Bundesgerichtshof

BGH, Urteil vom 3. 6. 2015 – 5 StR 628/14 (lexetius.com/2015,1596)

Der 5. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat in der Sitzung vom 3. Juni 2015, an der teilgenommen haben: Richter Prof. Dr. Sander als Vorsitzender, Richter Dölp, Richter Prof. Dr. König, Richter Dr. Berger, Richter Bellay als beisitzende Richter, Oberstaatsanwältin beim Bundesgerichtshof als Vertreterin der Bundesanwaltschaft, Rechtsanwalt St. als Verteidiger des Angeklagten A. S., Rechtsanwalt E. als Verteidiger des Angeklagten T. S., Rechtsanwalt G. als Vertreter der Nebenkläger G. K. und J. K., Justizangestellte als Urkundsbeamtin der Geschäftsstelle, für Recht erkannt:
Auf die Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger K. wird das Urteil des Landgerichts Kiel vom 7. Juli 2014 im Fall 5 der Urteilsgründe mit den zugehörigen Feststellungen zur subjektiven Tatseite und in den Gesamtstrafaussprüchen aufgehoben.
Im Übrigen werden die Revisionen verworfen.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere als Schwurgericht tätige Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
[1] Gründe: Das Landgericht hat die Angeklagten jeweils wegen erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit schwerem Raub in zwei Fällen, davon in einem Fall zusätzlich in Tateinheit mit fahrlässiger Tötung (Fall 5), wegen schwerer räuberischer Erpressung sowie versuchten schweren Raubes in Tateinheit mit Diebstahl mit Waffen in zwei Fällen zu Gesamtfreiheitsstrafen von neun Jahren und zehn Monaten (A. S.) und von acht Jahren und sechs Monaten (T. S.) verurteilt. Der Senat hat die Revisionen der Angeklagten im Beschlusswege verworfen. Die wirksam auf den Fall 5 beschränkten Revisionen der Staatsanwaltschaft und der Nebenkläger K., die sich jeweils mit der Sachrüge gegen die unterbliebene Verurteilung auch wegen Raubes mit Todesfolge (§ 251 StGB) wenden, haben Erfolg.
[2] 1. Nach den insoweit getroffenen landgerichtlichen Feststellungen überfielen die Angeklagten die 82 Jahre alten Eheleute Ge. und H. K. in deren Wohnung, um insbesondere Geld zu erbeuten. Unter einem Vorwand lockten sie Herrn K. aus der Wohnung, überwältigten ihn, wodurch er eine Lockerung des Schneidezahns, eine Oberlippenschwellung und eine Einblutung am Mund erlitt, fesselten seine Hände mit Kabelbindern auf dem Rücken und drangen mit ihm gegen 22. 10 Uhr in die Wohnung ein. An der Wohnzimmertür stießen die dunkel gekleideten, mit Sturmhauben maskierten und Handschuhe tragenden Angeklagten auf die schwer asthmakranke und auf Gehhilfen angewiesene Frau K.. Als diese ihren gefesselten Mann in der Gewalt der offen mit einer Pistole bewaffneten Angeklagten wahrnahm, begann sie, hysterisch zu schreien, und versuchte zweimal, A. S. mit ihrer Krücke zu schlagen. Dieser schob sie ins Wohnzimmer zurück, drückte sie auf die Couch und forderte sie auf, ruhig zu sein, sonst werde geschossen.
[3] Während A. S. mit der Waffe in der Hand das Ehepaar K. bewachte, suchte T. S. im Wohn- und Schlafzimmer nach Geld und Wertsachen. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß Frau K. auf dem Sofa. Infolge ihrer Aufregung und Angst geriet sie in akute Atemnot. Herr K. wies die Angeklagten darauf hin, dass seine Frau einen Asthmaanfall habe und ihr – im 24 qm großen Wohnzimmer in einem Wandregal offen aufgestelltes und stets einsatzbereites – Inhalationsgerät benötige. Der Angeklagte A. S. ging darauf nicht ein und rief immer wieder "Geld, Geld, Geld".
[4] Gleiches geschah auf einen weiteren Hinweis Herrn K. s, dass seine Frau jetzt das Inhalationsgerät benutzen müsse. Erst als A. S. wahrnahm, dass Frau K. unter erheblichen Anstrengungen nach Luft rang, erlaubte er ihr, das Gerät zu benutzen. Ihr gelangen jedoch nur noch drei oder vier Züge, die keine Besserung brachten. Sie rutschte vom Hocker. Auf dem Fußboden liegend rang sie weiter nach Luft und lief blau an. Herr K. rief den Angeklagten zu, dass seine Frau einen Notarzt brauche, andernfalls sie ersticken werde. A. S. erwiderte "Nix Arzt, Geld oder schießen".
[5] Etwa 30 Sekunden später erhielt Herr K. auf sein erneutes Verlangen nach einem Notarzt abermals eine ablehnende Antwort. Als er zum dritten Mal darum bat, einen Notarzt zu rufen, realisierte T. S., der selbst Asthmatiker ist, dass Frau K. dringend ärztliche Hilfe benötigte. Er löste nach Unterredung mit A. S. Herrn K. s Fesselung. Die Angeklagten verließen etwa eine Viertelstunde nach dem Betreten die Wohnung. Herr K. benachrichtigte sofort die Rettungsleitstelle. Die nach einem Herzkreislaufstillstand seiner Frau eingeleiteten Reanimationsmaßnahmen blieben jedoch erfolglos. H. K. verstarb infolge des durch den Überfall ausgelösten Asthmaanfalls.
[6] 2. Das Landgericht hat bei der Prüfung des § 251 StGB angenommen, dass sich in Frau K. s Tod die dem (schweren) Raub innewohnende besondere Gefährlichkeit objektiv verwirklicht habe. Es hat sich aber nicht davon zu überzeugen vermocht, dass die Angeklagten durch das Nichtzulassen des Inhalierens leichtfertig gehandelt hätten. Für sie sei zu diesem Zeitpunkt eine konkrete Lebensgefahr nicht ersichtlich gewesen. Selbst Herr K. habe die Situation so eingeschätzt, dass seine Frau lediglich inhalieren müsse, damit es ihr wieder besser gehe. Das Bestehen einer "besonderen Lebensgefahr" habe sich den Angeklagten nach ihren Erkenntnismöglichkeiten auch nicht aufdrängen müssen. Selbst wenn man ihr Verhalten nach Frau K. s Herunterrutschen auf den Boden als leichtfertig erachten würde, wäre das anfängliche Nichtreagieren auf die von Herrn K. verlangte Alarmierung eines Notarztes nicht mehr ursächlich für den Tod gewesen. Denn zu diesem Zeitpunkt sei bereits ein Zustand erreicht gewesen, in dem eine Umkehrung des lebensbedrohlichen Asthmaanfalls nicht mehr möglich gewesen wäre.
[7] 3. Die Begründung, mit der das Landgericht die Annahme von Leichtfertigkeit im Sinne des § 251 StGB zum Zeitpunkt des Nichtzulassens des Inhalierens verneint hat, hält sachlich-rechtlicher Prüfung nicht stand. Denn dieser Bewertung liegt eine lückenhafte Würdigung der relevanten Tatumstände zugrunde.
[8] a) Allerdings ist das Landgericht im Ansatz von zutreffenden rechtlichen Maßstäben ausgegangen. Danach ist leichtfertig ein Verhalten, das bezogen auf den Todeseintritt einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit aufweist; leichtfertig handelt hiernach, wer die sich ihm aufdrängende Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs aus besonderem Leichtsinn oder besonderer Gleichgültigkeit außer Acht lässt (vgl. BGH, Urteil vom 9. November 1984 – 2 StR 257/84, BGHSt 33, 66, 67; s. auch BGH, Beschluss vom 20. Oktober 1992 – GSSt 1/92, BGHSt 39, 100, 104; Vogel in LK-StGB, 12. Aufl., § 251 Rn. 9; Sander in MüKo-StGB, 2. Aufl., § 251 Rn. 12; Sinn in SK-StGB, 8. Aufl., § 251 Rn. 16). Das Gewicht der Fahrlässigkeit hängt dabei nicht nur vom Umfang der Tatsachenkenntnis, sondern auch vom Grad der Vermeidbarkeit ab, also inwieweit sich die Gefahr des Erfolgseintritts namentlich wegen der besonderen Gegebenheiten der Opfersituation aufdrängen musste; demgemäß kann unbewusste Fahrlässigkeit genügen (vgl. BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 331/99, BGHR StGB § 251 Leichtfertigkeit 1; Sander, aaO; Eser/Bosch in Schönke/Schröder, StGB, 29. Aufl., § 251 Rn. 6).
[9] b) Der Senat kann dahingestellt sein lassen, ob die Schwurgerichtskammer entsprechend der Auffassung der Revision trotz anderweitiger Formulierungen nicht in der Sache rechtsfehlerhaft lediglich an das Maß der Tatsachenkenntnis der Angeklagten angeknüpft, die Prüfung unbewusster Fahrlässigkeit also vernachlässigt hat. Dafür könnte sprechen, dass sie ihren Blick im Grunde auf den Zeitpunkt verengt hat, in dem der Eintritt höchster Lebensgefahr für jedermann offenkundig geworden war. Jedenfalls beruht aber die Würdigung des vorgelagerten Stadiums, in dem eine Rettung noch möglich gewesen wäre, auf einer unzureichenden Ausschöpfung der Feststellungen. Insbesondere hätten auch die Umstände einbezogen werden müssen, die das Landgericht (allein) im Rahmen der Prüfung des § 222 StGB als relevant angesehen hat (UA S. 39).
[10] Bereits danach lag die Möglichkeit eines tödlichen Verlaufs für die Angeklagten schon zu einem frühen Zeitpunkt des Tatgeschehens auf der Hand:
[11] Frau K. wurde völlig überraschend mit den dunkel gekleideten, vermummten und mit einer Pistole bewaffneten Angeklagten konfrontiert, die ihren Ehemann misshandelt und gefesselt hatten. Sie begann, in höchster Angst zu schreien, und unternahm aussichtslose Verteidigungsversuche. Gleichwohl wurde sie ins Wohnzimmer zurückgeschoben, auf die Couch gedrückt und rund 15 Minuten mit einer Pistole bedroht. Angesichts des von den Angeklagten erkannten überaus gebrechlichen Zustands der hochbetagten Frau war eine solche Behandlung schon für sich genommen geeignet, eine erhebliche Lebensgefahr herbeizuführen, und zwar unabhängig von ihrer schweren Asthmaerkrankung. Die verwehrte Nutzung des Inhalationsgeräts musste dabei auch aus Sicht der Angeklagten zu einer gravierenden Steigerung des ohnehin bestehenden hohen Risikos führen. In diesem Zusammenhang wäre von der Schwurgerichtskammer ferner zu würdigen gewesen, dass das Opfer nach den zugrunde gelegten Angaben Herrn K. s bereits "gehustet, nach Luft geschnappt und nur noch schwer Luft bekommen" hatte (UA S. 28), bevor die Angeklagten erstmals auf die Notwendigkeit der Inhalation aufmerksam gemacht worden waren. Nimmt man alles zusammen, so musste in einem solchen Maß mit tödlichen Folgen gerechnet werden, dass die Annahme von Leichtfertigkeit naheliegt. Letztlich obliegt diese Prüfung dem neu entscheidenden Tatgericht.
[12] 4. Die Schuldsprüche im Fall 5 haben daher keinen Bestand. Die Aufhebungen erfassen auch die an sich rechtsfehlerfreien Verurteilungen wegen erpresserischen Menschenraubes in Tateinheit mit schwerem Raub und fahrlässiger Tötung. Die subjektive Tatseite bedarf daher insgesamt nochmaliger Verhandlung und Entscheidung. Hingegen haben die rechtsfehlerfrei getroffenen Feststellungen zum objektiven Tatgeschehen Bestand. Es dürfen insofern ergänzend lediglich Feststellungen getroffen werden, die den bisherigen nicht widersprechen. Das neue Tatgericht wird auch den Qualifikationstatbestand des erpresserischen Menschenraubes mit Todesfolge nach § 239a Abs. 3 StGB in den Blick zu nehmen haben.
[13] 5. Der Wegfall der Verurteilungen in Fall 5 entzieht den hierfür verhängten Einsatzstrafen und den Gesamtfreiheitsstrafen die Grundlage.