Bundesverwaltungsgericht
Glaubensfreiheit; staatliche Schulaufsicht; staatlicher Erziehungs- und Bildungsauftrag; Integrationsfunktion der Schule; Befreiung von Unterrichtsveranstaltungen; besonderer Grund; religiöse Bekleidungsvorschriften; koedukativer Schwimmunterricht; praktische Konkordanz.
GG Art. 4 Abs. 1; Art. 7 Abs. 1; HessSchulG § 69 Abs. 3
1. Der einzelne Schüler kann gestützt auf von ihm für maßgeblich erachtete religiöse Verhaltensgebote nur in Ausnahmefällen die Befreiung von einer Unterrichtsveranstaltung verlangen.
2. Einer Schülerin muslimischen Glaubens ist die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht in einer Badebekleidung zumutbar, die muslimischen Bekleidungsvorschriften entspricht.

BVerwG, Urteil vom 11. 9. 2013 – 6 C 25.12; Hessischer VGH (lexetius.com/2013,6271)

In der Verwaltungsstreitsache hat der 6. Senat des Bundesverwaltungsgerichts auf die mündliche Verhandlung vom 11. September 2013 durch den Vorsitzenden Richter am Bundesverwaltungsgericht Neumann und die Richter am Bundesverwaltungsgericht Büge, Dr. Möller, Hahn und Prof. Dr. Hecker für Recht erkannt:
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 28. September 2012 wird zurückgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Revisionsverfahrens.
Gründe:
[1] 1 I. Im Streit ist, ob die Klägerin zur Wahrung ihrer Glaubensfreiheit von der Pflicht zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht zu befreien war.
[2] 2 Die Klägerin ist Muslima. Im Schuljahr 2011/2012 besuchte sie ein der Aufsicht des Beklagten unterstehendes Gymnasium in der 5. Jahrgangsstufe. Dort wurde der Schwimmunterricht für Jungen und Mädchen gemeinsam erteilt (koedukativer Schwimmunterricht). Die Eltern der Klägerin stellten im Namen der gesamten Familie einen Antrag auf Befreiung der Klägerin vom Schwimmunterricht: Im Islam sei sportliche Betätigung jeder Art erlaubt und erwünscht. Die islamischen Bekleidungsvorschriften erlaubten jedoch nicht, dass Mädchen und Jungen gemeinsam am Schwimmunterricht teilnähmen. Der Schulleiter lehnte den Antrag ab. Der hiergegen gerichtete Widerspruch der Klägerin wurde zurückgewiesen. Zur Begründung wurde jeweils darauf verwiesen, die Klägerin könne in einer Badebekleidung am Schwimmunterricht teilnehmen, die den Vorgaben des Islam gerecht werde.
[3] 3 Die Klägerin hat Klage mit dem Antrag erhoben, die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids sowie des Widerspruchsbescheids festzustellen. Das Verwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen. Der Verwaltungsgerichtshof hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen: Ein "besonderer Grund", der nach § 69 Abs. 3 Satz 1 HessSchulG zur Unterrichtsbefreiung führen könne, liege nicht vor. Etwas anderes ergebe sich nicht aus Bundesverfassungsrecht. Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag (Art. 7 Abs. 1 GG) habe im vorliegenden Fall nicht hinter die Glaubensfreiheit der Klägerin (Art. 4 Abs. 1 GG) zurücktreten müssen. Der Klägerin sei zum einen zumutbar gewesen, dem von ihr für verbindlich erachteten Glaubensgebot, ihren Körper gegenüber Angehörigen des männlichen Geschlechts weitgehend zu verhüllen, im Schwimmunterricht durch Tragen eines sogenannten Burkini zu entsprechen. Dieser decke den Körper bis auf Hände, Füße sowie das Gesicht ab und verhindere auch im nassen Zustand ein Abzeichnen der Körperkonturen, ohne das Schwimmen zu behindern. Inwiefern das Tragen eines Burkini nicht hinreiche, um ihren Glaubensvorgaben zu genügen, habe die Klägerin nicht aufzuzeigen vermocht. Soweit die Klägerin zum zweiten ein Glaubensgebot für verbindlich erachte, sich nicht mit dem Anblick von Angehörigen des männlichen Geschlechts zu konfrontieren, die ihrerseits nicht in einer islamischen Vorgaben entsprechenden Weise gekleidet seien, sei der Eingriff in ihre Glaubensfreiheit im Hinblick auf die verfolgten staatlichen Erziehungsziele verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der staatliche Erziehungsauftrag umfasse die Erziehung zu sozialer Kompetenz im Umgang auch mit Andersdenkenden, zu gelebter Toleranz, zur Gleichberechtigung der Geschlechter und zur Offenheit. Das Bundesverfassungsgericht habe die Bedeutung des Erziehungsziels der Integration unterschiedlicher Kulturen hervorgehoben, dessen Verwirklichung die Einübung und Praktizierung beiderseitiger Toleranz in der Schule voraussetze. Dieses Erziehungsziel erfordere die Anwesenheit der Klägerin auch im koedukativen Schwimmunterricht. Der Integrationsauftrag des Grundgesetzes gebiete es, die Schüler auf ein Dasein in der säkularen und pluralistischen Gesellschaft in Deutschland vorzubereiten, in der sie einer Vielzahl von Wertvorstellungen, Überzeugungen und Verhaltensweisen begegnen würden, die sie für sich selbst ablehnten. Art. 4 GG vermittle weder in der Gesellschaft noch in der Schule einen umfassenden Konfrontationsschutz. Es existiere auch kein milderes Mittel, das in gleicher Weise wie die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht geeignet sei, die bezeichneten staatlichen Erziehungsziele zu erreichen. Zudem sei die Verpflichtung der Klägerin zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht in Anbetracht der Integrationsfunktion dieses Schulfachs auch im engeren Sinne verhältnismäßig. Dem Risiko zufälliger körperlicher Berührungen von Jungen könne organisatorisch und pädagogisch in hinreichendem Umfang begegnet werden.
[4] 4 Die Klägerin verweist zur Begründung ihrer Revision darauf, dass die Veranstaltung des Schwimmunterrichts in koedukativer Form gesetzlich nicht zwingend vorgeschrieben sei. Daraus folge, dass der Gesetzgeber ihr keine besondere Bedeutung für die Verwirklichung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags zumesse. Der insoweit nur geringe Stellenwert der Koedukation werde auch daran deutlich, dass in zahlreichen Bundesländern ab der 5. Jahrgangsstufe kein koedukativer Schwimmunterricht vorgesehen sei. Weil danach der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag nicht im Kern betroffen sei, gebühre ihrer Glaubensfreiheit der Vorrang. Das Tragen eines Burkini sei ihr nach ihrer religiösen Überzeugung verwehrt, weil sich auch bei einem solchen Kleidungsstück bei einzelnen Bewegungen oder Übungen die Körperformen abzeichneten.
[5] 5 Der Beklagte verteidigt das angefochtene Urteil.
[6] 6 II. Die zulässige Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 144 Abs. 2 VwGO). Das angefochtene Urteil beruht nicht auf der Verletzung von Bundesrecht. Wie der Verwaltungsgerichtshof zutreffend entschieden hat, gebot das Grundrecht der Klägerin auf Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) nicht, dem Befreiungsantrag im vorliegenden Fall stattzugeben. Ob der Verwaltungsgerichtshof die zum irrevisiblen Landesrecht zählende Befreiungsvorschrift des § 69 Abs. 3 Satz 1 HessSchulG auch im Übrigen rechtsfehlerfrei angewandt hat, entzieht sich der revisionsgerichtlichen Überprüfung (§ 137 Abs. 1 VwGO).
[7] 7 1. Allerdings hat die Schule mit der Ablehnung des Befreiungsantrags in den Schutzbereich des Grundrechts aus Art. 4 Abs. 1 GG eingegriffen.
[8] 8 Die durch Art. 4 Abs. 1 GG geschützte Glaubens- und Bekenntnisfreiheit umfasst nicht nur die (innere) Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch die Freiheit, den Glauben in der Öffentlichkeit zu manifestieren und zu verbreiten. Umfasst ist auch das Recht des Einzelnen, sein gesamtes Verhalten an den Lehren des Glaubens auszurichten und im Alltag seiner Glaubensüberzeugung gemäß zu handeln (BVerfG, Beschluss vom 19. Oktober 1971 – 1 BvR 387/65BVerfGE 32, 98 [106]; stRspr).
[9] 9 Der Verwaltungsgerichtshof hat auf Grundlage der Darlegungen der Klägerin (zur entsprechenden Obliegenheit: Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 7.93 – Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 108 S. 43) in revisionsgerichtlich nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass diese für sich Gebote als religiös verpflichtend erachtet, ihren Körper gegenüber Angehörigen des männlichen Geschlechts weitgehend zu bedecken, sich nicht mit dem Anblick von Männern bzw. Jungen in knapp geschnittener Badebekleidung zu konfrontieren sowie Männer bzw. Jungen nicht zu berühren. Vor diesem Hintergrund drohte der Klägerin infolge der Pflicht zur Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht ein Eingriff in ihre Glaubensfreiheit.
[10] 10 2. Durch die Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht wäre die Glaubensfreiheit der Klägerin jedoch nicht verletzt worden. Die Ablehnung des Befreiungsantrags war aufgrund des staatlichen Bestimmungsrechts im Schulwesen (Art. 7 Abs. 1 GG) gerechtfertigt.
[11] 11 a. Die Glaubensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) ist zwar vorbehaltlos gewährt, wird jedoch auf Ebene der Verfassung durch das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen beschränkt, das in Art. 7 Abs. 1 GG verankert ist (vgl. zuletzt BVerfG, Kammerbeschluss vom 21. Juli 2009 – 1 BvR 1358/09NJW 2009, 3151 Rn. 14; stRspr). Art. 7 Abs. 1 GG überantwortet dem Staat die Aufsicht über das gesamte Schulwesen. Die Vorschrift begründet nicht nur Aufsichtsrechte des Staates im technischen Sinne des Wortes, sondern – vorbehaltlich der Einschränkungen im Bereich des Privatschulwesens (Art. 7 Abs. 4 GG) – darüber hinaus einen umfassend zu verstehenden staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag. Dieser verleiht dem Staat Befugnisse zur Planung, Organisation, Leitung und inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung des Schulwesens, seiner Ausbildungsgänge sowie des dort erteilten Unterrichts (vgl. BVerfG, Beschluss vom 8. Oktober 1997 – 1 BvR 9/97BVerfGE 96, 288 [303]; BVerwG, Urteil vom 17. Juni 1998 – BVerwG 6 C 11.97BVerwGE 107, 75 [78] = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 124 S. 39). Hierunter fällt grundsätzlich neben der Befugnis, den Inhalt des Unterrichts festzulegen, auch die Befugnis, über seine äußeren Modalitäten wie etwa die Frage seiner Durchführung in koedukativer oder monoedukativer Form zu bestimmen. § 69 Abs. 4 Satz 1, § 5 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. n, § 3 Abs. 4 Satz 2 und 3 HessSchulG ergeben hierfür eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage (zu diesem Erfordernis: BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02BVerfGE 108, 282 [297]).
[12] 12 Das Grundrecht auf Glaubensfreiheit sowie das staatliche Bestimmungsrecht im Schulwesen stehen sich gleichrangig gegenüber (vgl. nur BVerfG, Urteil vom 14. Juli 1998 – 1 BvR 1640/97BVerfGE 98, 218 [244]; stRspr). Sie bedürfen gemäß dem Grundsatz praktischer Konkordanz der wechselseitigen Begrenzung in einer Weise, die nicht eines von ihnen bevorzugt und maximal behauptet, sondern beiden Wirksamkeit verschafft und sie möglichst schonend ausgleicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 16. Mai 1995 – 1 BvR 1087/91BVerfGE 93, 1 [21]; BVerwG, Beschluss vom 8. Mai 2008 – BVerwG 6 B 64.07 – Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 132 Rn. 7). Dies bedingt schon auf abstrakt-genereller Ebene wechselseitige Relativierungen beider Verfassungspositionen, die im hier interessierenden Zusammenhang zu der allgemeinen Maßgabe führen, dass seitens eines einzelnen Schülers als maßgeblich erachtete religiöse Verhaltensgebote von der Schule zwar nicht als prinzipiell unbeachtlich behandelt werden dürfen, der einzelne Schüler gestützt auf solche Verhaltensgebote aber nur in Ausnahmefällen eine Unterrichtsbefreiung beanspruchen kann:
[13] 13 Das Grundrecht auf Glaubensfreiheit wird auf einer ersten Ebene durch die Eigenständigkeit der staatlichen Wirkungsbefugnisse im Schulbereich relativiert (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 1975 – 1 BvR 63/68BVerfGE 41, 29 [44]; BVerwG, Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91BVerwGE 94, 82 [84] = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109 S. 46). Diese erklärt sich – und bezieht ihre innere Legitimation – aus der Bedeutung der Schule für die Entfaltung der Lebenschancen der nachwachsenden Generation und für den Zusammenhalt der Gesellschaft. Die Schule soll allen jungen Bürgern ihren Fähigkeiten entsprechende Bildungsmöglichkeiten gewährleisten und einen Grundstein für ihre selbstbestimmte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben legen. Zugleich soll sie, unter den von ihr vorgefundenen Bedingungen einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft, dazu beitragen, die Einzelnen zu dem Ganzen gegenüber verantwortungsbewussten "Bürgern" heranzubilden und hierüber eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen (hierzu mit unterschiedlichen Akzentsetzungen: BVerfG, Urteil vom 6. Dezember 1972 – 1 BvR 230/70 und 95/71 – BVerfGE 34, 165 [182]; Beschluss vom 21. Dezember 1977 – 1 BvL 1/75, 1 BvR 147/75BVerfGE 47, 46 [71]; Kammerbeschluss vom 29. April 2003 – 1 BvR 436/03BVerfGK 1, 141 [143]; BVerwG, Urteil vom 17. April 1973 – BVerwG 7 C 38.70 – BVerwGE 42, 128 [130] = Buchholz 11 Art. 3 GG Nr. 141 S. 65; Beschluss vom 29. Mai 1981 – BVerwG 7 B 169.80 – Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 74 S. 2; Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91 – a. a. O. S. 84 bzw. S. 46). Diesen weitreichenden Aufgaben könnte der Staat nicht gerecht werden, ohne eine allgemeine Schulpflicht einzuführen, deren verfassungsrechtliche Zulässigkeit daher außer Frage steht (BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 21. April 1989 – 1 BvR 235/89 – juris Rn. 3 und vom 21. Juli 2009 a. a. O.; BVerwG, Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91 – a. a. O. S. 84 bzw. S. 46). Für die Ausfüllung seiner Rolle ist der Staat darauf angewiesen, das Bildungs- und Erziehungsprogramm für die Schule grundsätzlich unabhängig von den Wünschen der beteiligten Schüler und ihrer Eltern anhand eigener inhaltlicher Vorstellungen bestimmen zu können (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. Februar 1989 – 1 BvR 1181/88 – juris Rn. 4; BVerwG, Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91 – a. a. O.). Die verfassungsrechtlich anerkannte Bildungs- und Integrationsfunktion der Schule würde nur unvollkommen Wirksamkeit erlangen, müsste der Staat die Schul- und Unterrichtsgestaltung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner der Vorstellungen der Beteiligten ausrichten (vgl. Urteil vom 3. Mai 1988 – BVerwG 7 C 89.86BVerwGE 79, 298 [302] = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 95 S. 6; Stern, Staatsrecht, Bd. IV/1, 2006, S. 608). Die Schule wäre dann durch kollidierende Erziehungsansprüche Einzelner und grundrechtliche Vetopositionen vielfach blockiert (Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 276; ähnlich Langenfeld, Integration und kulturelle Identität zugewanderter Minderheiten, 2001, S. 246 f.).
[14] 14 Um die hierin angelegten Einschränkungen individueller religiöser Bestimmungsansprüche nicht zu überspannen, ist in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die in verschiedenen Verfassungsbestimmungen wurzelnde Vorgabe hervorgehoben worden, dass der Staat bei Ausgestaltung des Unterrichts Neutralität und Toleranz vor allem in religiöser und weltanschaulicher Hinsicht zu wahren, insbesondere jede Beeinflussung oder gar Agitation im Dienste einer bestimmten religiös-weltanschaulichen Richtung zu unterlassen hat (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Dezember 1975 a. a. O. S. 51 f.; Kammerbeschlüsse vom 9. Februar 1989 a. a. O. Rn. 6 und vom 31. Mai 2006 – 2 BvR 1693/04BVerfGK 8, 151 [153 f.]). Das Neutralitäts- und Toleranzgebot stimmt den Bildungs- und Erziehungsauftrag des Staates aus Art. 7 Abs. 1 GG sowie die religiösen Grundrechte aufeinander ab und gleicht sie untereinander aus (Urteil vom 3. Mai 1988 a. a. O. S. 300 bzw. S. 5). Es schränkt den Kreis möglicher, der demokratisch legitimierten Entscheidung zugänglicher Unterrichtsgestaltungen im Interesse effektiven Grundrechtsschutzes ein. Die Entscheidung über Inhalt und Modalitäten des Unterrichts ist dem Staat überantwortet, der im Gegenzug aber Gewähr dafür tragen muss, religiöse Positionen wenigstens nicht absichtsvoll zu konterkarieren. Dass der Beklagte im vorliegenden Fall diese Grenze überschritten haben könnte, ist schon im Ansatz nicht ersichtlich.
[15] 15 In dem Anspruch auf Wahrung weltanschaulich-religiöser Neutralität des Unterrichts ist das Grundrecht auf Glaubensfreiheit im schulischen Kontext allerdings noch nicht erschöpft. Andernfalls würde es im Wesentlichen nur gewährleisten, dass die Schüler keiner unzulässigen religiösen Indoktrinierung ausgesetzt werden. Die Glaubensfreiheit umfasst aber nicht nur das Recht, eine unmittelbar gegenläufige Indoktrination von staatlicher Seite abzuwehren. Sondern sie umfasst darüber hinaus – wie bereits ausgeführt – auch das Recht, die eigene Lebensführung umfassend an den eigenen Glaubensüberzeugungen auszurichten. Dieses Recht würde leerlaufen und damit das Gebot einer ausgleichend-schonenden Zuordnung beider Verfassungspositionen auf ihrer vollen Breite verfehlt, dürfte die Schule sich im Rahmen der Unterrichtsgestaltung über die individuell erachtete Maßgeblichkeit bestimmter religiöser Verhaltensregeln stets ohne jede Einschränkung hinwegsetzen. Selbst eine dem Erfordernis weltanschaulich-religiöser Neutralität des Unterrichts genügende schulische Veranstaltung kann daher unter Umständen gegenüber einzelnen Schülern deren Glaubensfreiheit unzumutbar beschneiden. Die Verfassung geht nicht davon aus, dass der Staat im Sinne eines Modells weitgehender kompetenzieller Abschichtung im schulischen Bereich jeglicher Verpflichtung durch Art. 4 Abs. 1 GG ledig wäre, solange er nur das Neutralitäts- und Toleranzgebot beachtet, d. h. auf unmittelbare Indoktrination verzichtet (vgl. in diesem Zusammenhang BVerfG, Urteil vom 6. Dezember 1972 a. a. O. S. 183; Jestaedt, in: Bonner Kommentar, Art. 6 Abs. 2 und 3, Lfg. Dezember 1995 Rn. 332; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 1, 6. Aufl. 2010, Art. 6 Rn. 218).
[16] 16 Kann die Schule daher nicht prinzipiell davon entbunden sein, auf religiöse Verhaltensgebote Rücksicht zu nehmen, so würde andererseits das Grundrecht auf Glaubensfreiheit aus Art. 4 Abs. 1 GG gegenüber dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen aus Art. 7 Abs. 1 GG überspannt werden, wenn nicht auch dieser Pflicht zur Rücksichtnahme wiederum Grenzen gesetzt wären. Eine kategorische Beachtlichkeit sämtlicher vorgebrachter religiöser Verhaltensgebote liefe – entgegen dem oben aufgezeigten Ausgangspunkt – auf einen prinzipiellen Vorrang jedweder individuellen Glaubensposition vor dem staatlichen Bestimmungsrecht im Schulwesen hinaus, das insoweit dann seinerseits leerlaufen müsste. Die Schule hätte sich dann mit Unterrichtsgestaltungen zu begnügen, die von sämtlichen Glaubensstandpunkten aus akzeptabel erscheinen; sie wäre letztlich vom Konsens aller individuell Beteiligten abhängig. Dass dies in einer religiös pluralen Gesellschaft weder praktisch möglich noch, mit Blick auf die Integrationsfunktion der Schule, verfassungsrechtlich intendiert sein kann, liegt auf der Hand. Die integrative Wirksamkeit der Schule erweist sich nicht nur darin, Minderheiten einzubeziehen und in ihren Eigenarten zu respektieren. Sie setzt auch voraus, dass Minderheiten sich nicht selbst abgrenzen und sich der Konfrontation mit Unterrichtsinhalten, gegen die sie religiöse, weltanschauliche oder kulturelle Vorbehalte hegen, nicht stets von vornherein verschließen dürfen (vgl. BVerfG, Kammerbeschlüsse vom 29. April 2003 a. a. O., vom 31. Mai 2006 a. a. O. S. 155 f. und vom 15. März 2007 – 1 BvR 2780/06BVerfGK 10, 423 [431]).
[17] 17 Hieraus ergibt sich zugleich, dass die Befreiung von einzelnen Unterrichtseinheiten nicht als routinemäßige Option der Konfliktauflösung fungieren darf, die in jedem Fall ergriffen werden müsste, in dem aufgrund des Unterrichts Einzelnen eine Beeinträchtigung religiöser Positionen droht. Auch die Gewährung von individuellen Unterrichtsbefreiungen liefe, könnten die Betroffenen sie in jedem Konfliktfall beanspruchen, auf einen prinzipiellen Nachrang des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags hinaus, indem sie diesen für Minderheiten – zwar nicht mit Wirkung gegenüber allen Beteiligten, aber doch bezogen auf sich selbst – disponibel machte. Ist die staatliche Pflicht zur Rücksichtnahme auf religiöse Belange aus Gründen der Praktikabilität und insbesondere auch aufgrund der Integrationsfunktion der Schule im Prinzip begrenzt, so folgt hieraus für alle Beteiligten, dass sie in einem bestimmten Umfang Beeinträchtigungen ihrer religiösen Überzeugungen als typische, von der Verfassung von vornherein einberechnete Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen haben, d. h. nicht über das Recht verfügen, ihnen beliebig auszuweichen. Hierdurch ist zugleich sichergestellt, dass der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag – der auch für die Schule im Grundsatz nicht disponibel ist – gleichmäßig gegenüber sämtlichen Schülern erfüllt wird. Eine Befreiung wegen befürchteter Beeinträchtigungen religiöser Positionen hat danach die Ausnahme zu bleiben. Von diesem Grundsatz ist der Senat bereits in seinem Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91BVerwGE 94, 82 ff. = Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109) ausgegangen. Dort ist ausgesprochen worden, dass Gründe der Glaubensfreiheit in aller Regel keine Unterrichtsbefreiung rechtfertigen und Ausnahmen auf das für den Grundrechtsschutz unerlässliche Maß beschränkt bleiben müssen (Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91 – a. a. O. S. 92 bzw. S. 54). Insoweit hält der Senat an diesem Urteil fest.
[18] 18 b. Der Grundsatz praktischer Konkordanz fordert nicht nur einen wechselseitig schonenden Ausgleich der hier in Rede stehenden Verfassungspositionen auf abstrakt-genereller Ebene. Aus ihm ergibt sich zudem die Vorgabe, bei Auftreten eines konkreten Konflikts zwischen beiden Verfassungspositionen zunächst auszuloten, ob unter Rückgriff auf gegebenenfalls naheliegende organisatorische oder prozedurale Gestaltungsoptionen eine nach allen Seiten hin annehmbare, kompromisshafte Konfliktentschärfung im Bereich des Möglichen liegt, die beiden Positionen auch in Bezug auf den Einzelfall Wirksamkeit verschafft und eine regelrechte Vorrangentscheidung so verzichtbar erscheinen lässt (vgl. bereits Urteil vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91 – a. a. O. S. 88 f. bzw. S. 50). Wer sich als Beteiligter einer solchen Konfliktentschärfung verweigert und annehmbare Ausweichmöglichkeiten ausschlägt, muss notfalls als Konsequenz hinnehmen, dass er sich nicht länger gegenüber dem anderen Beteiligten auf einen Vorrang seiner Rechtsposition berufen darf. Ist allerdings ein schonender Ausgleich der widerstreitenden Rechtspositionen im Einzelfall unmöglich, so wird es unausweichlich, unter Einbezug der maßgeblichen Umstände eine Vorrangentscheidung zu treffen, d. h. danach zu fragen, ob die von einem Einzelnen aus religiösen Gründen begehrte Befreiung von der Unterrichtsteilnahme tatsächlich für seinen Grundrechtsschutz unerlässlich ist und das staatliche Bestimmungsrecht demzufolge ausnahmsweise zurückzutreten hat. Diese Prüfung ist insbesondere an folgenden Maßgaben zu orientieren:
[19] 19 aa. Das Vorliegen eines Ausnahmefalls darf nicht bereits deshalb angenommen werden, weil ein Befreiungsverlangen nur von einer einzelnen Person in einer bestimmten Situation geltend gemacht wird. In die rechtliche Betrachtung ist mit einzubeziehen, dass die zur Entscheidung einer konkreten Konfliktlage zu bildende "Präferenzrelation" zwischen den konträren Verfassungspositionen (Jestaedt, a. a. O. Rn. 343) in vergleichbar gelagerten Konstellationen, die in ihrer Summe die Wahrnehmung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags deutlich stärker beeinträchtigen können, ebenfalls in Anspruch genommen werden könnte. Eine entsprechende Weiterung des Blickwinkels, wie sie bei der verfassungsrechtlichen Prüfung von Schrankenregelungen bei nicht vorbehaltlos gewährten Grundrechten selbstverständlich ist, ist auch bei Ermittlung der verfassungsrechtlichen Begrenzungen vorbehaltlos gewährter Grundrechte durch kollidierende Verfassungspositionen geboten. Andernfalls würde hier – wofür überzeugende Gründe nicht ersichtlich sind – der Abgleich zwischen Individualbelangen und gemeinwohlorientierten staatlichen Gestaltungsbelangen strukturell abweichenden Mustern folgen. Hier wie dort ist daher jeweils die Frage zu stellen, ob das in Rede stehende Individualinteresse das gegenläufige Allgemeininteresse auch dann überwiegt, wenn es unter vergleichbaren Umständen mehrfach bzw. von einer Vielzahl von Grundrechtsträgern geltend gemacht, d. h. als allgemeine Maxime der Rechtsanwendung ins Auge gefasst wird.
[20] 20 bb. Auch damit, dass ein Befreiungsverlangen nur eine einzelne Unterrichtsstunde oder eine überschaubare Zahl von Unterrichtseinheiten betrifft, kann eine Unterrichtsbefreiung regelmäßig noch nicht hinreichend begründet werden. Denn hiermit relativiert sich zum einen häufig zugleich das Gewicht der grundrechtlichen Beeinträchtigung (vgl. Krampen-Lietzke, Der Dispens vom Schulunterricht aus religiösen Gründen, 2013, S. 267). Vor allem aber liefe eine Betrachtungsweise, die ein Versäumnis einzelner oder ihrer Zahl nach begrenzter Unterrichtseinheiten – gegebenenfalls auch unter Verweis auf ihren vorgeblich geringen bildungsmäßigen Stellenwert – für vernachlässigenswert hält, auf eine unzulässige Ausblendung der Integrationsfunktion der Schule hinaus. Diese kommt – auch im schulischen Wirkungsfeld der Wissens- und Fertigkeitsvermittlung – unabhängig vom jeweils in Rede stehenden Unterrichtsstoff zum Tragen und folgt nach dem oben Gesagten einer starren, gleichwohl aber verfassungsrechtlich tragfähigen Modellvorstellung: Der einzelne Schüler soll an sämtlichen schulischen Veranstaltungen teilnehmen müssen, weil nur die permanente, obligatorische Teilhabe am Schulunterricht unter Hintanstellung aller entgegenstehenden individuellen Präferenzen gleich welcher Art jenen gemeinschaftstiftenden Effekt zu erzeugen vermag, der mit der Schule bezweckt wird und der die Einführung der staatlichen Schulpflicht zu wesentlichen Anteilen legitimiert; dieser Vorstellung kommt – wie oben gleichfalls schon aufgezeigt – gerade auch dort besonderes Gewicht zu, wo sich der Einzelne durch die Unterrichtsteilnahme in Belangen beeinträchtigt sieht, die ihn in eine Minderheitenposition rücken. Von der Schulpflicht sind dementsprechend auch solche Unterrichtseinheiten nicht ausgenommen, die nur einen begrenzten Umfang aufweisen oder deren Bildungsertrag dem Betroffenen gering erscheinen mag. Eine Betrachtung, wonach die Schulpflicht im Hinblick auf bestimmte Unterrichtseinheiten weniger gewichtig und insoweit ihr verfassungsrechtlicher Stellenwert geringer zu veranschlagen wäre als bei anderen, wäre insofern verfehlt. Der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag darf in Anbetracht der integrativen Funktion der Schule grundsätzlich nicht je nach Umfang oder Inhalt betroffener Unterrichtseinheiten als mehr oder wenig "nachgiebig" gegenüber anderen Verfassungspositionen eingestuft werden.
[21] 21 cc. Bieten danach Inhalt und Umfang der betroffenen Unterrichtseinheiten regelmäßig keinen Ansatz für einen Nachrang des staatlichen Bestimmungsrechts und kann auch der Einmaligkeit eines geltend gemachten Befreiungsverlangens meist keine ausschlaggebende Bedeutung zukommen, muss die Frage in den Vordergrund rücken, welches sachliche Gewicht nach den Umständen des Einzelfalls der Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit beizumessen ist. Im Lichte des erwähnten Grundsatzes, wonach solche Beeinträchtigungen regelmäßig als typische Begleiterscheinung des staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrags und der seiner Umsetzung dienenden Schulpflicht hinzunehmen sind, d. h. ihnen nur ausnahmsweise ausgewichen werden darf, ist ein Anspruch auf Unterrichtsbefreiung – das Fehlen annehmbarer Ausweichmöglichkeiten wie gesagt vorausgesetzt – grundsätzlich nur dann gerechtfertigt, wenn die Beeinträchtigung den Umständen nach eine besonders gravierende Intensität aufweist. Nur unter dieser Voraussetzung ist die rechtliche Wertung plausibel, dass die grundrechtliche Belastung durch die Verfassung nicht von vornherein in Art. 7 Abs. 1 GG einberechnet ist. Ist diese Voraussetzung nicht erfüllt, kommt dem staatlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag Vorrang zu. Einer weitergehenden Abwägung bedarf es dann nicht mehr; über die Zuordnung der konkurrierenden Positionen ist dann bereits abschließend, auf abstrakt-genereller Ebene durch die Verfassung entschieden. Ist diese Voraussetzung aber erfüllt, d. h. liegt eine besonders gravierende Beeinträchtigung religiöser Belange vor, führt dies noch nicht automatisch zu einem Zurücktreten des staatlichen Bestimmungsrechts. In diesem Fall weist der konkret zutage tretende Konflikt ein Ausmaß auf, das oberhalb der durch die Verfassung in Art. 7 Abs. 1 GG abstrakt einberechneten Belastungsschwelle liegt. Für die Frage, wie hier die konkurrierenden Positionen zuzuordnen sind, lässt sich der Verfassung keine vorgefasste Antwort entnehmen. Die rechtliche Bewertung hängt augenscheinlich von Faktoren ab – insbesondere der sachlichen Eigenart der religiösen Position und dem Umfang sowie der Art und Weise, mit der diese schulischen Funktionserfordernissen entgegenwirkt –, die von Fall zu Fall stark variieren können und über die daher eine allgemeingültige verfassungsrechtliche Aussage nicht getroffen werden könnte. Hier bedarf es dann der Vornahme einer weitergehenden Abwägung.
[22] 22 dd. Eine danach für den Vorrang der religiösen Position vorauszusetzende besonders gravierende Intensität der Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit kommt überhaupt nur in Betracht, sofern ein religiöses Verhaltensgebot aus Sicht des Betroffenen imperativen Charakter aufweist. Ein verlangtes Zuwiderhandeln gegen solche in unübersehbarer Zahl vorhandenen religiösen Überzeugungen, die lediglich in nicht abschließend bindender Weise Orientierung und Anleitung für eine in religiöser Hinsicht optimierte Lebensführung vermitteln sollen, rechtfertigt in keinem Fall einen Vorrang der religiösen Position. Sind solche Überzeugungen auch in den Schutzbereich der Glaubensfreiheit bzw. des religiösen Erziehungsrechts einbezogen (BVerfG, Urteil vom 24. September 2003 – 2 BvR 1436/02BVerfGE 108, 282 [297]), so entsteht doch kein Glaubens- bzw. Gewissenskonflikt unzumutbaren Ausmaßes, wenn sie nicht vollumfänglich verwirklicht werden können. In Bezug auf imperative Glaubenssätze stoßen die Möglichkeiten des Staates, sie nach Maßgabe seiner externen Beurteilung untereinander in Rangstufen zu setzen und hieran anknüpfend unterschiedliche Grade der Beeinträchtigungsintensität für den Fall eines erzwungenen Zuwiderhandelns auszumachen, insofern auf Grenzen, als diese Glaubenssätze in Abhängigkeit vom staatlicherseits zu respektierenden Selbstverständnis der betroffenen Glaubensgemeinschaft bzw. des individuellen Grundrechtsträgers stehen und daher dem eigenständig bewertenden Zugriff des Staates entzogen sind (vgl. Germann, in: Epping/Hillgruber, Beck'scher Online-Kommentar GG, Stand 15. Mai 2013, Art. 4 Rn. 16). Der Staat muss jedoch nicht die Augen davor verschließen, dass zahlreiche Glaubensgemeinschaften tatsächlich von entsprechenden Abstufungen ausgehen und nicht sämtlichen religiösen Geboten unbeschadet ihres für sich genommen jeweils bindenden Charakters ein- und dasselbe Gewicht zumessen (vgl. Borowski, Die Glaubens- und Gewissensfreiheit des Grundgesetzes, 2006, S. 288; Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002, S. 379). Es ist Aufgabe der Verwaltung wie des Tatrichters, auf Grundlage der Angaben des Betroffenen – die zu machen diesem obliegen – aufzuklären, welcher Stellenwert einem in Rede stehenden, imperativ bindenden religiösen Verhaltensgebot im Rahmen des Gesamtgerüsts seiner Glaubensüberzeugungen zukommt, und sich zu vergewissern, ob danach im Falle eines Zuwiderhandelns tatsächlich von einer besonders gravierenden Beeinträchtigungsintensität auszugehen ist, die in Art. 7 Abs. 1 GG nicht von vornherein mit einberechnet ist und die es nach dem Vorgesagten erforderlich macht, die religiöse Position in eine weitergehende Abwägung gegen das staatliche Bestimmungsrecht zu bringen. Es ist durchaus denkbar, dass einzelne religiöse Verhaltensgebote für den Betroffenen einen so untergeordneten Stellenwert besitzen, dass dieser sich nicht in eine glaubensbedingte Gewissensnot gravierenden Ausmaßes versetzt, wenn er sie in einer Konfliktlage vernachlässigt, um auf diese Weise einem entgegenstehenden staatlichen Normbefehl Folge leisten zu können.
[23] 23 c. Im Lichte der vorstehend unter a. und b. dargestellten Maßstäbe stand der Klägerin im vorliegenden Fall kein grundrechtlicher Anspruch auf Befreiung vom koedukativen Schwimmunterricht zu.
[24] 24 aa. Dies folgt im Hinblick auf das von ihr als verbindlich erachtete Gebot, ihren Körper gegenüber Angehörigen des männlichen Geschlechts weitgehend zu bedecken, schon daraus, dass die ihr mit der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht drohende Einschränkung ihres religiösen Bestimmungsanspruchs auf ein für sie hinnehmbares Maß hätte zurückgestuft werden können, wenn sie das von der Schule unterbreitete Angebot aufgegriffen hätte, während dieses Unterrichts einen sogenannten Burkini zu tragen. Hiermit wäre – entsprechend der oben erwähnten Vorgabe der Herstellung praktischer Konkordanz im Einzelfall – eine ausgleichend-schonende Zuordnung der konträren Verfassungspositionen erreichbar gewesen. Die Unterrichtsteilnahme im Burkini stellte für die Klägerin eine annehmbare Ausweichmöglichkeit dar. Dass sie diese ausschlug, fällt nach dem oben Gesagten ihr zu Last:
[25] 25 Es ist – angesichts der vom Berufungsgericht festgestellten Eigenschaften dieses Kleidungsstücks – nicht nachvollziehbar, inwiefern die Klägerin selbst bei Anlegen eines Burkini nicht hinreichend ihren religiösen Überzeugungen hätte folgen können. Soweit die Klägerin nunmehr im Stadium des Revisionsverfahrens vorträgt, bei Tragen eines Burkini hätten sich ihre Körperkonturen abbilden können, kann sie hiermit kein Gehör finden. Die Feststellung, welchen religiösen Überzeugungen eine Person folgt und inwiefern diese Überzeugungen der Befolgung eines staatlichen Normbefehls entgegenstehen könnten, obliegt wie jede andere Tatsachenfeststellung dem Tatrichter, der hierfür auf Darlegungen von Seiten des Grundrechtsträgers angewiesen ist. An die tatrichterlichen Feststellungen ist das Revisionsgericht gebunden; darüber hinausgehende Feststellungen zu treffen ist das Revisionsgericht nicht befugt (§ 137 Abs. 2 VwGO). Mangels entsprechender Darlegungen der Klägerin hat im vorliegenden Fall der Verwaltungsgerichtshof nicht die Feststellung treffen können, auch bei Anlegen eines Burkini wäre sie – wegen der hiermit verbundenen Gefahr, dass sich ihre Körperkonturen abzeichnen – in ihrer Glaubensfreiheit beeinträchtigt worden. Unabhängig hiervon erscheint der Vortrag der Klägerin auch in der Sache nicht plausibel. Sie nimmt nach eigener Einlassung am sonstigen Sportunterricht in langärmligem Hemd und langer Hose teil. Auch bei Verwendung weit geschnittener Kleidung ist es im Sportunterricht unvermeidlich, dass sich in der Bewegung Körperkonturen abzeichnen. Gleichwohl sieht sich die Klägerin nicht aus Glaubensgründen an einer Teilnahme am sonstigen Sportunterricht gehindert. Einen nachvollziehbaren, gerade in ihren religiösen Überzeugungen wurzelnden Grund für eine abweichende diesbezügliche Bewertung von Schwimm- und sonstigem Sportunterricht hat die Klägerin nicht vorgetragen.
[26] 26 Auch soweit die Klägerin entgegenhält, das Tragen eines Burkini führe zu religiöser Stigmatisierung und Ausgrenzung, vermag der Senat ihr nicht zu folgen. Zwar ist nicht von der Hand zu weisen, dass der Anblick eines Burkini einzelne Mitschüler zu intoleranten sozialen Reaktionen veranlassen könnte, wenngleich die dahingehende Gefahr schon deshalb begrenzt sein dürfte, weil – wie der Verwaltungsgerichtshof tatrichterlich festgestellt hat –, das Tragen eines solchen Kleidungsstücks mittlerweile sowohl in islamisch geprägten Ländern wie auch in Deutschland Verbreitung gefunden hat. Allerdings muss derjenige, der auf die konsequente Umsetzung seiner religiösen Überzeugungen im Rahmen des Schulunterrichts dringt und von der Schule in diesem Zusammenhang Rücksichtnahme einfordert, seinerseits grundsätzlich akzeptieren, dass er sich hierdurch in eine gewisse, für andere augenfällig hervortretende Sonderrolle begeben kann. Hieraus erwachsende Belastungen sind nur dann unannehmbar, wenn sie ein noch angemessenes Maß überschreiten. Die Vorgabe der Herstellung praktischer Konkordanz im Einzelfall verlangt von allen Beteiligten die Bereitschaft, von einer optimalen Verwirklichung ihrer Anliegen Abstand zu nehmen und bis zu einer gewissen Grenze Nachteile in Kauf zu nehmen. In Anbetracht der Würdigung des Verwaltungsgerichtshofs, die Lehrkräfte hätten in Wahrnehmung ihrer Aufsichtsverantwortung unangemessenen Reaktionen seitens der Mitschüler entgegentreten können, war diese Grenze im vorliegenden Fall für die Klägerin nicht überschritten.
[27] 27 bb. Im Hinblick auf das von ihr in Bezug genommene Glaubensgebot, sich nicht mit dem Anblick von Männern bzw. Jungen in knapp geschnittener Badebekleidung zu konfrontieren, kann die Klägerin gleichfalls nicht zum Zuge kommen.
[28] 28 (1) Eine Konfliktentschärfung im Sinne der einzelfallbezogenen Herstellung praktischer Konkordanz wäre in diesem Zusammenhang nicht in Frage gekommen. Für die Klägerin wäre es nicht praktikabel gewesen, im Schwimmunterricht ihre männlichen Mitschüler visuell auszublenden. Auf der anderen Seite hätte, anders als die Klägerin meint, für die Schule die Veranstaltung monoedukativen Schwimmunterrichts gleichfalls keine annehmbare Ausweichmöglichkeit dargestellt. Eine Ausweichmöglichkeit ist für die Schule dann nicht annehmbar, wenn sie zu einer Art der Unterrichtsgestaltung führen würde, die ihrem fachlichen Konzept – das hier nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs im Einklang mit den schulgesetzlichen Vorschriften auf die gemeinsame Unterrichtung von Jungen und Mädchen gerichtet war – in gravierender Weise zuwiderliefe. Andernfalls würde die Befugnis der Schule, das Bildungs- und Erziehungsprogramm sowie die Modalitäten seiner praktischen Umsetzung anhand eigener Vorstellungen bestimmen zu können (vgl. BVerfG, Kammerbeschluss vom 9. Februar 1988 – 1 BvR 1181/88 – juris Rn. 4), in ihrem Kern in Frage gestellt und damit der Rahmen einer ausgleichend-schonenden Zuordnung der betroffenen Rechtspositionen überschritten werden. Der Grundsatz praktischer Konkordanz verlangt zwar nach dem oben Gesagten die Bereitschaft aller Beteiligten, im Einzelfall von einer optimalen Verwirklichung der eigenen Anliegen Abstand zu nehmen und bis zu einer gewissen Grenze Nachteile in Kauf zu nehmen. Diese Grenze ist aber dann überschritten, wenn eine in Rede stehende Ausweichmöglichkeit in Anbetracht des Gewichts der mit ihr verbundenen Konsequenzen die Position des hiervon Betroffenen in derart substantieller Weise beschneiden würde, dass die mit ihr angestrebte Konfliktentschärfung sich in Wahrheit als eine Vorrangentscheidung erweisen würde, mit der bezogen auf den Einzelfall letztlich eine Präferenzrelation zwischen den kollidierenden Rechtspositionen gebildet – statt ein Kompromiss gefunden – wird. Berücksichtigt man die elementare schulpolitische und -administrative Bedeutung der Wahl zwischen monoedukativer und koedukativer Unterrichtsgestaltung, läuft der Standpunkt der Klägerin eben hierauf hinaus. Ob das hier von der Schule mit der Einrichtung koedukativen Schwimmunterrichts verfolgte Konzept in pädagogischer Hinsicht für jedermann überzeugend erscheint, ist in diesem Zusammenhang ohne Belang, da keine durchgreifenden Belege dafür ersichtlich sind, dass die Schule mit ihm die Bandbreite noch als vertretbar einzustufender pädagogischer Lehrmeinungen verlassen hätte (vgl. im anderen Zusammenhang Urteil vom 30. Januar 2013 – BVerwG 6 C 6.12 – juris Rn. 30; vgl. auch BVerfG, Beschluss vom 22. Juni 1977 – 1 BvR 799/76BVerfGE 45, 400 [414 f.]). Soweit dem Urteil des Senats vom 25. August 1993 – BVerwG 6 C 8.91 – (Buchholz 421 Kultur- und Schulwesen Nr. 109 S. 50 f. – insoweit nicht abgedruckt in BVerwGE 94, 82 ff.) Gegenteiliges zu entnehmen ist, hält der Senat hieran aus den genannten Gründen nicht länger fest.
[29] 29 (2) Ist es danach an dieser Stelle unausweichlich, unter Einbezug der maßgeblichen Einzelumstände eine Vorrangentscheidung zwischen den kollidierenden Verfassungspositionen zu treffen, so muss diese zu Lasten der Klägerin ausfallen:
[30] 30 Aus den Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs ergibt sich schon nicht eindeutig, ob dem Glaubensgebot, sich nicht mit dem Anblick von Männern bzw. Jungen in knapp geschnittener Badebekleidung zu konfrontieren, im Verhältnis zu anderen von der Klägerin als religiös bindend erachteten Geboten ein erhöhter Stellenwert zukommt und ihre Freiheit, das eigene Verhalten an Glaubensüberzeugungen auszurichten, durch die mit der Teilnahme am koedukativen Schwimmunterricht einhergehende Zuwiderhandlung gegen dieses Gebot nicht nur überhaupt, sondern darüber hinaus in einer besonders gravierenden, in Art. 7 Abs. 1 GG nicht von vornherein mit einberechneten Intensität beeinträchtigt worden wäre. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, hätte die Glaubensfreiheit der Klägerin in Ansehung des besonderen Zuschnitts des fraglichen Glaubensgebots sowie der Art und Weise, in der es schulischen Funktionserfordernissen entgegenwirkt, zurücktreten müssen. Das Gebot läuft darauf hinaus, vom Anblick einer Bekleidungspraxis verschont zu werden, die auch außerhalb der Schule zum allgemein akzeptierten Alltagsbild – jedenfalls an bestimmten Orten bzw. zu bestimmten Jahreszeiten – gehört. Mit ihrem Befreiungsverlangen knüpfte die Klägerin ihre Bereitschaft, am Schulunterricht teilzunehmen, an die Bedingung, dass dort ein bestimmter, nach allgemeiner Auffassung unverfänglicher Ausschnitt sozialer Realität ausgeblendet werden sollte. Dies stellt den schulischen Wirkungsauftrag in seinem Kern in Frage. Die Schule soll, neben ihrer Bildungsaufgabe, unter den von ihr vorgefundenen Bedingungen einer pluralistisch und individualistisch geprägten Gesellschaft eine für das Gemeinwesen unerlässliche Integrationsfunktion erfüllen (s. o.). Hierbei kommt dem Anliegen, bei allen Schülern die Bereitschaft zum Umgang mit bzw. zur Hinnahme von Verhaltensweisen, Gebräuchen, Meinungen und Wertanschauungen Dritter zu fördern, die ihren eigenen religiösen oder kulturellen Anschauungen widersprechen, entscheidende Bedeutung zu. In der Konfrontation der Schüler mit der in der Gesellschaft vorhandenen Vielfalt an Verhaltensgewohnheiten – wozu auch Bekleidungsgewohnheiten zählen – bewährt und verwirklicht sich die integrative Kraft der öffentlichen Schule in besonderem Maße. Diese würde tiefgreifend geschwächt werden, wenn die Schulpflicht unter dem Vorbehalt stünde, dass die Unterrichtsgestaltung die soziale Realität in solchen Abschnitten ausblendet, die im Lichte individueller religiöser Vorstellungen als anstößig empfunden werden mögen. Eine (partielle) Unterrichtsbefreiung könnte bei dieser Sachlage allenfalls in Betracht zu ziehen sein, wenn andernfalls das religiöse Weltbild des Betroffenen nach seiner Wahrnehmung insgesamt negiert – d. h. zugleich auch die religiöse Position in ihrem Kern in Frage gestellt – würde. Dafür, dass diese extreme Schwelle im vorliegenden Fall erreicht gewesen sein könnte, ergeben weder die Feststellungen des Verwaltungsgerichtshofs noch die ihnen zugrunde liegenden Darlegungen der Klägerin genügend Anhaltspunkte.
[31] 31 cc. Im Hinblick auf das von der Klägerin in Bezug genommene Gebot, keine männlichen Mitschüler zu berühren, genügt der Hinweis, dass die entsprechende Gefahr durch eine umsichtige Durchführung des Unterrichts von Seiten der Lehrkräfte sowie durch zusätzliche eigene Vorkehrungen der Klägerin auf dasjenige – für die Klägerin ohne weiteres hinnehmbare – Maß hätte reduziert werden können, mit dem sie auch außerhalb des Schwimmunterrichts im schulischen wie im außerschulischen Alltag ohnehin konfrontiert ist.
[32] 32 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.