Bundesgerichtshof

BGH, Beschluss vom 17. 11. 2016 – 3 StR 342/15 (lexetius.com/2016,4459)

Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat nach Anhörung des Generalbundesanwalts und des Beschwerdeführers am 17. November 2016 beschlossen:
Dem Großen Senat für Strafsachen wird gemäß § 132 Abs. 2 GVG folgende Rechtsfrage zur Entscheidung vorgelegt:
Kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten?
[1] Gründe: I. 1. Das Landgericht Bad Kreuznach hat den Angeklagten wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in 35 Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt und ihn im Übrigen freigesprochen. Der Angeklagte wendet sich mit verfahrens- und materiellrechtlichen Beanstandungen gegen seine Verurteilung.
[2] Nach den vom Landgericht getroffenen Feststellungen entblößte der Angeklagte in dem Zeitraum vom 1. März 1990 bis zum 1. März 1994 in mindestens 35 Fällen beim Zubettbringen seiner am 1. März 1985 geborenen Tochter sein Geschlechtsteil vor dem Kind und veranlasste dieses, seinen Penis zu berühren. Das Mädchen nahm hierbei das Glied des Angeklagten in eine oder beide Hände, warf dieses zwischen den Händen hin und her oder umschloss es mit der ganzen Hand. Der Penis des Angeklagten war nicht in allen Fällen erigiert; in mindestens einem kam es jedoch zu einem Samenerguss. Wenigstens einmal berührte der Angeklagte mit dem Finger die entblößte Scheide des Kindes; in einem weiteren Fall demonstrierte er den Geschlechtsverkehr zwischen Mann und Frau, indem er sein Geschlechtsteil an der Scheide des Mädchens rieb. Während der Taten erklärte der einen offenen und liberalen Erziehungsstil pflegende Angeklagte, dass dies "dazu gehöre" und eine "gute Tochter das so mache". Allerdings schärfte er seiner Tochter auch ein, sie dürfe niemandem von den Geschehnissen berichten, da er sonst "ins Gefängnis müsse".
[3] 2. Nach Auffassung des Senats dringen die Verfahrensbeanstandungen aus den in der Antragsschrift des Generalbundesanwalts ausgeführten Gründen nicht durch. Der Schuldspruch hält materiellrechtlicher Überprüfung stand. Die Feststellungen beruhen auf einer nicht zu beanstandenden Beweiswürdigung; gegen die rechtliche Würdigung des Geschehens ist ebenfalls nichts zu erinnern.
[4] Der Senat beabsichtigt allerdings, auf die Sachrüge den gesamten Strafausspruch aufzuheben. Anlass hierzu gibt die unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Rechtsprechung des 1. Strafsenats (BGH, Beschluss vom 8. Februar 2006 – 1 StR 7/06, NStZ 2006, 393) vorgenommene Wertung des Landgerichts, zu Gunsten des Angeklagten spreche zwar, dass die Taten inzwischen sehr lange zurück lägen; jedoch könne dieser Umstand vorliegend nicht in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten, da der sexuelle Kindesmissbrauch im familiären Umfeld erfolgt und die späte Anzeige der Tat hierdurch mitbedingt gewesen sei, so dass die gesetzgeberische Wertung des § 78b StGB tangiert werde. Die Strafkammer hat durch den ausdrücklichen Verweis auf die Entscheidung des 1. Strafsenats und die Betonung der gesetzgeberischen Wertung des § 78b StGB deutlich gemacht, dass es bezüglich des Gewichts des Strafzumessungsgesichtspunktes Zeitablauf zwischen Tat und Urteil zwischen Straftaten, die in den Anwendungsbereich des § 78b StGB (im vorliegenden Zusammenhang allein in Betracht kommend: § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB) fallen, und sonstigen Straftaten generell unterscheidet. Der Senat hält diese Erwägung für rechtsfehlerhaft. Er kann nicht ausschließen, dass die Einzelstrafen und die Gesamtstrafe niedriger ausgefallen wären, hätte das Landgericht diesen Gesichtspunkt nicht in die Abwägung eingestellt.
[5] Der 1. Strafsenat hatte in der genannten Entscheidung im Einklang mit Erwägungen in einem früheren Urteil des 3. Strafsenats (BGH, Urteil vom 10. November 1999 – 3 StR 361/99, NJW 2000, 748, 749), das zu dem in § 358 Abs. 2 StPO normierten Verschlechterungsverbot ergangen war, ausgeführt, dem langen Abstand zwischen Tat und Urteil komme bei Fällen sexuellen Kindesmissbrauchs nicht eine gleich hohe Bedeutung wie in anderen Fällen zu.
[6] Dies gelte insbesondere in den Fällen, in denen ein Kind vom im selben Familienverband lebenden (Stief-) Vater missbraucht werde und erst im Erwachsenenalter die Kraft zu einer Aufarbeitung des Geschehens mit Hilfe einer Strafanzeige finde. Deshalb habe der Gesetzgeber auch die besondere Verjährungsregelung in § 78b StGB getroffen.
[7] Demgegenüber hatte der 5. Strafsenat zuvor in einem Fall, der die Vergewaltigung eines zur Tatzeit 14 Jahre alten Mädchens betraf, – nicht tragend – darauf hingewiesen, der Umstand, dass der Angeklagte erst 18 Jahre nach der Tat strafrechtlich zur Verantwortung gezogen worden sei, stelle einen strafmildernd zu berücksichtigenden Gesichtspunkt dar, auch wenn Fälle der vorliegenden Art aus tatsächlichen Gründen vielfach lange Jahre unbekannt blieben und der Gesetzgeber diesem Umstand in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB dadurch Rechnung getragen habe, dass die Verjährung bei diesen Delikten bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres des Opfers ruhe (BGH, Beschluss vom 29. September 1997 – 5 StR 363/97, NStZ-RR 1998, 207).
[8] 3. Vor diesem Hintergrund hat der Senat mit Beschluss vom 29. Oktober 2015 (NStZ 2016, 277) gemäß § 132 Abs. 3 Satz 1 GVG bei den anderen Strafsenaten angefragt, ob diese an (gegebenenfalls) entgegenstehender Rechtsprechung festhalten.
[9] Der 1. Strafsenat hat mit Beschluss vom 10. Mai 2016 (1 ARs 5/16, NStZ-RR 2016, 336) geantwortet, die beabsichtigte Entscheidung des 3. Strafsenats widerspreche seiner Rechtsprechung; er halte an seiner Rechtsansicht "grundsätzlich" fest. Zur Begründung hat er im Wesentlichen ausgeführt, einem besonders langen Zeitraum zwischen Tat und Urteil komme für sich genommen eine strafmildernde Wirkung zu. Die strafzumessungstheoretische Verankerung dieses selbständigen Strafzumessungsgrundes sei nicht eindeutig, beruhe aber bei unbeeinflusster Tatschuld auf einem allgemein abnehmenden Sühnebedürfnis bzw. einer geminderten Notwendigkeit von Sühne; daneben könnten besondere Prüfungspflichten im Hinblick auf spezialpräventiv wirksame Umstände ausgelöst werden. Dies führe zu der Notwendigkeit der individuellen Gewichtung des Faktors Zeitablauf; diese Wertung sei grundsätzlich Sache des Tatgerichts. Nach den Maßgaben, die für die Überprüfung der tatgerichtlichen Strafzumessung in der Revisionsinstanz gelten, sei es rechtsfehlerfrei, wenn das Tatgericht in diesem Zusammenhang auf die gesetzgeberischen Wertungen zurückgreife, die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommen seien. Er könne deshalb die Ansicht nicht teilen, dass das Gewicht des Zeitablaufs von der Länge der Verjährungsfrist nicht beeinflusst werden dürfe. Eine entsprechende Anknüpfung finde sich in mehreren Entscheidungen des Bundesgerichtshofs und des Bundesverfassungsgerichts. Die Verjährungsvorschriften hätten zwar "zum Teil" eine andere Zielrichtung als die Strafzumessungsregelungen, letztlich komme aber in ihnen auch zum Ausdruck, dass die Rechtsordnung ein Strafbedürfnis infolge Zeitablaufs verneine. Es gehe mithin um die Bewertung ein und desselben Phänomens, nämlich des Zeitablaufs seit den Taten. Durch den Rückgriff auf die in den Verjährungsvorschriften zum Ausdruck gekommene gesetzgeberische Wertung werde der Strafzumessungsgrund Zeitablauf entsprechend dieser Wertung ausgefüllt. Zu den Verjährungsvorschriften, an denen sich das Tatgericht orientieren dürfe, zähle auch § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB. Dass der Gesetzgeber mit dieser "Regelung betreffend die Verfolgbarkeit von Taten" nicht den ersichtlichen Willen kundgetan habe, Strafzumessungskriterien oder deren Gewichtung zu modifizieren, sei nicht aussagekräftig.
[10] Der 2. Strafsenat hat mit näher begründetem Beschluss vom 14. Juni 2016 (2 ARs 67/16) geantwortet, er stimme der Rechtsauffassung des 3. Strafsenats zu.
[11] Der 4. und der 5. Strafsenat haben mitgeteilt, ihre Rechtsprechung stehe der beabsichtigten Entscheidung des 3. Strafsenats nicht entgegen.
[12] II. Der Senat vermag sich der Ansicht des 1. Strafsenats, der ein Teil der Literatur gefolgt ist (SK-StGB/Wolters, 135. Lfg., § 176 Rn. 13; LK/Hörnle, StGB, 12. Aufl., § 176 Rn. 55; S/S-Eisele, StGB, 29. Aufl., § 176 Rn. 29; aA Fischer, StGB, 64. Aufl., § 46 Rn. 61; § 176 Rn. 35; MüKoStGB/Renzikowski, 2. Aufl., § 176 Rn. 66), auch unter Berücksichtigung der Erwägungen in dem Beschluss vom 10. Mai 2016 nicht anzuschließen; denn sie vermischt in sachlich nicht gerechtfertigter Weise Gesichtspunkte der Strafzumessung mit solchen der Verjährung. Er hält deshalb an seiner in dem Anfragebeschluss vom 29. Oktober 2015 dargelegten Auffassung fest; soweit er in seiner Entscheidung vom 10. November 1999 noch Anderes vertreten hatte, gibt er diese Rechtsprechung auf. Danach kann der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen sexuellen Missbrauchs eines Kindes in gleicher Weise Berücksichtigung finden wie bei anderen Straftaten; die gesetzliche Regelung des Ruhens der Verjährung in § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Hierzu gilt im Einzelnen:
[13] 1. Die Strafe soll eine angemessene staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat sein. Ihre Bemessung erfordert eine einzelfallorientierte Abwägung der strafzumessungsrelevanten Umstände. Grundlagen der Strafzumessung sind dabei die Schwere der Tat in ihrer Bedeutung für die verletzte Rechtsordnung und der Grad der persönlichen Schuld des Täters (§ 46 Abs. 1 Satz 1 StGB; BGH, Urteil vom 4. August 1965 – 2 StR 282/65, BGHSt 20, 264, 266). Daneben ist dessen Resozialisierung der zentrale Gesichtspunkt der Strafzumessung, denn das Tatgericht hat bei der konkreten Strafbemessung die Wirkungen zu berücksichtigen, die von der Strafe für das künftige Leben des Täters in der Gesellschaft zu erwarten sind (§ 46 Abs. 1 Satz 2 StGB).
[14] Nach diesen Maßgaben kann ein langer zeitlicher Abstand zwischen Tat und Urteil eine Strafmilderung gebieten. Der Ablauf der Zeit mindert zwar nicht die Tatschuld, doch kann er Tat und Täter unter den Aspekten von Schuld und Spezialprävention in einem günstigeren Licht erscheinen lassen, als es bei schneller Ahndung der Fall gewesen wäre; dies gilt insbesondere, wenn sich die Tat durch den Zeitablauf als einmalige Verfehlung des Täters erwiesen, er sich inzwischen jahrelang einwandfrei geführt und der Verletzte die Folgen der Tat überwunden hat (LK/Theune, StGB, 12. Aufl., § 46 Rn. 240). Ein langer Zeitablauf nach der Tat führt deshalb nicht nur zu einer Minderung des Sühneanspruchs, weil das Strafbedürfnis allgemein abnimmt (BGH, Beschluss vom 17. Januar 2008 – GSSt 1/07, BGHSt 52, 124, 141 f.), sondern erfordert auch eine gesteigerte Prüfung der Wirkungen der Strafe für den Täter (BGH, Beschluss vom 20. Februar 1998 – 2 StR 20/98, BGHR StGB § 46 Abs. 1 Schuldausgleich 35).
[15] 2. Demgegenüber regeln die Verjährungsvorschriften die Verfolgbarkeit der Tat (BVerfG, Beschluss vom 31. Januar 2000 – 2 BvR 104/00, NStZ 2000, 251); nach Ablauf der Verjährungsfrist ist die Ahndung der Tat und die Anordnung von Maßnahmen nicht mehr möglich (§ 78 Abs. 1 Satz 1 StGB). Die Verjährung betrifft nicht die Strafdrohung an sich, sondern lediglich das "Ob" der Verfolgung; ihr Eintritt führt deshalb nach ständiger und einhelliger Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs nicht zu einer Veränderung der materiellrechtlichen Lage, sondern zu einem Verfahrenshindernis (vgl. etwa BGH, Beschluss vom 7. Juni 2005 – 2 StR 122/05, BGHSt 50, 138, 139); der Angeklagte ist nicht freizusprechen, vielmehr ist das Verfahren einzustellen.
[16] Das Rechtsinstitut der Verjährung soll dem Rechtsfrieden dienen und einer etwaigen Untätigkeit der Behörden in jedem Abschnitt des Verfahrens entgegenwirken (BGH, Urteil vom 26. Juni 1958 – 4 StR 145/58, BGHSt 11, 393, 396; Beschluss vom 23. Januar 1959 – 4 StR 428/58, BGHSt 12, 335, 337 f.). Zur Erreichung dieser Ziele hat der Gesetzgeber in den §§ 78 ff. StGB ein differenziert ausgestaltetes System normiert, innerhalb dessen die Dauer der Verjährungsfrist im Ausgangspunkt unabhängig von den konkreten Umständen des Einzelfalles maßgeblich vom Höchstmaß der durch die betreffende Strafvorschrift allgemein angedrohten Strafe bestimmt wird (vgl. § 78 Abs. 3 StGB).
[17] 3. Aus diesen unterschiedlichen Regelungsgehalten, Zwecken und Ausgestaltungen der Strafzumessung einerseits und der Verfolgungsverjährung andererseits folgt zum Einen, dass für die Frage der Verjährung nicht von Bedeutung ist, ob mit Blick auf die Strafzumessungsmaximen Schuld und Spezialprävention eine staatliche Reaktion auf die Begehung einer Straftat in Form einer Sanktionierung des Täters (noch) notwendig und gegebenenfalls welche angemessen erschiene. Zum Anderen spielt die Dauer der Verjährungsfrist für die Strafzumessung und die dort zu bewertenden Umstände keine Rolle. Das Gewicht, mit dem der zeitliche Abstand zwischen einer noch verfolgbaren Tat und dem Urteil in die Bemessung der Strafe einzustellen ist, hängt nicht von der Länge der zunächst nach §§ 78, 78a StGB zu bestimmenden Verjährungsfrist ab. Es wird auch nicht dadurch beeinflusst, dass die Tat gegebenenfalls länger verfolgbar ist, weil die Voraussetzungen eines der Tatbestände gegeben sind, bei deren Erfüllung die Verjährung nach § 78b StGB ruht oder gemäß § 78c StGB unterbrochen wird. Dies gilt etwa auch für die Ruhensregelung des § 78b Abs. 4 StGB, die an die Eröffnung des Hauptverfahrens vor dem Landgericht und das Bestehen besonders schwerer Fälle anknüpft, die bei bestimmten Delikten als strafschärfende Umstände gesetzlich normiert sind.
[18] Gründe dafür, hiervon für die Fälle des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB abzuweichen und dem zeitlichen Abstand zwischen Tat und Urteil bei den dort aufgeführten Straftaten generell ein geringeres Gewicht zuzumessen, sind nicht ersichtlich. In § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hat der Gesetzgeber – erstmals mit dem 30. Strafrechtsänderungsgesetz vom 23. Juni 1994 (BGBl. I S. 1310) – eine deliktsspezifische Bestimmung zum Ruhen der Verfolgungsverjährung getroffen, die den Besonderheiten bei zum Nachteil von jungen Menschen begangenen Sexualstraftaten Rechnung tragen soll. Der Gesetzgeber hat hierzu in der Gesetzesbegründung ausgeführt, Sexualstraftaten an Kindern und Jugendlichen würden den Strafverfolgungsbehörden häufig erst bekannt, wenn die Taten bereits viele Jahre zurückliegen, weil sie überwiegend von Familienangehörigen begangen und die Opfer von den Tätern häufig dahin beeinflusst würden, die Übergriffe zu verschweigen. Wenn die Opfer erst lange Zeit nach der Tat in der Lage seien, Strafanzeige zu erstatten, sei eine Strafverfolgung wegen Verjährung (Unterstreichung durch den Senat) der Taten in vielen Fällen nicht mehr möglich (vgl. BT-Drucks. 12/2975, S. 1; 12/3825, S. 1; 12/6980, S. 1). Deshalb solle die Verjährung bis zu dem Zeitpunkt ruhen, bis zu dem das Opfer in der Lage sei, das Erlebte in seiner gesamten Dimension zu erfassen und auf dieser Grundlage über das Für und Wider einer Strafanzeige zu entscheiden (vgl. BT- Drucks. 12/6980, S. 4). Diese Erwägungen belegen, dass der Gesetzgeber lediglich den Willen hatte, die Verfolgbarkeit von bestimmten Straftaten auch über die bis dahin geltenden Verjährungsregelungen hinaus zu ermöglichen. Den Gesetzesmaterialien ist demgegenüber an keiner Stelle zu entnehmen, dass es ihm auch darauf ankam, über diesen Gesichtspunkt hinaus die in den §§ 46 ff. StGB geregelten und von Rechtsprechung und Literatur entwickelten Strafzumessungskriterien sowie deren Gewichtung zu modifizieren. Dies gilt auch für die nachfolgenden Änderungen der Vorschrift, durch die der Deliktskatalog erweitert und das Ruhen der Verjährung bis mittlerweile zur Vollendung des 30. Lebensjahres des Opfers angeordnet worden ist (vgl. etwa BT-Drucks. 15/350, S. 13; 16/13671, S. 23 f.; 18/2601, S. 14, 22 f.).
[19] Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass die letzte Erhöhung der Altersgrenze bewirkt, dass schwere Sexualdelikte frühestens mit Vollendung des 50. Lebensjahres des Opfers verjähren, wobei sich diese Frist durch Unterbrechungshandlungen bis zur Vollendung des 70. Lebensjahres des Opfers verlängern kann (BT-Drucks. 18/2601, S. 23). Diese Wertung des Gesetzgebers ist zwar trotz der sich hieraus für die Rechtspraxis ergebenden Probleme hinzunehmen. Der Senat würde es jedoch – ungeachtet der bereits dargelegten Bedenken – in solchen Fällen für regelmäßig als in der Sache unangemessen erachten, den Abstand zwischen Tat und Urteil von gegebenenfalls mehreren Jahrzehnten bei der Strafzumessung nur eingeschränkt zu Gunsten eines möglicherweise in der Zwischenzeit straflosen Täters zu gewichten.
[20] 4. Im Übrigen bemerkt der Senat zu den Darlegungen des 1. Strafsenats in dessen Beschluss vom 10. Mai 2016 Folgendes:
[21] Soweit der 1. Strafsenat zu Beginn der Begründung ausführt, er halte an seiner Auffassung "grundsätzlich" fest, erschließt sich die nähere Bedeutung dieser Aussage nicht ohne Weiteres; denn weder an dieser noch an anderer Stelle wird deutlich, in welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen er eine Ausnahme oder mehrere Ausnahmen von dem von ihm postulierten Grundsatz annehmen will.
[22] Der Aussage, es könne nicht allgemein, sondern nur unter Berücksichtigung aller für die Strafzumessung bedeutsamen Umstände des Einzelfalls beurteilt werden, mit welchem Gewicht sich der Zeitablauf zwischen Tat und Urteil bei Taten des sexuellen Missbrauchs von Kindern auswirke, stimmt der Senat ebenso zu wie den Darlegungen zur eingeschränkten Überprüfbarkeit der tatgerichtlichen Strafzumessung in der Revisionsinstanz. Jedenfalls Letzteres entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, wonach es Aufgabe des Tatgerichts ist, auf der Grundlage des umfassenden Eindrucks, den er in der Hauptverhandlung von der Tat und der Persönlichkeit des Täters gewonnen hat, die wesentlichen be- und entlastenden Umstände festzustellen und gegeneinander abzuwägen; das Revisionsgericht darf diese Würdigung nicht selbst vornehmen, sondern nur nachprüfen, ob dem Tatgericht ein Rechtsfehler unterlaufen ist (st. Rspr.; vgl. aus neuerer Zeit etwa BGH, Urteil vom 13. Oktober 2016 – 4 StR 239/16, juris Rn. 56 mwN). Diese Maßstäbe gelten für alle Delikte gleichermaßen, mithin auch für die hier in Rede stehenden von § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB erfassten Sexualstraftaten. Mit diesen Vorgaben der am Einzelfall orientierten tatgerichtlichen Betrachtungsweise sowie der eingeschränkten Überprüfung in der Revisionsinstanz – ist es indes nicht vereinbar, wenn die Revisionsgerichte den Tatgerichten für diese Deliktsgruppe eine Vorgabe machen, die dahin geht, einem von diesen im konkreten Fall als bestimmend angesehenen Strafzumessungsgesichtspunkt wegen der Art der Straftat generell – und somit gerade unabhängig von den näheren Einzelfallumständen – eine geringere Bedeutung als bei allen anderen Delikten beizumessen.
[23] Die vom 1. Strafsenat ausführlich dargelegten unterschiedlichen Konzepte zur straftheoretischen Verankerung des Strafzumessungsaspekts Zeitablauf zwischen Tat und Urteil vermögen zur Lösung der hier aufgeworfenen Rechtsfrage nur wenig beizutragen. Dasselbe gilt für diejenigen Passagen in den nicht die hiesige Fallgestaltung betreffenden – Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts und des Bundesgerichtshofs, denen der 1. Strafsenat einen Zusammenhang zwischen Strafzumessung und Verjährung entnimmt. Deren Gehalt erschöpft sich im Wesentlichen in der näheren Erläuterung der Bedeutung des Zeitablaufs für den dortigen konkreten Fall, ohne dass sie einen Konnex in dem vom 1. Strafsenat intendierten Sinne herstellen.
[24] Schließlich würde die Auffassung des 1. Strafsenats zu Ende gedacht dazu führen, dass die Bedeutung des Strafzumessungsgesichtspunktes Zeitablauf allgemein auch über die Fallgestaltungen des § 78b Abs. 1 Nr. 1 StGB hinaus mit der Länge der Verjährungsfrist verknüpft ist bzw. von den diesbezüglichen Ruhens- oder Unterbrechensbestimmungen abhängt. Ein derartiger systemwidriger Zusammenhang ist in dieser Form bisher allerdings weder in der Rechtsprechung noch – soweit ersichtlich – im Schrifttum angenommen worden.
[25] III. Da der Senat somit in der Frage, ob der zeitliche Abstand zwischen Tat und Urteil im Rahmen der Strafzumessung wegen des sexuellen Missbrauchs eines Kindes in gleicher Weise Berücksichtigung finden kann wie bei anderen Straftaten, von der Auffassung des 1. Strafsenats abweichen will, legt er die streitige Rechtsfrage gemäß § 132 Abs. 2 GVG dem Großen Senat für Strafsachen zur Entscheidung vor.