Bundesverfassungsgericht

BVerfG, Beschluss vom 8. 11. 2016 – 1 BvR 935/14 (lexetius.com/2016,3824)

In dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der E … gGmbH, vertreten durch den Geschäftsführer H …, – Bevollmächtigter: Rechtsanwalt Michael Kluge, Beisterweg 1, 44227 Dortmund – gegen
a) das Urteil des Bundessozialgerichts vom 17. Dezember 2013 – B 1 KR 52/12 R –,
b) das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. Mai 2012 – L 5 KR 409/11 –,
c) den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Dortmund vom 30. Juni 2011 – S 13 KR 928/10 -
hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts durch den Vizepräsidenten Kirchhof, den Richter Eichberger und die Richterin Britz gemäß § 93b in Verbindung mit § 93a BVerfGG in der Fassung der Bekanntmachung vom 11. August 1993 (BGBl I S. 1473) am 8. November 2016 einstimmig beschlossen:
Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen.
[1] Gründe: I. 1. Die Verfassungsbeschwerde betrifft die Frage, ob für die Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (Medizinischer Dienst) zur Prüfung der Notwendigkeit einer stationären Behandlung eines Patienten aus einem Bundesland, der bei einer Betriebskrankenkasse mit Sitz in diesem Bundesland versichert ist, der Medizinische Dienst dieses Bundeslandes ausschließlich zuständig ist oder von der Krankenkasse nach ihrer Wahl auch der Medizinische Dienst in einem anderen Bundesland, also länderübergreifend beauftragt werden darf.
[2] 2. Die Beschwerdeführerin – ein Krankenhaus in Nordrhein-Westfalen – hat vor den Sozialgerichten erfolglos gegen eine Verurteilung zur Herausgabe der Behandlungsunterlagen eines Patienten an den Medizinischen Dienst in Rheinland-Pfalz mit der Argumentation geklagt, dass für alle Prüfaufgaben, die dem Medizinischen Dienst durch den Gesetzgeber in § 275 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) zugewiesen seien, kraft bundesgesetzlicher Vorgabe allein eine verbandliche beziehungsweise föderale Zuständigkeit des Medizinischen Dienstes entsprechend seiner föderalen Einrichtung auf Länderebene bestehe.
[3] Das Bundessozialgericht hat eine örtliche Begrenzung der Prüfungskompetenz des Medizinischen Dienstes auf der Grundlage der in den §§ 275, 276 SGB V enthaltenen Regelungen über Aufgaben und Zuständigkeit des Medizinischen Dienstes mit angegriffenem Urteil vom 17. Dezember 2013 verneint.
[4] II. Mit ihrer Verfassungsbeschwerde rügt die Beschwerdeführerin die Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaats- und Bundesstaatsprinzip sowie aus Art. 3 Abs. 1 GG.
[5] Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste der Beschwerdeführerin als zugelassener Krankenhausträgerin den Schutz ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit; dieser umfasse nicht nur den Betrieb des Krankenhauses, sondern auch dessen bestimmungsgemäßes Wirken im Rahmen der Gesetze. Den Patienten der Beschwerdeführerin stehe das Grundrecht auf Achtung ihrer Intim- und Privatsphäre und auf informationelle Selbstbestimmung (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) zu. Die Beschwerdeführerin sei verpflichtet, diese Rechte ihrer Patienten zu respektieren und bei dem Umgang mit deren Daten zu beachten.
[6] Mit seiner Auslegung des § 276 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB V, wonach die Krankenkassen den Medizinischen Dienst länderübergreifend beauftragen könnten, verkenne das Bundessozialgericht die Bedeutung der Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Bundesstaatsprinzip. Verfassungsrechtlich sei durch Art. 83 GG eine landesbezogene Aufgabenwahrnehmung der Medizinischen Dienste aufgrund der landesbezogenen Organisation vorgegeben.
[7] III. Die Verfassungsbeschwerde wird nicht zur Entscheidung angenommen. Der Verfassungsbeschwerde kommt keine grundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung zu. Die Annahme der Verfassungsbeschwerde ist auch nicht zur Durchsetzung der als verletzt bezeichneten Grundrechte angezeigt (§ 93a Abs. 2 Buchstabe b BVerfGG), weil die Verfassungsbeschwerde keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat (vgl. BVerfGE 90, 22 [26]; 96, 245 [250]; 108, 129 [136]; stRspr).
[8] 1. Soweit die Beschwerdeführerin rügt, sie sei in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit verletzt, die das bestimmungsgemäße Wirken im Rahmen der Gesetze garantiere, ist die Verfassungsbeschwerde unzulässig. Die Beschwerdeführerin beruft sich insoweit auf eine Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ihrer Patienten (Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG). Damit rügt sie in der Sache die Verletzung der Rechte anderer.
[9] Die Verfassungsbeschwerde ist für den Beschwerdeführer ein Rechtsbehelf zur Verteidigung eigener subjektiver Rechte (vgl. BVerfGE 15, 298 [301]; 43, 142 [147]). Zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gehört auch die schlüssige Behauptung des Beschwerdeführers, dass er selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch die öffentliche Gewalt in seinen grundrechtlich geschützten Positionen verletzt sei (vgl. BVerfGE 53, 30 [48]; 79, 1 [14 f.]; 102, 197 [206 f.]; 123, 267 [329]). Die Beschwerdeführerin macht insoweit hinsichtlich des vordergründig gerügten Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG im Ergebnis nicht eigene Grundrechte, sondern solche ihrer Patienten geltend.
[10] 2. Unzulässig ist die Verfassungsbeschwerde auch im Hinblick auf die Rüge einer Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG, da sie nicht entsprechend den Anforderungen der § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG substantiiert und schlüssig die Möglichkeit der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts aufzeigt. Nach diesen Vorschriften ist ein Beschwerdeführer gehalten, innerhalb der Beschwerdefrist die Grundrechtsverletzung durch Bezeichnung des angeblich verletzten Rechts und des die Verletzung enthaltenden Vorgangs substantiiert und schlüssig vorzutragen. Dabei hat er auch darzulegen, inwieweit durch die angegriffene Maßnahme das bezeichnete Grundrecht verletzt sein soll (vgl. BVerfGE 99, 84 [87]; 108, 370 [386]).
[11] Rügt ein Beschwerdeführer die Verletzung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes (Art. 3 Abs. 1 GG), so muss er Vergleichsgruppen bilden und vortragen, dass es sich bei den von ihm gebildeten Vergleichsgruppen um im Wesentlichen gleiche Sachverhalte handelt (vgl. BVerfGE 130, 151 [175]). Es muss plausibel dargelegt werden, wer in Bezug auf wen in welcher Weise benachteiligt wird. Die Verfassungsbeschwerde muss erkennen lassen, worin konkret ein individueller Nachteil liegt. Richtet sich der Angriff gegen eine Regelung, muss vorgetragen werden, zwischen welchen konkreten Vergleichsgruppen eine auch individuell nachteilig wirkende Ungleichbehandlung bestehen soll (vgl. BVerfGE 131, 66 [82]).
[12] Diesen Anforderungen wird die Verfassungsbeschwerde nicht gerecht. Aus dem Vortrag der Beschwerdeführerin ergibt sich keine verfassungswidrige Ungleichbehandlung im Prüfverfahren durch den Einsatz überörtlicher Medizinischer Dienste. Ein konkreter individueller Nachteil für die Beschwerdeführerin ist nicht erkennbar.
[13] 3. Im Übrigen ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet. Das angegriffene Urteil des Bundessozialgerichts verletzt die Beschwerdeführerin nicht in ihren Grundrechten.
[14] Das Bundessozialgericht hat § 276 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB V nach den allgemein anerkannten Auslegungsmethoden (vgl. BVerfGE 82, 6 [11]) ausgelegt. Es hat in nicht zu beanstandender Weise festgestellt, dass weder Wortlaut noch Systematik, Entstehungsgeschichte und Zielsetzung der gesetzlichen Regelungen Anhaltspunkte für die Annahme böten, dass die dem Medizinischen Dienst zugewiesenen Aufgaben ausschließlich nach räumlichen Wirkungskreisen wahrzunehmen seien. Das SGB V mache lediglich Vorgaben für die zwar grundsätzlich landesbezogene Organisationsstruktur des Medizinischen Dienstes und für seine Finanzierung, schränke ansonsten aber die örtliche Zuständigkeit des Medizinischen Dienstes nicht ein, sondern ermögliche an verschiedenen Stellen länderübergreifende Regelungen (vgl. § 281 Abs. 1 Satz 4 SGB V).
[15] Die von der Beschwerdeführerin begehrte einschränkende Auslegung des § 276 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 SGB V ist auch verfassungsrechtlich nicht geboten.
[16] Art. 83 GG ordnet zwar an, dass die Länder die Bundesgesetze als eigene Angelegenheit ausführen, soweit das Grundgesetz nichts anderes bestimmt oder zulässt. Der Spielraum des Bundesgesetzgebers bei der Regelung der Ausführung der Bundesgesetze durch die Länder muss sich in den Grenzen der Art. 83 ff. GG halten (vgl. BVerfGE 137, 108 [148]). Für die Sozialversicherung besteht indessen eine Sonderregelung in Art. 87 Abs. 2 GG (vgl. BVerfGE 63, 1 [36]; 119, 331 [370]). Art. 87 Abs. 2 GG räumt ihm für die Organisation und das Verfahren der Krankenversicherung einen großen Spielraum ein. Vom körperschaftlichen Status der Sozialversicherungsträger abgesehen, macht das Grundgesetz dem Bundesgesetzgeber keine inhaltlichen Vorgaben zur organisatorischen Ausgestaltung der Sozialversicherung (vgl. BVerfGE 113, 167 [201]; ähnlich BVerfGE 89, 365 [377]). Die Organisationsbefugnis des Bundes berechtigt ihn auch, Verbindungen zwischen Sozialversicherungsträgern herzustellen oder länderüberschreitende Leistungsbeziehungen zu regeln (vgl. BVerfGE 113, 167 [201 f.]). Ein Verbot bundesgesetzlicher Regelung länderübergreifenden Zusammenwirkens in der Krankenversicherung besteht mithin nicht.
[17] Diese Entscheidung ist unanfechtbar.