Bundesgerichtshof
BGB § 1896 Abs. 2; StGB § 63
Allein die Unterbringung des betreuungsbedürftigen Betroffenen in einer forensischen Klinik gemäß § 63 StGB lässt den Betreuungsbedarf nicht entfallen.

BGH, Beschluss vom 20. 5. 2015 – XII ZB 96/15; LG Stralsund (lexetius.com/2015,1568)

Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 20. Mai 2015 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden- Boeger und Dr. Botur beschlossen:
Auf die Rechtsbeschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der 1. Zivilkammer des Landgerichts Stralsund vom 19. Mai 2014 hinsichtlich des Tenors zu Ziffer 1 aufgehoben.
Die Sache wird im Umfang der Aufhebung zur erneuten Behandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens, an das Landgericht zurückverwiesen.
Beschwerdewert: 5.000 €
[1] Gründe: I. Der Betroffene wendet sich mit seiner Rechtsbeschwerde gegen die Aufhebung der für ihn eingerichteten Betreuung.
[2] Der 1961 geborene Betroffene leidet unter einer mittelgradigen Intelligenzminderung mit deutlicher Verhaltensstörung. Von 1965 bis 1980 war er geschlossen in der Psychiatrie untergebracht. Eine weitere Unterbringung erfolgte ab 1981 bis 1991, dann von 1994 bis 1996. Seit 1993 wird der Betroffene gesetzlich betreut. Im Jahr 2002 wurde er wegen versuchten Totschlages in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung gemäß § 63 StGB in einem psychiatrischen Krankenhaus untergebracht. Die weitere Vollstreckung dieser Unterbringung wurde zuletzt mit Beschluss vom 25. Februar 2014 angeordnet.
[3] Das Amtsgericht hat die Betreuung, die für die Aufgabenkreise Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Vermögenssorge und Vertretung gegenüber Behörden, Ämtern, Einrichtungen und Versicherungen angeordnet war, mit der Begründung aufgehoben, dass ein Betreuungsbedarf aufgrund der Unterbringung des Betroffenen in einer psychiatrischen Klinik nicht bestehe. Das Landgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Betroffene mit seiner Rechtsbeschwerde.
[4] II. Die Rechtsbeschwerde ist begründet.
[5] 1. Das Landgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt, dass die Voraussetzungen für die Anordnung der Betreuung nach wie vor vorlägen, da der Betroffene unter einer geistigen Behinderung in Form einer Intelligenzminderung leide, aufgrund derer er seine Angelegenheit nicht besorgen könne. Allerdings sei er seit seiner strafrechtlichen Verurteilung im Jahr 2002 in der Klinik für Forensische Psychiatrie gemäß § 63 StGB untergebracht. Diese Umstände rechtfertigten die Aufhebung der Betreuung. Die Angelegenheiten des Betroffenen könnten durch andere Hilfen ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden. Wie sich aus den Anhörungen des Betroffenen sowie den Ausführungen der Betreuerin, der behandelnden Ärztin und der Mitarbeiterin der Betreuungsbehörde ergebe, sei in den angeordneten Aufgabenkreisen nichts zu veranlassen. Im Bereich der Gesundheitssorge habe die Forensische Klinik auch in der Vergangenheit Anträge über das Betreuungsgericht an die Strafvollstreckungskammer gestellt. Die Renten des Betroffenen gingen derzeit auf das Girokonto. Von dort erfolge eine Dauerüberweisung auf das Verwahrgeldkonto der Klinik. Soweit Anträge beim Versorgungsamt zu stellen seien, gehe es lediglich um das Beiblatt für kostenfreie Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Diese Arbeit könne vom zuständigen Sozialarbeiter der Klinik übernommen werden. Die Kammer verkenne nicht, dass der Betroffene aufgrund der lebenslang bestehenden Hospitalisierung und der langjährigen Betreuung – durch die Betreuerin Frau F. immerhin seit beinahe acht Jahren – einen engen persönlichen Kontakt zu dieser aufgebaut habe und dieser Kontakt für den Betroffenen, die Heilbehandlungserfolge und die Gewährung "kleiner Freiheiten", wie Ausgänge und Lockerungserprobung positiv sei. Ein solcher persönlicher Kontakt könne jedoch nicht Gegenstand der Anordnung einer Betreuung im Sinne des § 1896 BGB sein. Diese Vorschrift habe vielmehr allein die rechtliche Betreuung des Betroffenen zum Gegenstand.
[6] 2. Diese Ausführungen halten der rechtlichen Nachprüfung nicht stand.
[7] a) Gemäß § 1908 d Abs. 1 Satz 1 BGB ist die Betreuung aufzuheben, wenn ihre Voraussetzungen wegfallen. Diese sind in § 1896 BGB geregelt.
[8] aa) Kann ein Volljähriger aufgrund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung seine Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen, bestellt das Betreuungsgericht auf seinen Antrag oder von Amts wegen für ihn einen Betreuer (§ 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB).
[9] Nach § 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB darf ein Betreuer nur für Aufgabenkreise bestellt werden, in denen die Betreuung erforderlich ist. Die Betreuung ist nicht erforderlich, soweit die Angelegenheiten des Volljährigen durch einen Bevollmächtigten, der nicht zu den in § 1897 Abs. 3 BGB bezeichneten Personen gehört, oder durch andere Hilfen, bei denen kein gesetzlicher Vertreter bestellt wird, ebenso gut wie durch einen Betreuer besorgt werden können, § 1896 Abs. 2 Satz 2 BGB.
[10] bb) Der Grundsatz der Erforderlichkeit verlangt für die Bestellung eines Betreuers die konkrete tatrichterliche Feststellung, dass sie – auch unter Beachtung der Verhältnismäßigkeit – notwendig ist, weil der Betroffene auf entsprechende Hilfen angewiesen ist und weniger einschneidende Maßnahmen nicht in Betracht kommen. Die Erforderlichkeit einer Betreuung darf sich dabei nicht allein aus der subjektiven Unfähigkeit des Betroffenen ergeben, seine Angelegenheiten selbst regeln zu können (Betreuungsbedürftigkeit). Hinzu treten muss ein konkreter Bedarf für die Bestellung eines Betreuers. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, ist aufgrund der konkreten gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen (Senatsbeschluss vom 21. Januar 2015 – XII ZB 324/14FamRZ 2015, 649 Rn. 7 mwN). Dabei ist das Vorliegen eines aktuellen Handlungsbedarfs nicht zwingend erforderlich; es genügt, dass dieser Bedarf jederzeit auftreten kann und für diesen Fall die begründete Besorgnis besteht, dass ohne die Einrichtung einer Betreuung nicht das Notwendige veranlasst wird (Senatsbeschluss vom 21. Januar 2015 – XII ZB 324/14FamRZ 2015, 649 Rn. 9 mwN).
[11] (1) Bei der Frage, ob faktische Hilfen durch Verwandte, Freunde oder soziale Dienste eine Betreuung entbehrlich machen, kommt es darauf an, ob der festgestellte Betreuungsbedarf die Vornahme rechtlicher Handlungen im Namen des Betroffenen einschließt (MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl. § 1896 Rn. 46). Sobald rechtsgeschäftliche Willenserklärungen oder Einwilligungen zu ärztlichen Heileingriffen abzugeben sind, kann nur eine Person für den Hilfebedürftigen handeln, die mit entsprechender Vertretungsmacht ausgestattet ist (BTKomm/Roth 4. Aufl. S. 10 Rn. 20; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl. § 1896 Rn. 45). Ist der Betreute geschäftsunfähig und fehlt es – wie hier – an einem Bevollmächtigten, so kommt als gesetzlicher Vertreter gemäß § 1902 BGB nur der Betreuer im Rahmen seiner Aufgabenkreise in Betracht.
[12] (2) Auch wenn sich der Betroffene im Maßregelvollzug nach § 63 StGB befindet und deshalb ärztlich zu behandeln ist, kann ein Betreuungsbedarf für die Gesundheitssorge gegeben sein. Ist der Betroffene aufgrund seiner psychischen Erkrankung nicht in der Lage, seine Krankheit und die daraus folgende Behandlungsbedürftigkeit einzusehen, ist der Betreuer die geeignete Person, um in die ärztliche Behandlung einzuwilligen. Dies gilt sowohl für die Anlasserkrankung als auch für die sonstigen Krankheiten des Betroffenen (BayObLG FPR 2003, 260; differenzierend: nur für sonstige Erkrankungen OLG Schleswig FamRZ 2007, 2007, 2008). Der Betreuer kann die geplante ärztliche Maßnahme mit den Ärzten und dem Betroffenen besprechen und, soweit dem Wohl des Betroffenen dienlich, die Einwilligung in die ärztliche Behandlung erteilen. Sollte die Einwilligung nicht erteilt werden, bleibt den Ärzten der gleiche Handlungsspielraum wie bei anderen untergebrachten Patienten. Durch die Einschaltung des Betreuers wird der Betroffene lediglich anderen – einwilligungsfähigen – Untergebrachten gleichgestellt (BayObLG FPR 2003, 260).
[13] b) Diesen Anforderungen wird die angegriffene Entscheidung nicht gerecht. Das Landgericht hat keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, dass in der gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen für die festgestellte Betreuungsbedürftigkeit tatsächlich der konkrete Bedarf durch die Unterbringung im Maßregelvollzug entfallen ist. Zudem rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Landgericht auf wesentlichen Vortrag des Betroffenen und der übrigen Beteiligten zum konkreten Betreuungsbedarf nicht eingegangen ist.
[14] Das Landgericht hat sich schon nicht die Frage vorgelegt, ob der Betroffene geschäfts- bzw. einwilligungsunfähig ist, was bei dessen Krankheitsbild naheliegen dürfte. Insoweit rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass das Gericht nicht auf die eingeholte Stellungnahme der Betreuerin eingegangen ist, wonach der Betroffene nicht lesen, schreiben und rechnen könne und sein geistiger Entwicklungsstand mit dem eines fünfbis sechsjährigen Kindes vergleichbar sei. Das Landgericht hat hierzu keine Feststellungen getroffen. Unterstellt man zugunsten der Rechtsbeschwerde, dass Geschäfts- und Einwilligungsunfähigkeit vorliegen, kann nach den bisherigen Ermittlungen nicht davon ausgegangen werden, dass der Betreuungsbedarf durch die Unterbringung des Betroffenen im Maßregelvollzug entfallen ist. Das gilt namentlich für die Gesundheitssorge, aber auch für die übrigen Aufgabenkreise.
[15] aa) Soweit das Landgericht ausführt, dass durch die Aufhebung der Betreuung im Bereich der Gesundheitssorge allein der Zwischenschritt über das Betreuungsgericht wegfallen würde, somit also die Forensische Klinik Anträge direkt an die Strafvollstreckungskammer stellen könne, vermag dies nicht zu überzeugen. Es ist nicht ersichtlich, wieso es im Rahmen der konkreten Unterbringungsmaßnahme entbehrlich sein soll, dass die Betreuerin zum Wohl des einwilligungsunfähigen – Betroffenen eine geplante ärztliche Maßnahme mit den Ärzten und dem Betroffenen besprechen und, soweit dem Wohl des Betroffenen dienlich, die Einwilligung in die ärztliche Behandlung erteilen kann.
[16] Das gilt erst recht für sonstige ärztliche Maßnahmen, die nichts mit der Krankheit zu tun haben, aufgrund derer der Betroffene untergebracht worden ist. Die Mitarbeiter der forensischen Klinik sind nicht berechtigt, insoweit in Behandlungen für den Betroffenen einzuwilligen.
[17] Auf die von der Rechtsbeschwerde angesprochene Gefahr eines Interessenwiderstreits kommt es danach nicht an.
[18] bb) Das Vorstehende gilt entsprechend für die übrigen, hier gegenständlichen Aufgabenkreise.
[19] (1) Soweit es die Vermögenssorge anbelangt, hat das Landgericht selbst darauf hingewiesen, dass der Betroffene kostenfreie Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu beantragen und dazu das entsprechende Beiblatt auszufüllen hat. Zwar mögen die Mitarbeiter der Klinik das Formular für den Betroffenen ausfüllen können. Mit der Frage, inwieweit der rechtsgeschäftliche Antrag (vgl. dazu BTKomm/Roth 4. Aufl. S. 10 Rn. 20; MünchKommBGB/Schwab 6. Aufl. § 1896 Rn. 46) durch einen Geschäftsunfähigen ohne gesetzlichen Vertreter wirksam gestellt werden kann, hat sich das Gericht indes nicht befasst.
[20] Soweit das Landgericht meint, dass der Sozialarbeiter oder der Therapeut der Klinik das Geld des Betroffenen verwalten könnten, hat es verkannt, dass weder diese – mangels eigener Vollmacht – noch der Betroffene selbst mangels Geschäftsfähigkeit – über dessen Konten verfügen können. Insoweit hat die Rechtsbeschwerde zu Recht gerügt, dass das Landgericht den Vortrag des Betroffenen in seiner Beschwerdebegründung nicht beachtet hat, wonach ohne eine Betreuung niemand Zugriff auf seine Konten habe und er selbst nicht in der Lage sei, seine Bankgeschäfte zu erledigen.
[21] (2) Zwar ist dem Landgericht dem Grunde nach beizupflichten, soweit es den Betreuungsbedarf für das Aufenthaltsbestimmungsrecht wegen des Maßregelvollzugs verneint. Indes rügt die Rechtsbeschwerde zu Recht, dass es sich insoweit nicht mit der von der H. eingeholten Stellungnahme auseinandergesetzt hat. Dort heißt es, dass eine Aufenthaltsbestimmung bei der favorisierten Rehabilitation des Betroffenen in eine voll stationäre psychiatrische Wohneinrichtung unmittelbar wieder Bedeutung erlangen könne, weil für die Einleitung einer Rehabilitationsphase eine fortbestehende Betreuung Voraussetzung wäre. Dass es insoweit am Vorliegen eines aktuellen Handlungsbedarfs fehlt, ist unschädlich. Es genügt vielmehr, dass dieser Bedarf jederzeit auftreten kann und für diesen Fall die begründete Besorgnis besteht, dass ohne die Einrichtung einer Betreuung nicht das Notwendige veranlasst wird (Senatsbeschluss vom 21. Januar 2015 – XII ZB 324/14FamRZ 2015, 649 Rn. 9 mwN). Ferner weist das Klinikum darauf hin, dass die Betreuerin Ausgänge mit dem Betroffenen durchführe und diese zur Lockerungserprobung beitrügen. Gemessen hieran besteht auch hinsichtlich des Aufenthaltsbestimmungsrechts ein Betreuungsbedarf.
[22] (3) Schließlich kann ebenso wenig die Erforderlichkeit des Aufgabenkreises Vertretung gegenüber Behörden, Ämtern, Einrichtungen und Versicherungen verneint werden.
[23] Im Kern geht es hierbei darum, dem Betroffenen zu ermöglichen, sich im Rahmen des Maßregelvollzuges an die Strafvollstreckungskammer zu wenden, sei es mit Anträgen oder Beschwerden. Unbeschadet der Frage, inwiefern dies Geschäftsfähigkeit voraussetzt, muss er die Möglichkeit haben, sich mit jemandem außerhalb der Anstalt, also seiner Betreuerin, ins Benehmen zu setzen, um insoweit sinnvoll agieren zu können. Der Betroffene selbst wird regelmäßig nicht in der Lage sein, die Sinnhaftigkeit solcher Anträge zu prüfen und damit regelmäßig auch von entsprechenden Rechtsmitteln abgeschnitten sein. Auf die Mitarbeiter der Klinik wird insoweit als Hilfestellung nicht zurückgegriffen werden können.
[24] c) Gemäß § 74 Abs. 5 FamFG ist der angefochtene Beschluss aufzuheben. Weil noch weitere Feststellungen zu treffen sind, ist es dem Senat nicht möglich, in der Sache abschließend zu entscheiden. Deswegen ist die Sache zur erneuten Behandlung und Entscheidung an das Landgericht zurückzuverweisen.