Bundesgerichtshof

BGH, Beschluss vom 24. 4. 2014 – 5 StR 113/14 (lexetius.com/2014,1567)

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat am 24. April 2014 beschlossen:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Flensburg vom 26. August 2013 gemäß § 349 Abs. 4 StPO mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Jugendschutzkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
[1] Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, davon in einem Fall in Tateinheit mit schwerem sexuellem Missbrauch eines Kindes zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und zehn Monaten verurteilt. Die Revision des Angeklagten hat mit der Sachrüge Erfolg.
[2] 1. Nach den Feststellungen des Landgerichts besuchte der 9-jährige Nebenkläger S. an zwei nicht näher feststellbaren Tagen von Mitte August 2011 bis Mitte Oktober 2011 gemeinsam mit seinem damals 9-jährigen Verwandten M. den Angeklagten. Bei diesen Besuchen stimulierten sich der Nebenkläger und der Angeklagte jeweils gegenseitig manuell am entblößten erigierten Penis; beim zweiten Besuch nahm der Angeklagte entsprechende Handlungen auch mit dem Zeugen M. vor und führte zusätzlich bei diesem den Oralverkehr durch.
[3] Der Angeklagte hat die Taten bestritten und eine Reihe von Falschbelastungsmotiven angeführt, die im Wesentlichen auf Auseinandersetzungen mit der Familie S., insbesondere dem älteren Bruder des Nebenklägers, dem Zeugen Sc., zurückzuführen seien. Das Landgericht sieht den Angeklagten ausschließlich aufgrund der Angaben des Zeugen M. als überführt an. Es hat den Sachverhalt festgestellt, den der Zeuge konstant geschildert hat, und die in der Aussage enthaltenen Divergenzen zugunsten des Angeklagten nicht zugrunde gelegt. Keines der vom Angeklagten genannten Falschbelastungsmotive habe einen engen Bezug zum Zeugen M. aufgewiesen; gegen die Einbindung des Zeugen M. in ein eventuelles Komplott der Familie S. spreche jeweils die Entstehungsgeschichte seiner Aussage und der des Zeugen Sc.. Die Angaben des Nebenklägers hat das Landgericht nicht herangezogen, weil sie Abweichungen im Kerngeschehen aufwiesen, detailarm seien und eine fremdsuggestive Beeinflussung durch den Zeugen Sc., bei dem der Angeklagte im Sommer 2011 ebenfalls unter ähnlichen Umständen den Oralverkehr durchgeführt haben soll, nicht ausgeschlossen werden konnte.
[4] 2. Die der Verurteilung zugrundeliegende Beweiswürdigung hält sachlichrechtlicher Nachprüfung nicht stand. Die Würdigung der Aussage des von der Strafkammer als einzigen Belastungszeugen herangezogenen Zeugen M. erfüllt die insofern geltenden strengen Anforderungen nicht (vgl. etwa BGH, Urteile vom 29. Juli 1998 – 1 StR 94/98, BGHSt 44, 153, 158 f., und vom 12. Dezember 2012 – 5 StR 544/12 – sowie Beschluss vom 30. August 2012 – 5 StR 394/12, NStZ-RR 2013, 19 und 119).
[5] a) Die Urteilsgründe enthalten schon keine zusammenhängende Darstellung der Aussage des Zeugen M. mit den zugehörigen Details, die eine Überprüfung der Aussagequalität und -konstanz sowie eine Auseinandersetzung mit den im Einzelnen festgestellten, auch das Kerngeschehen betreffenden, Abweichungen in der eigenen Aussage des Belastungszeugen für das Revisionsgericht überprüfbar machen. Hinzu kommt, dass das Landgericht zwar keine Feststellungen auf die Angaben des Nebenklägers gestützt hat; es hat sich aber auch nicht damit auseinandergesetzt, ob diese insgesamt der Glaubhaftigkeit der zugrunde gelegten Angaben entgegenstehen könnten.
[6] b) Das Landgericht befasst sich zudem nur beiläufig mit der Entstehungsgeschichte der Aussagen des Zeugen M. und des Nebenklägers, ohne sie näher auszuführen. Namentlich teilen die Urteilsgründe nicht mit, wie es zur Aufdeckung der Taten und zur Anzeigeerstattung kam. Der Entstehungsgeschichte einer Aussage kommt aber gerade bei der Bewertung kindlicher Zeugen in Missbrauchsfällen besondere Bedeutung zu (vgl. BGH, Beschluss vom 5. November 1997 – 3 StR 558/97, BGHR StGB § 176 Abs. 1 Beweiswürdigung 3). Ihre Darstellung war hier gerade mit Blick auf das von dem Angeklagten behauptete Familienkomplott und den Tatvorwurf Sc. betreffend unentbehrlich.
[7] Der Zeuge M. ist erstmals am 13. Januar 2012 polizeilich vernommen worden. Ausgangspunkt für seine Vernehmung waren die Angaben des Nebenklägers in dessen polizeilicher Vernehmung vom 9. Januar 2012. Das Landgericht hätte deshalb darstellen müssen, welche Angaben der Nebenkläger in dieser vorangegangenen Vernehmung gemacht hat und wie es wiederum zur Entstehung und Entwicklung dieser Aussage kam.
[8] Am 16. Januar 2012 ist dann der Zeuge Sc. zu dem ihn betreffenden (von der Staatsanwaltschaft inzwischen eingestellten) Missbrauchsvorwurf gegen den Angeklagten polizeilich vernommen worden. Dieser enge zeitliche Zusammenhang seiner Vernehmung mit den polizeilichen Vernehmungen der geschädigten Kinder, die Ähnlichkeit der Tatvorwürfe und der Umstand, dass sich um die Familie des Nebenklägers, insbesondere um seinen Bruder, eine Reihe von möglichen Falschbelastungsmotiven rankt, hätten es erfordert, auch ihn betreffend Aussageentstehung und -entwicklung eingehender darzustellen und insbesondere auch in diesem Zusammenhang die Umstände und den Zeitpunkt der Anzeigeerstattung im Einzelnen darzulegen.
[9] c) Schließlich ist die Feststellung, der Zeuge M. habe vor seiner Vernehmung mit niemandem über das Geschehen gesprochen (UA S. 17), durchgreifenden Zweifeln unterworfen. Insbesondere wäre zu erörtern gewesen, ob und inwieweit zwischen dem Zeugen M. und dem Nebenkläger Gespräche über die gemeinsam erlebten Taten, deren Aufdeckung und das Ermittlungsverfahren stattgefunden haben, um eine gegenseitige Beeinflussung der Zeugen – auch vor dem Hintergrund einer möglichen Fremdsuggestion durch den Zeugen Sc. (vgl. UA S. 19) – ausschließen zu können. Zudem erscheint die Annahme, dass die von der Polizei über den wesentlichen Inhalt der Aussage des Nebenklägers informierten Eltern des Zeugen M. vor dessen Vernehmung ihren Sohn nicht auf die Vorwürfe angesprochen haben sollen, schon nach der Lebenserfahrung zweifelhaft. Insoweit verweist der Senat ergänzend auf den Revisionsvortrag im Zusammenhang mit einer zulässig erhobenen Aufklärungsrüge.
[10] 3. Die Sache bedarf daher insgesamt neuer Verhandlung und Entscheidung.
[11] Angesichts des Alters der zur Tatzeit kindlichen Zeugen und der gesamten Begleitumstände wird das neue Tatgericht die Einholung von Glaubhaftigkeitsgutachten ernsthaft zu erwägen haben.
[12] Der Senat weist darauf hin, dass die Aussagen des Nebenklägers und des Zeugen Sc. durchaus geeignet sein könnten, die Angaben des Zeugen M. zu stützen. Dies setzt freilich eine sorgfältige Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten gegenseitiger Beeinflussung der drei Zeugen voraus.