch Art. 4 des Anhangs V des Statuts an der Wahrnehmung dieses Anspruchs gehindert wurde.
50 In diesem Artikel werden nämlich lediglich die Modalitäten der Übertragung und des Ausgleichs im Fall nicht genommener Urlaubstage festgelegt, wobei er die automatische Übertragung von zwölf nicht genommenen Urlaubstagen auf das nächste Jahr erlaubt und die Möglichkeit einer Übertragung der darüber hinausgehenden Tage vorsieht, wenn die Nichtausschöpfung des Jahresurlaubs auf dienstliche Erfordernisse zurückzuführen ist. Somit kann nicht davon ausgegangen werden, dass Art. 4 des Anhangs V des Statuts die Gewährung oder die Inanspruchnahme des Jahresurlaubs von einer Voraussetzung abhängig macht, die den Urlaubsanspruch seines Inhalts beraubt, oder dass diese Vorschrift mit der Systematik und dem Zweck von Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 unvereinbar ist. Im Übrigen erscheint es sowohl durch die Notwendigkeit, die unbegrenzte Kumulierung nicht genommenen Urlaubs zu vermeiden, als auch zum Schutz der finanziellen Interessen der Union gerechtfertigt, die Übertragung nicht genommenen Jahresurlaubs und seinen Ausgleich bestimmten Voraussetzungen zu unterwerfen. …
52 Schließlich kann angesichts des Wortlauts von Art. 1e Abs. 2 des Statuts nicht davon ausgegangen werden, dass er der oben in Randnr. 43 geschilderten Situation insofern entspricht, als die Organe mit seiner Einfügung in das Statut eine in der Richtlinie 2003/88 aufgestellte besondere Verpflichtung hätten umsetzen wollen oder dass die in diesem Artikel enthaltene Bezugnahme auf die Mindestvorschriften, die aufgrund der in den Bereichen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes in Umsetzung der Verträge erlassenen Maßnahmen gelten, auf Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie verweisen, da deren Gegenstand sich von dem des Art. 1e des Statuts unterscheidet.
53 Erstens ist nämlich darauf hinzuweisen, dass sich Art. 1e des Statuts, der zu den allgemeinen Vorschriften des Titels I des Statuts gehört, auf die Vereinbarkeit der Arbeitsbedingungen der Beamten im aktiven Dienst mit 'angemessenen Gesundheits- und Sicherheitsnormen' bezieht, was offenbar auf die in den übrigen Bestimmungen des Statuts nicht geregelten technischen Mindestnormen im Bereich des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz abzielt und nicht auf die Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz im Allgemeinen, die auch die von der Richtlinie 2003/88 erfassten Vorschriften über die Arbeitszeitgestaltung, darunter den Jahresurlaub, einschließen. Wie die Kommission geltend macht, würde eine so weite Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts gegen die in Art. 336 AEUV verankerte Autonomie des Unionsgesetzgebers auf dem Gebiet des öffentlichen Dienstes verstoßen.
54 Zweitens enthält das Statut in Titel IV und in Anhang V spezielle Bestimmungen über die Arbeitszeitgestaltung und den Urlaub. Die im vorliegenden Fall aufgeworfene Frage nach den Modalitäten der Übertragung nicht genommener Urlaubstage auf das folgende Jahr oder des Ausgleichs für sie ist speziell in Art. 4 des Anhangs V des Statuts geregelt. Da diese Bestimmung eine klare und genaue Regel aufstellt, die den Übertragungs- und Ausgleichsanspruch für Jahresurlaub anhand der Zahl nicht genommener Urlaubstage begrenzt, können nicht auf der Grundlage eines im Wege der Analogie aus dem Urteil Schultz-Hoff u. a. abgeleiteten Gedankengangs die Bestimmungen der Richtlinie 2003/88 angewandt werden, indem auf eine andere Bestimmung des Statuts wie Art. 1e als allgemein geltende Regel abgestellt wird, die eine Abweichung von den speziellen Bestimmungen des Statuts in diesem Bereich erlaubt. Dies würde, wie die Kommission vor dem Gericht für den öffentlichen Dienst zu Recht geltend gemacht hat, zu einer Auslegung des Statuts contra legem führen.
55 Daraus folgt, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst zu Unrecht Art. 1e Abs. 2 des Statuts angewandt hat und sich stattdessen auf Art. 4 des Anhangs V des Statuts hätte stützen müssen.
56 Daher hat das Gericht für den öffentlichen Dienst einen doppelten Rechtsfehler begangen, indem es Art. 7 der Richtlinie 2003/88 auf der Grundlage von Art. 1e Abs. 2 des Statuts trotz der in Art. 4 des Anhangs V des Statuts enthaltenen Einschränkungen auf die Situation von Herrn Strack übertragen und angenommen hat, dass die letztgenannte Bestimmung die im vorliegenden Fall aufgeworfene Frage nicht regele."
[20] 20 Infolgedessen ist das Gericht zu dem Ergebnis gelangt, dass das Urteil Strack/Kommission aufzuheben sei, ohne dass der zweite Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes geprüft zu werden brauche, mit dem die Kommission geltend machte, das Gericht für den öffentlichen Dienst habe es unter Verletzung der Begründungspflicht unterlassen, sich mit der von ihr aufgeworfenen Frage des Anwendungsbereichs von Art. 1e Abs. 2 des Statuts auseinanderzusetzen.
[21] 21 Das Gericht hat schließlich über die von Herrn Strack erhobene Klage entschieden und sie insbesondere mit folgenden Ausführungen in den Randnrn. 65 bis 67 des Urteils vom 8. November 2012 abgewiesen:
"65 … [D] er in Art. 4 Abs. 1 des Anhangs V des Statuts verwendete Begriff 'dienstliche Erfordernisse' [ist] dahin auszulegen, dass er sich auf berufliche Tätigkeiten bezieht, die den Beamten aufgrund der ihm übertragenen Aufgaben daran hindern, den ihm zustehenden Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen (Urteil [des Gerichts vom 9. Juni 2005,] Castets/Kommission, [T-80/04, Slg. ÖD 2005, I-A-161 und II-729,] Randnr. 29). Somit ist zwar einzuräumen, dass der im Ausdruck 'dienstliche Erfordernisse' enthaltene Begriff 'Dienst' auf die 'Tätigkeit des Bediensteten im Dienst der Verwaltung' verweist, doch ergibt sich aus Art. 59 Abs. 1 Unterabs. 1 des Statuts, dass ein Beamter nur dann Krankheitsurlaub erhält, wenn er nachweist, dass er 'seinen Dienst nicht ausüben kann'. Folglich ist ein Beamter, der sich im Krankheitsurlaub befindet, definitionsgemäß von der Ausübung seines Dienstes entbunden und somit nicht im Sinne von Art. 4 Abs. 1 des Anhangs V des Statuts im Dienst (vgl. Urteil des Gerichts vom 29. März 2007, Verheyden/Kommission, T-368/04, Slg. ÖD 2007, I-A-2—93 und II-A-2—665, Randnr. 61 und die dort angeführte Rechtsprechung).
66 Die in Art. 4 des Anhangs V des Statuts angesprochenen dienstlichen Erfordernisse sind Gründe, die einen Beamten daran hindern können, Urlaub zu nehmen, weil er im Dienst bleiben muss, um die ihm von dem Organ, für das er tätig ist, zugewiesenen Aufgaben zu erfüllen. Diese Erfordernisse können vorübergehend oder dauerhaft bestehen, müssen jedoch notwendigerweise einer Tätigkeit im Dienst des Organs zugeordnet sein. Umgekehrt kann der Krankheitsurlaub das Fernbleiben eines Beamten aus triftigem Grund entschuldigen. Aufgrund seines gesundheitlichen Zustands ist er nicht länger zur Tätigkeit für das Organ verpflichtet. Der Begriff 'dienstliche Erfordernisse' kann daher nicht dahin ausgelegt werden, dass er sich auf das Fernbleiben vom Dienst wegen eines Krankheitsurlaubs erstreckt; dies gilt auch für den Fall einer längeren Krankheit (Urteil Castets/Kommission, Randnr. 33). Von einem Beamten im Krankheitsurlaub kann nicht erwartet werden, dass er im Dienst des Organs arbeitet, denn gerade davon ist er entbunden (Urteil Verheyden/Kommission, Randnrn. 62 und 63).
67 Unter Berücksichtigung der besonders engen Auslegung des Begriffs 'dienstliche Erfordernisse' durch die soeben in den Randnrn. 65 und 66 angeführte Rechtsprechung muss sich somit entgegen dem Vorbringen von Herrn Strack der Anspruch auf Übertragung des Jahresurlaubs über die Grenze von zwölf Tagen hinaus zwingend aus einer Verhinderung im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Beamten in Ausübung seines Dienstes ergeben und kann nicht aufgrund einer Krankheit gewährt werden, die ihn an dessen Ausübung gehindert hat, selbst wenn man unterstellt, dass die Dienstbezogenheit dieser Krankheit nachgewiesen wurde."
Verfahren vor dem Gerichtshof
[22] 22 Im Anschluss an den vom Ersten Generalanwalt unterbreiteten Vorschlag, das Urteil vom 8. November 2012 zu überprüfen, hat die Überprüfungskammer mit Entscheidung vom 11. Dezember 2012, Überprüfung Kommission/Strack (C-579/12 RX), die nach Art. 62 Abs. 2 der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union und Art. 193 Abs. 4 seiner Verfahrensordnung ergangen ist, beschlossen, dass dieses Urteil zu überprüfen ist, um zu klären, ob es die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigt.
[23] 23 Die Fragen, auf die sich nach der genannten Entscheidung die Überprüfung zu erstrecken hat, sind in Randnr. 2 des vorliegenden Urteils wiedergegeben.
Zur Überprüfung
[24] 24 Wie aus der Entscheidung vom 11. Dezember 2012, Überprüfung Kommission/Strack, und aus Randnr. 2 des vorliegenden Urteils hervorgeht, hat der Gerichtshof im Wesentlichen zunächst zu prüfen, ob unter Berücksichtigung insbesondere seiner Rechtsprechung zum Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub die Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts und Art. 4 seines Anhangs V durch das Gericht in seinem Urteil vom 8. November 2012 möglicherweise rechtsfehlerhaft ist.
[25] 25 Sollte sich ergeben, dass das Urteil vom 8. November 2012 rechtsfehlerhaft ist, wird anschließend zu prüfen sein, ob es die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigt.
Zur Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf die Übertragung von bezahltem Jahresurlaub, der aufgrund eines lang andauernden Krankheitsurlaubs nicht in Anspruch genommen werden konnte
[26] 26 Einleitend ist darauf hinzuweisen, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs, die zunächst in Bezug auf Art. 7 der Richtlinie 93/104/EG des Rates vom 23. November 1993 über bestimmte Aspekte der Arbeitszeitgestaltung (ABl. L 307, S. 18) und anschließend in Bezug auf Art. 7 der Richtlinie 2003/88 entwickelt wurde, der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders wichtiger Grundsatz des Sozialrechts der Union anzusehen ist, der nunmehr ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankert ist, die nach Art. 6 Abs. 1 EUV den gleichen rechtlichen Rang wie die Verträge hat (vgl. Urteile vom 26. Juni 2001, BECTU, C-173/99, Slg. 2001, I-4881, Randnr. 43, vom 6. April 2006, Federatie Nederlandse Vakbeweging, C-124/05, Slg. 2006, I-3423, Randnr. 28, Schultz-Hoff u. a., Randnr. 22, vom 15. September 2011, Williams u. a., C-155/10, Slg. 2011, I-8409, Randnrn. 17 und 18, KHS, Randnr. 37, Neidel, Randnr. 40, ANGED, Randnr. 17, sowie vom 8. November 2012, Heimann und Toltschin, C-229/11 und C-230/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 22).
[27] 27 Nach den Erläuterungen zu Art. 31 der Charta, die gemäß Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 3 EUV und Art. 52 Abs. 7 der Charta bei deren Auslegung zu berücksichtigen sind, stützt sich ihr Art. 31 Abs. 2 auf die Richtlinie 93/104, auf Art. 2 der am 18. Oktober 1961 in Turin unterzeichneten und am 3. Mai 1996 in Straßburg revidierten Europäischen Sozialcharta sowie auf Nr. 8 der auf der Tagung des Europäischen Rates in Straßburg am 9. Dezember 1989 verabschiedeten Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer.
[28] 28 Wie sich aus dem ersten Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/88 ergibt, wurde mit ihr die Richtlinie 93/104 kodifiziert. Der den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub betreffende Art. 7 der Richtlinie 2003/88 hat denselben Wortlaut wie Art. 7 der Richtlinie 93/104.
[29] 29 Im Übrigen geht aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs hervor, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht restriktiv ausgelegt werden darf (Urteile ANGED, Randnr. 18, sowie Heimann und Toltschin, Randnr. 23).
[30] 30 In Bezug auf Situationen, in denen ein Arbeitnehmer wegen eines Krankheitsurlaubs seinen bezahlten Jahresurlaub nicht nehmen konnte, hat der Gerichtshof u. a. entschieden, dass Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2003/88 zwar grundsätzlich einer nationalen Regelung, die für die Ausübung des mit dieser Richtlinie ausdrücklich verliehenen Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub Modalitäten vorsieht, zu denen sogar der Verlust dieses Anspruchs am Ende eines Bezugszeitraums oder eines Übertragungszeitraums gehört, nicht entgegensteht, allerdings unter der Voraussetzung, dass der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, tatsächlich die Möglichkeit hatte, diesen ihm verliehenen Anspruch auszuüben (vgl. u. a. Urteile Schultz-Hoff u. a., Randnr. 43, sowie KHS, Randnr. 26).
[31] 31 In diesem Zusammenhang hat der Gerichtshof Art. 7 Abs. 1 dahin ausgelegt, dass er einzelstaatlichen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten entgegensteht, nach denen der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub bei Ablauf des Bezugszeitraums und/oder eines im nationalen Recht festgelegten Übertragungszeitraums auch dann erlischt, wenn der Arbeitnehmer während des gesamten Bezugszeitraums oder eines Teils davon krankgeschrieben war und seine Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende seines Arbeitsverhältnisses fortgedauert hat, weshalb er seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub nicht ausüben konnte (Urteil Schultz-Hoff u. a., Randnr. 52).
[32] 32 Ließe man nämlich zu, dass die nationalen Rechtsvorschriften über die Festlegung des Übertragungszeitraums unter solchen besonderen Umständen einer Arbeitsunfähigkeit das Erlöschen des Anspruchs des Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub vorsehen könnten, ohne dass der Arbeitnehmer tatsächlich die Möglichkeit gehabt hätte, diesen Anspruch auszuüben, so würde dies den Wesensgehalt des jedem Arbeitnehmer durch Art. 7 der Richtlinie 2003/88 unmittelbar gewährten sozialen Rechts antasten (vgl. in diesem Sinne Urteile BECTU, Randnrn. 48 und 49, sowie Schultz-Hoff u. a., Randnrn. 44, 45, 47 und 48).
[33] 33 Unter denselben Umständen ist die finanzielle Vergütung, auf die der betreffende Arbeitnehmer Anspruch hat, in der Weise zu berechnen, dass er so gestellt wird, als hätte er diesen Anspruch während der Dauer seines Arbeitsverhältnisses ausgeübt. Daher ist das gewöhnliche Arbeitsentgelt des Arbeitnehmers, das während der dem bezahlten Jahresurlaub entsprechenden Ruhezeit weiterzuzahlen ist, auch für die Berechnung der finanziellen Vergütung für den bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses nicht genommenen Jahresurlaub maßgebend (Urteile Schultz-Hoff u. a., Randnrn. 61 und 62, sowie Heimann und Toltschin, Randnr. 25). Die Ansprüche auf Jahresurlaub und auf eine entsprechende Vergütung sind im Übrigen als zwei Aspekte eines einzigen Anspruchs zu behandeln (vgl. u. a. Urteil Schultz-Hoff u. a., Randnr. 60 und die dort angeführte Rechtsprechung).
[34] 34 Nach der angeführten Rechtsprechung ist es daher ausgeschlossen, dass sich der unionsrechtlich gewährleistete Anspruch eines Arbeitnehmers auf bezahlten Mindestjahresurlaub verringert, wenn er seiner Arbeitspflicht wegen einer Erkrankung im Bezugszeitraum nicht nachkommen konnte (Urteil Heimann und Toltschin, Randnr. 26).
[35] 35 Gewiss hat der Gerichtshof, wie der Rat der Europäischen Union und die Kommission hervorgehoben haben, auch festgestellt, dass in Anbetracht des doppelten Zwecks des Anspruchs auf Jahresurlaub, der darin besteht, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen, der Anspruch eines während mehrerer Bezugszeiträume in Folge arbeitsunfähigen Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub diesen beiden Zweckbestimmungen nur entsprechen kann, soweit der Übertrag eine gewisse zeitliche Grenze nicht überschreitet (Urteil KHS, Randnrn. 31 und 33).
[36] 36 Unter ausdrücklichem Verweis darauf, dass der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub ein besonders bedeutsamer, auch in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerter sozialrechtlicher Grundsatz ist, hat der Gerichtshof jedoch ebenso klar festgestellt, dass, um diesem Anspruch, der dem Schutz des Arbeitnehmers dient, gerecht zu werden, ein Übertragungszeitraum die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten muss (Urteile KHS, Randnrn. 37 und 38, sowie Neidel, Randnrn. 40 und 41).
[37] 37 Der Gerichtshof hat daraus insbesondere geschlossen, dass ein Übertragungszeitraum von neun Monaten nicht ausreicht, da er kürzer ist als der Bezugszeitraum (Urteil Neidel, Randnrn. 42 und 43); hingegen kann vernünftigerweise davon ausgegangen werden, dass ein Übertragungszeitraum von 15 Monaten dem Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nicht zuwiderläuft (Urteil KHS, Randnr. 43).
Zur Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts und Art. 4 seines Anhangs V
[38] 38 Zu prüfen ist, ob unter Berücksichtigung insbesondere der angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs zum Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub die Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts und Art. 4 seines Anhangs V durch das Gericht in seinem Urteil vom 8. November 2012 möglicherweise rechtsfehlerhaft ist.
[39] 39 Insoweit ist einleitend darauf hinzuweisen, dass die Charta nach ihrem Art. 51 Abs. 1 insbesondere für die Unionsorgane gilt, die infolgedessen gehalten sind, die in ihr verankerten Rechte zu achten. Zu diesen Rechten gehört der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als ein in Art. 31 Abs. 2 der Charta – der sich seinerseits, wie in Randnr. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, u. a. auf die später durch die Richtlinie 2003/88 ersetzte und kodifizierte Richtlinie 93/104 stützt – verankerter Grundsatz des Sozialrechts der Union.
[40] 40 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass nach einem allgemeinen Auslegungsgrundsatz ein Unionsrechtsakt so weit wie möglich in einer seine Gültigkeit nicht in Frage stellenden Weise und im Einklang mit dem gesamten Primärrecht und insbesondere den Bestimmungen der Charta auszulegen ist (vgl. in diesem Sinne u. a. Urteil vom 31. Januar 2013, McDonagh, C-12/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 44 und die dort angeführte Rechtsprechung).
[41] 41 Daher ist insbesondere unter Berücksichtigung des genannten allgemeinen Auslegungsgrundsatzes zu prüfen, ob das Gericht bei der Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts und Art. 4 seines Anhangs V Rechtsfehler begangen hat.
[42] 42 Was erstens Art. 1e Abs. 2 des Statuts anbelangt, geht aus den Randnrn. 52 und 53 des Urteils vom 8. November 2012 hervor, dass nach Ansicht des Gerichts die in dieser Bestimmung enthaltene Bezugnahme auf die Mindestvorschriften, die für die Arbeitsbedingungen aufgrund der in den Bereichen der Sicherheit und des Gesundheitsschutzes in Umsetzung der Verträge erlassenen Maßnahmen gelten, nur auf technische Mindestnormen im Bereich des Gesundheitsschutzes und der Sicherheit der Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz abzielt, nicht aber auf die Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz im Allgemeinen, so dass Vorschriften über die Arbeitszeitgestaltung wie die in der Richtlinie 2003/88 enthaltenen von der genannten Bestimmung nicht erfasst würden.
[43] 43 Hierzu ist jedoch zunächst festzustellen, dass der Wortlaut von Art. 1e Abs. 2 des Statuts diese vom Gericht vorgenommene Unterscheidung nicht widerspiegelt. Durch die Bezugnahme auf die nach den Verträgen erlassenen Mindestvorschriften aufgrund von Maßnahmen über die Arbeitsbedingungen in den Bereichen der Gesundheit und der Sicherheit erfasst er vielmehr Vorschriften wie die in der Richtlinie 2003/88 enthaltenen, da mit dieser Richtlinie, wie aus ihrem Art. 1 Abs. 1 hervorgeht, "Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung" festgelegt werden sollen, zu denen der Mindestjahresurlaub gehört.
[44] 44 Sodann ist darauf hinzuweisen, dass die vom Gericht vorgenommene Auslegung und die Unterscheidung, auf der sie beruht, die Erkenntnisse unberücksichtigt lassen, die sich u. a. aus den Randnrn. 36 bis 39 und 59 des Urteils vom 12. November 1996, Vereinigtes Königreich/Rat (C-84/94, Slg. 1996, I-5755), ergeben, in denen der Gerichtshof entschieden hat, dass die Arbeitszeitregelung, die Gegenstand der Richtlinie 93/104 ist, und insbesondere die in ihrem Art. 7 vorgesehene Regelung des bezahlten Jahresurlaubs, unmittelbar zur Verbesserung des Schutzes der Sicherheit und der Gesundheit der Arbeitnehmer im Sinne von Art. 118a EG-Vertrag beiträgt und dass die Entwicklung sowohl des nationalen wie des Völkersozialrechts den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitregelungen und der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer belegt. Dabei hat der Gerichtshof in Randnr. 15 des genannten Urteils hervorgehoben, dass sich eine solche Auslegung der Begriffe "Sicherheit" und "Gesundheit" auf die Präambel der Satzung der Weltgesundheitsorganisation (WHO) stützen kann, der sämtliche Mitgliedstaaten angehören; danach ist die Gesundheit ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.
[45] 45 Schließlich ist festzustellen, dass die vom Gericht vorgenommene Auslegung dem in Randnr. 40 des vorliegenden Urteils angeführten allgemeinen Auslegungsgrundsatz widerspricht.
[46] 46 Nach diesem Grundsatz hätte das Gericht nämlich einer Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts den Vorzug geben müssen, mit der gewährleistet werden kann, dass diese Bestimmung mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als einem nunmehr ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten Grundsatz des Sozialrechts der Union im Einklang steht. Dies hätte es jedoch erfordert, Art. 1e Abs. 2 dahin auszulegen, dass er es ermöglicht, den wesentlichen Gehalt von Art. 7 der Richtlinie 2003/88 als Mindestschutzvorschrift, die gegebenenfalls die übrigen Bestimmungen des Statuts über den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub und insbesondere Art. 4 seines Anhangs V ergänzt, in das Statut zu integrieren.
[47] 47 Nach alledem ist festzustellen, dass das Gericht einen Rechtsfehler begangen hat, als es, im Gegensatz zum Gericht für den öffentlichen Dienst in seinem Urteil Strack/Kommission, keine Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts vorgenommen hat, nach der diese Bestimmung u. a. auf die Vorschriften über den bezahlten Jahresurlaub in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 Bezug nimmt.
[48] 48 Was zweitens Art. 4 des Anhangs V des Statuts anbelangt, hat das Gericht, wie insbesondere aus Randnr. 67 des Urteils vom 8. November 2012 hervorgeht, diesen Artikel dahin ausgelegt, dass er jede Übertragung von bezahltem Jahresurlaub, der wegen eines lang andauernden Krankheitsurlaubs nicht in Anspruch genommen werden konnte, über die zwölf automatisch übertragenen Tage hinaus ausschließt.
[49] 49 Damit hat das Gericht jedoch ebenfalls einen Rechtsfehler begangen.
[50] 50 Der Wortlaut von Art. 4 des Anhangs V des Statuts enthält nämlich keine ausdrückliche Bezugnahme auf die besondere Lage eines Beamten, dem es wegen eines lang andauernden Krankheitsurlaubs nicht möglich war, während des Bezugszeitraums einen bezahlten Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen.
[51] 51 Ferner hat das Gericht infolge seines Rechtsfehlers in Bezug auf die Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts auch außer Acht gelassen, dass nach dem gesamten Regelungszusammenhang von Art. 4 des Anhangs V des Statuts eine andere Bestimmung des Statuts gerade dazu führt, dass die Vorschriften über den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 als Mindestvorschriften, die auf Beamte ergänzend und unter dem Vorbehalt günstigerer Statutsbestimmungen anzuwenden sind, integraler Bestandteil des Statuts sind.
[52] 52 Somit hat das Gericht gegen den in Randnr. 40 des vorliegenden Urteils angeführten allgemeinen Auslegungsgrundsatz verstoßen. Es hat sich nämlich, statt Art. 4 des Anhangs V des Statuts in Verbindung mit dessen Art. 1e Abs. 2 in einer Weise auszulegen, die die Vereinbarkeit des Statuts mit dem Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union, der nunmehr ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankert und insbesondere in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorgesehen ist, gewährleistet, auf eine Auslegung von Art. 4 gestützt, die keine solche Konformität zu gewährleisten vermag und die das Gericht in Randnr. 67 des Urteils vom 8. November 2012 im Übrigen selbst als "besonders eng" bezeichnet.
[53] 53 Hierzu ist festzustellen, dass das Gericht aufgrund mehrerer Rechtsfehler in den Randnrn. 49 bis 51 des Urteils vom 8. November 2012 zu dem Ergebnis gekommen ist, dass seine in diesem Urteil vorgenommene Auslegung von Art. 4 des Anhangs V des Statuts keine Verletzung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zur Folge habe.
[54] 54 Wie aus der in den Randnrn. 30 bis 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht, impliziert die Wahrung des wesentlichen Inhalts des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub nämlich insbesondere, dass ein Arbeitnehmer, der diesen Urlaub wegen eines lang andauernden Krankheitsurlaubs nicht in Anspruch nehmen konnte, seine ungeschmälerte Übertragung verlangen kann, wobei der Übertragungszeitraum die Dauer des Bezugszeitraums, für den er gewährt wird, deutlich überschreiten muss; die vom Gericht in Randnr. 50 des Urteils vom 8. November 2012 angestellten Erwägungen zur Notwendigkeit, die unbegrenzte Kumulierung nicht genommenen Urlaubs zu vermeiden, können dem nicht entgegenstehen.
[55] 55 Zu den ebenfalls in Randnr. 50 angestellten Erwägungen in Bezug auf die Notwendigkeit des Schutzes der finanziellen Interessen der Union genügt die Feststellung, dass solche Erwägungen jedenfalls nicht geltend gemacht werden können, um eine Beeinträchtigung des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub zu rechtfertigen.
[56] 56 Aus alledem ergibt sich, dass das Gericht der Auslegung des Gerichts für den öffentlichen Dienst in dessen Urteil Strack/Kommission hätte folgen müssen, wonach Art. 4 des Anhangs V des Statuts die Frage der Übertragung eines bezahlten Jahresurlaubs, den ein Beamter während des Bezugszeitraums wegen eines lang andauernden Krankheitsurlaubs nicht in Anspruch nehmen konnte, nicht regelt, so dass die Vorschriften, die sich hierzu aus Art. 1e Abs. 2 des Statuts und im vorliegenden Fall speziell aus Art. 7 der Richtlinie 2003/88 ergeben, als Mindestvorschriften zu berücksichtigen sind, die unter dem Vorbehalt günstigerer Statutsbestimmungen zur Anwendung kommen.
Zum Vorliegen einer Beeinträchtigung der Einheit oder der Kohärenz des Unionsrechts
[57] 57 Die in den Randnrn. 47 und 56 des vorliegenden Urteils festgestellten Rechtsfehler im Urteil vom 8. November 2012 sind geeignet, die Einheit und die Kohärenz des Unionsrechts zu beeinträchtigen.
[58] 58 Das Gericht hat nämlich dadurch, dass es bei seiner Auslegung der Statutsbestimmungen von der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Auslegung des Begriffs des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub jedes Arbeitnehmers als eines nunmehr ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankerten und insbesondere in Art. 7 der Richtlinie 2003/88 vorgesehenen Grundsatzes des Sozialrechts der Union abgewichen ist, insbesondere die Einheit des Unionsrechts beeinträchtigt, da einer Bestimmung wie Art. 31 Abs. 2 der Charta nach Art. 6 Abs. 1 Unterabs. 1 EUV der gleiche rechtliche Rang zukommt wie den Bestimmungen der Verträge, so dass der Unionsgesetzgeber sie beim Erlass sowohl eines Rechtsakts wie des Statuts auf der Grundlage von Art. 336 AEUV als auch anderer Unionsrechtsakte aufgrund der ihm durch andere Bestimmungen der Verträge übertragenen Rechtsetzungsbefugnis ebenso wie die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung solcher Rechtsakte zu beachten hat.
[59] 59 Ferner hat das Gericht die Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigt, indem es im Rahmen der Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts entschieden hat, dass sich die in dieser Bestimmung enthaltene Bezugnahme auf die Mindestvorschriften, die aufgrund der in den Bereichen der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer in Umsetzung der Verträge erlassenen Maßnahmen gelten, nicht auf Bestimmungen wie die in der Richtlinie 2003/88 enthaltenen Vorschriften für die Arbeitszeitgestaltung und insbesondere für den bezahlten Jahresurlaub erstreckt. Wie aus der in Randnr. 44 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung hervorgeht, hat der Gerichtshof nämlich bereits entschieden, dass solche Maßnahmen unmittelbar zur Verbesserung des Schutzes der Gesundheit und der Sicherheit der Arbeitnehmer im Sinne von Art. 118a EG-Vertrag – und somit der Art. 137 EG und 153 AEUV, die Art. 118a EG-Vertrag in der Folgezeit ersetzt haben – beitragen und dabei ferner hervorgehoben, dass auch die Entwicklung sowohl des nationalen wie des Völkersozialrechts den Zusammenhang zwischen Arbeitszeitregelungen und der Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmer belegt.
[60] 60 Daher ist festzustellen, dass das Urteil vom 8. November 2012 dadurch die Einheit und die Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigt, dass das Gericht als Rechtsmittelgericht den Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub als Grundsatz des Sozialrechts der Union, der auch ausdrücklich in Art. 31 Abs. 2 der Charta verankert und insbesondere Gegenstand der Richtlinie 2003/88 ist, in Anbetracht der Auslegung dieses Anspruchs durch die Rechtsprechung des Gerichtshofs missachtet hat, indem es
- Art. 1e Abs. 2 des Statuts dahin ausgelegt hat, dass er nicht die Vorschriften über die Arbeitszeitgestaltung in der Richtlinie 2003/88 und insbesondere den bezahlten Jahresurlaub erfasse, und
- nachfolgend Art. 4 des Anhangs V des Statuts dahin ausgelegt hat, dass er impliziere, dass der Anspruch auf Übertragung des Jahresurlaubs über die in dieser Bestimmung festgelegte Grenze hinaus nur bei einer Verhinderung im Zusammenhang mit der Tätigkeit des Beamten in Ausübung seines Dienstes gewährt werden könne.
Zu den aus der Überprüfung zu ziehenden Konsequenzen
[61] 61 Art. 62b Abs. 1 der Satzung des Gerichtshofs bestimmt, dass der Gerichtshof, wenn er feststellt, dass die Entscheidung des Gerichts die Einheit oder die Kohärenz des Unionsrechts beeinträchtigt, die Sache an das Gericht zurückverweist, das an die rechtliche Beurteilung durch den Gerichtshof gebunden ist. Bei der Zurückverweisung der Sache kann der Gerichtshof zudem die Wirkungen der Entscheidung des Gerichts bezeichnen, die für die Parteien des Rechtsstreits als endgültig zu betrachten sind. Ausnahmsweise kann der Gerichtshof selbst endgültig entscheiden, wenn sich der Ausgang des Rechtsstreits unter Berücksichtigung des Ergebnisses der Überprüfung aus den Tatsachenfeststellungen ergibt, auf denen die Entscheidung des Gerichts beruht.
[62] 62 Folglich kann sich der Gerichtshof nicht darauf beschränken, die Beeinträchtigung der Kohärenz und/oder der Einheit des Unionsrechts festzustellen, ohne Konsequenzen aus dieser Feststellung für den in Rede stehenden Rechtsstreit zu ziehen (Urteil vom 28. Februar 2013, Überprüfung Arango Jaramillo u. a. /EIB, C-334/12 RX-II, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 57).
[63] 63 Im vorliegenden Fall ist erstens das Urteil vom 8. November 2012 aus dem in Randnr. 60 des vorliegenden Urteils genannten Grund insoweit aufzuheben, als mit ihm dem ersten Rechtsmittelgrund und dem ersten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes der Kommission stattgegeben und infolgedessen das Urteil Strack/Kommission aufgehoben und die von Herrn Strack erhobene Klage abgewiesen worden ist.
[64] 64 Zweitens ist hinsichtlich der Frage, wie über das Rechtsmittel der Kommission zu entscheiden ist, zunächst darauf hinzuweisen, dass der dritte von der Kommission geltend gemachte Rechtsmittelgrund vom Gericht in seinem Urteil vom 8. November 2012 zurückgewiesen worden ist und dass die Zurückweisung als endgültig anzusehen ist, da dieser Punkt nicht Gegenstand der Überprüfung ist.
[65] 65 Sodann ist zum zweiten Teil des zweiten Rechtsmittelgrundes der Kommission, mit dem geltend gemacht wurde, das Gericht für den öffentlichen Dienst habe es unter Verletzung der Begründungspflicht unterlassen, sich mit der Frage des Anwendungsbereichs von Art. 1e Abs. 2 des Statuts auseinanderzusetzen, festzustellen, dass dieser Teil, auch wenn er vom Gericht in seinem Urteil vom 8. November 2012 nicht geprüft worden ist, offensichtlich zurückzuweisen ist. Wie nämlich insbesondere aus den Randnrn. 55 bis 57 des Urteils Strack/Kommission hervorgeht, hat sich das Gericht für den öffentlichen Dienst zu diesem Anwendungsbereich eindeutig in der Weise geäußert, dass die Bestimmung in Anbetracht ihres Wortlauts so zu verstehen sei, dass sie auf die Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheit verweise, die aufgrund der in diesen Bereichen nach den Verträgen erlassenen Maßnahmen gälten und zu denen die in der Richtlinie 2003/88 enthaltenen Mindestvorschriften für Sicherheit und Gesundheitsschutz bei der Arbeitszeitgestaltung zählten.
[66] 66 Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die Kommission, auch wenn dies im Urteil vom 8. November 2012 nicht erwähnt worden ist, im Rahmen ihres zweiten Rechtsmittelgrundes zudem, hilfsweise, geltend machte, dass das Gericht für den öffentlichen Dienst die Anforderungen, die sich aus der auf das Urteil Schultz-Hoff u. a. zurückgehenden Rechtsprechung ergäben, falsch umgesetzt und angewandt habe. Der vorliegende Fall betreffe nicht ausschließlich den Anspruch auf Übertragung des Jahresurlaubs, sondern eine an seine Stelle tretende Vergütung, zudem gehe es nicht um den Verlust des gesamten Anspruchs auf Jahresurlaub, sondern nur eines Teils davon, und es handele sich nicht nur um nicht genommene Urlaubstage des unmittelbar vor dem Jahr des Ausscheidens aus dem Dienst liegenden Bezugszeitraums, sondern auch um Urlaubstage, die bereits aus dem Jahr davor übertragen worden seien. Überdies habe das Gericht für den öffentlichen Dienst außer Acht gelassen, dass Art. 7 der Richtlinie 2003/88 eine Übertragung von bezahltem Jahresurlaub nur bis zu dem dort genannten Minimum von vier Wochen gewährleiste.
[67] 67 Hierzu ergibt sich jedoch aus der in den Randnrn. 30 bis 37 des vorliegenden Urteils angeführten Rechtsprechung des Gerichtshofs, dass Unterscheidungen, wie sie die Kommission zum einen zwischen dem Anspruch auf Übertragung des wegen langer Krankheit nicht in Anspruch genommenen bezahlten Jahresurlaubs und dessen Ersatz durch eine finanzielle Vergütung im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses und zum anderen zwischen dem teilweisen und dem vollständigen Entzug des wegen langer Krankheit nicht ausgeübten Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub vornehmen möchte, irrelevant und daher nicht zu berücksichtigen sind.
[68] 68 Im Übrigen hat das Gericht für den öffentlichen Dienst in Randnr. 77 des Urteils Strack/Kommission auch zu Recht entschieden, dass die vom Gerichtshof im Urteil Schultz-Hoff u. a. vorgenommene Auslegung von Art. 7 der Richtlinie 2003/88, da der Unionsgesetzgeber den Jahresurlaub für Beamte auf 24 Tage festgelegt hat, mangels anderer einschlägiger Bestimmungen des Statuts über die Übertragung bezahlten Jahresurlaubs, der wegen langer Krankheit nicht in Anspruch genommen wurde, auf die im Statut durch Art. 1e in Verbindung mit Art. 57 festgelegte Dauer des Jahresurlaubs übertragen werden kann.
[69] 69 Nach alledem und angesichts dessen, dass im vorliegenden Fall die Beeinträchtigung der Einheit und der Kohärenz des Unionsrechts auf einer fehlerhaften Auslegung von Art. 1e Abs. 2 des Statuts und Art. 4 seines Anhangs V beruht und dass – wie insbesondere aus den Randnrn. 47 und 56 des vorliegenden Urteils hervorgeht – bei zutreffender Auslegung der genannten Bestimmungen, die im Wesentlichen der vom Gericht für den öffentlichen Dienst in seinem Urteil Strack/Kommission vorgenommenen Auslegung entspricht, der erste und der zweite Rechtsmittelgrund der Kommission und folglich das gesamte Rechtsmittel hätten zurückgewiesen werden müssen, entscheidet der Gerichtshof endgültig über den Rechtsstreit und weist das Rechtsmittel zurück.
Kosten
[70] 70 Nach Art. 195 Abs. 6 der Verfahrensordnung des Gerichtshofs entscheidet der Gerichtshof über die Kosten, wenn die Entscheidung des Gerichts, die Gegenstand der Überprüfung ist, nach Art. 256 Abs. 2 AEUV ergangen ist.
[71] 71 Da es keine besonderen Vorschriften über die Kostenverteilung im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens gibt und da die Kommission infolge der Aufhebung des Urteils des Gerichts vom 8. November 2012 und der endgültigen Zurückweisung ihres Rechtsmittels gegen das Urteil Strack/Kommission im Rahmen dieses Rechtsmittels unterlegen ist, sind ihr im vorliegenden Fall die Kosten aufzuerlegen, die Herrn Strack im Rahmen sowohl des Verfahrens vor dem Gericht als auch des vorliegenden Überprüfungsverfahrens entstanden sind.
[72] 72 Der Rat, der beim Gerichtshof zu den Fragen, die Gegenstand der Überprüfung sind, schriftliche Erklärungen eingereicht hat, trägt seine eigenen durch dieses Verfahren entstandenen Kosten.
* Verfahrenssprache: Deutsch.