Bundesgerichtshof
LwGebGlNSB § 1; BGB § 242
Verwendet ein Versicherer Versicherungsbedingungen, nach denen die Bestimmung des richtigen Versicherungswertes (hier: "Versicherungswert 1914"), ohne daß dies offen zu Tage läge, so schwierig ist, daß sie selbst ein Fachmann nur mit Mühe treffen kann, überläßt er aber die Bestimmung dieses Wertes dem Versicherungsnehmer, so treffen ihn nach Treu und Glauben gesteigerte Hinweis- und Beratungspflichten. Er muß in geeigneter Form auf die Schwierigkeiten der richtigen Festsetzung des Versicherungswertes und auf die Gefahren einer falschen Festsetzung hinweisen. Dazu gehört auch der Hinweis, daß es sich empfehlen kann, einen Sachverständigen zuzuziehen. Der Versicherer kann seiner Hinweispflicht auch dadurch genügen, daß er dem Versicherungsnehmer eine eigene fachkundige Beratung anbietet.
BGH, Urteil vom 7. 12. 1988 – IVa ZR 193/87; OLG Celle (lexetius.com/1988,146)
[1] Tatbestand: Der Kläger verlangt weitere Versicherungsleistungen aus einem Feuerversicherungsvertrag, die ihm die Beklagte unter Berufung auf eine Unterversicherung verweigert.
[2] Der Kläger hat von seinem Vater einen landwirtschaftlichen Betrieb übernommen. Der Vater hatte 1966 bei der Beklagten eine Feuerversicherung zum gleitenden Neuwert für die Wirtschaftsgebäude abgeschlossen. Die Versicherungssumme bezogen auf die Baupreise von 1914 (Versicherungssumme 1914) betrug 19.820 DM. 1976 änderten die Parteien den Vertrag und setzten die Versicherungssumme 1914 für Scheune und Viehstall auf 18.000 DM fest. Anläßlich eines Brandschadens gaben der vom Kläger und der von der Beklagten benannte Gutachter in einem gemeinsamen Gutachten vom 10. August 1977 den Versicherungswert von Scheune und Viehstall mit 17.940 DM an. Daraufhin ersetzte die Beklagte den an den Gebäuden entstandenen Schaden von 20.900 DM in voller Höhe.
[3] Am 9. Mai 1979 erneuerten die Parteien den Versicherungsvertrag. Entsprechend dem Antrag des Klägers wurde die Versicherungssumme 1914 für Scheune und Viehstall auf zusammen 18.000 DM festgesetzt. Am 14. September 1983 brannten die Gebäude weitgehend ab. Die von den Parteien bestellten Sachverständigen ermittelten nunmehr den Versicherungswert 1914 von Scheune und Stall mit 34.300 DM. Von dem festgestellten Schaden von 274.700 DM ersetzte deshalb die Beklagte wegen Unterversicherung nur 148.482 DM.
[4] Der Kläger will sich Abzüge wegen in den Jahren 1980 und 1983 ausgeführten Zubauten anrechnen lassen. Er wehrt sich aber gegen weitere Abzüge von der Neuwertentschädigung wegen einer Unterversicherung. Die Beklagte habe den Versicherungswert 1914 falsch ermittelt; zumindest hätte sie ihn beraten müssen. Der Kläger hat mit der Klage zunächst (einschließlich hier nicht mehr interessierender weiterer Kosten) 149.447,34 DM geltend gemacht. Das Landgericht hat ihm nur 624,98 DM nebst Zinsen zugesprochen. Mit der Berufung hat der Kläger nur noch die Hälfte des wegen Unterversicherung abgezogenen Betrages, also nur 68.870,41 DM nebst Zinsen beansprucht. Er will sich ein hälftiges Mitverschulden an der Unterversicherung zurechnen lassen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Mit seiner Revision verfolgt der Kläger den zuletzt gestellten Antrag weiter.
[5] Entscheidungsgründe: Das Berufungsgericht vermag nicht festzustellen, daß die der Höhe nach unstreitige Unterversicherung von der Beklagten zu verantworten sei. Der Grund der Unterversicherung liege in den unrichtigen Angaben über den Versicherungswert in den Versicherungsanträgen aus den Jahren 1976 und 1979. Diese Angaben stammten vom Kläger; er habe die Anträge gestellt und mit seiner Unterschrift die darin enthaltenen Angaben als seine Erklärungen bestätigt. Er habe keine genügend genaue Darstellung gegeben, in welcher Weise die Agenten der Beklagten auf die Eintragungen in den Formularen Einfluß genommen hätten. Jedenfalls sei eine derartige Einflußnahme nicht erwiesen. Dafür spreche auch kein Beweis des ersten Anscheins. Ein Anspruch des Klägers, so gestellt zu werden, als ob die Unterversicherung nicht bestünde, komme aber nur in Betracht, wenn die Agenten dem Kläger bestimmte falsche Angaben hinsichtlich des Versicherungswertes oder der Versicherungssumme gemacht oder aber den Kläger über den Versicherungswert und damit die festzulegende Versicherungssumme nicht aufgeklärt hätten, obwohl sie einen Irrtum des Klägers erkannten.
[6] Diesen Ausführungen folgt der Senat nicht.
[7] Das Berufungsgericht sieht die Beratungs- und Hinweispflicht des beklagten Versicherers bei der Festsetzung des Versicherungswertes 1914 zu eng. Es will eine Verantwortung des Versicherers für den für ihn tätigen Agenten nur dann bejahen, wenn dieser dem Versicherungsnehmer bestimmte falsche Angaben gemacht oder einen von ihm erkannten Irrtum des Versicherungsnehmers nicht aufgeklärt hat. Damit wird es den besonderen Umständen bei der vertraglichen Festlegung der Versicherungssumme 1914 nicht gerecht.
[8] Dem Vertrag der Parteien lagen die Sonderbedingungen für die gleitende Neuwertversicherung von landwirtschaftlichen Gebäuden (SGlN) in der Fassung 1973 (Form 24 N) zugrunde. § 1 dieser Sonderbedingungen lautet:
[9] "Die vom Versicherungsnehmer als Versicherungssumme des Vertrages zu bestimmende "Versicherungssumme 1914" soll in Preisen des Jahres 1914 dem ortsüblichen Neubauwert eines Gebäudes in seiner jeweiligen Größe und seinem jeweiligen Ausbau entsprechen ("Versicherungswert 1914"). Bei der Ermittlung des "Versicherungswertes 1914" eines Gebäudes werden der umbaute Raum, die Bauart, der Ausbau, der Zweck des Baues und – wenn dieses mitversichert wird – das Zubehör zugrundegelegt."
[10] Ist der Wert zu niedrig festgelegt, so führt das nach § 2 – bei einer Toleranz von 3 v. H. der "Versicherungssumme 1914" – ohne Rücksicht auf den Grund des Fehlers im Schadensfall zu einer Kürzung der Versicherungsleistung wegen Unterversicherung.
[11] In der Praxis hat sich alsbald herausgestellt, daß die richtige Bestimmung des Versicherungswertes 1914 ungewöhnlich schwierige Bewertungsfragen aufwirft. Zu der für einen bautechnischen Laien schon schwierigen Bewertung von Bauleistungen kommt hinzu, daß örtliche, heute kaum mehr feststellbare Preisunterschiede aus einer lange zurückliegenden Zeit zu berücksichtigen sind, daß die fortschreitende Bautechnik zunehmend zu Baumethoden und Baustoffen geführt hat, die mit den 1914 gängigen schwer zu vergleichen sind, und daß die DIN-Normen über die Berechnung des umbauten Raumes seither verschiedentlich geändert worden sind. Die richtige Bestimmung des Wertes gilt deshalb als selbst für Bausachverständige äußerst schwierig (vgl. Wälder ZfV 1978, 383, 386 f.; Karlson Versicherungswirtschaft 1968, 529; Pieta Versicherungswirtschaft 1969, 223; Röhl VersR 1979, 26; Prölss/Martin, VVG 22. Aufl. § 52 Anm. 2 m. w. N.). Verwendet aber ein Versicherer Versicherungsbedingungen, nach denen die Bestimmung des richtigen Versicherungswertes, ohne daß dies offen zu Tage läge, so schwierig ist, daß sie selbst ein Fachmann nur mit Mühe treffen kann, überläßt er aber diese Bestimmung des Versicherungswertes dem Versicherungsnehmer, so ergeben sich daraus gesteigerte Hinweis- und Beratungspflichten des Versicherers bei Abschluß des Vertrages. Das Versicherungsvertragsverhältnis unterliegt nach gefestigter Rechtsprechung in besonderem Maße den Geboten von Treu und Glauben. Damit ist es nicht zu vereinbaren, wenn ein Versicherer die solchermaßen problematische Bestimmung des Versicherungswertes dem Versicherungsnehmer überläßt, ohne ihn deutlich darauf hinzuweisen, welche Gefahren er mit einer vorschnellen Bezeichnung des Versicherungswertes läuft und wie er dem begegnen kann. Es kann vorausgesetzt werden, daß ein Versicherungsnehmer im allgemeinen ein Interesse daran hat, den richtigen Versicherungswert zu ermitteln. Bei diesem Bestreben darf der Versicherer den Versicherungsnehmer nicht allein lassen. Er muß ihn in geeigneter Form sowohl auf die Schwierigkeiten der richtigen Festsetzung des Versicherungswertes wie auf die Gefahren einer falschen Festsetzung aufmerksam machen. Zu einer ordnungsgemäßen Belehrung gehört auch der Hinweis, daß ein im Bauwesen nicht sachverständiger Versicherungsnehmer mit der Bestimmung des richtigen Versicherungswertes 1914 in aller Regel überfordert sein wird, und daß es sich deshalb empfehlen kann, einen Sachverständigen zuzuziehen, wie dies im Bereich der öffentlichen Brandkassen stets geschieht. Seiner Hinweispflicht kann der Versicherer auch dadurch genügen, daß er dem Versicherungsnehmer eine eigene fachkundige Beratung anbietet.
[12] Verletzt der Versicherer schuldhaft seine Aufklärungspflicht, so ist er dem Versicherungsnehmer nach den Regeln über das Verschulden bei Vertragsschluß zum Schadensersatz verpflichtet. Er hat den Versicherungsnehmer im Schadensfall dann so zu stellen, wie wenn er ordnungsgemäß beraten hätte. Dabei kann nach der Erfahrung des Lebens dann bis zum Beweis des Gegenteils davon ausgegangen werden, daß ein Versicherungsnehmer einem entsprechenden Hinweis gefolgt und die Versicherungssumme dementsprechend festgesetzt worden wäre. Das kann im Ergebnis darauf hinauslaufen, daß der Versicherer gehindert ist, sich auf die Unterversicherung zu berufen. Allerdings muß sich der Versicherungsnehmer infolge der unterlassenen Belehrung etwa erzielte Vorteile (z. B. ersparte höhere Prämien) anrechnen lassen.
[13] Danach kann dem Kläger ein Schadensersatzanspruch in der eingeklagten Höhe zustehen. Er hat behauptet, die Beklagte habe ihn nicht beraten, sogar ihrerseits den Versicherungswert falsch ermittelt. Damit ist der Kläger seiner Behauptungslast nachgekommen. Es war nunmehr Sache der Beklagten, im einzelnen darzulegen, daß ihre Agenten den Kläger dennoch in dem oben beschriebenen Sinne aufgeklärt haben. Auch bezüglich der weitergehenden Behauptung des Klägers, die Agenten der Beklagten hätten den Versicherungswert 1914 falsch festgelegt, durfte das Berufungsgericht den Kläger nicht ohne weiteres für beweisfällig halten. Zwar trägt er die Beweislast für eine solche Pflichtwidrigkeit der Beklagten. Er hatte indessen seine eigene Parteivernehmung dazu beantragt, daß die Vertreter der beklagten Versicherung den in den Vertrag aufgenommenen Versicherungswert errechnet und vorgeschlagen hätten (GA 161). Das Berufungsgericht erläutert nicht, weshalb es diesem Antrag nicht entsprochen hat. Zwar beruht die Anwendung oder Nichtanwendung des § 448 ZPO auf einer Ermessensentscheidung des Tatrichters; doch handelt es sich dabei nicht um freies, sondern um pflichtgemäßes Ermessen. Der Tatrichter muß zwar nicht in jedem Fall, in dem die Anwendung der Vorschrift in Betracht kommt, seine Gründe darlegen, die ihn bewogen haben, von der Möglichkeit der Parteivernehmung keinen Gebrauch zu machen (BGH Urteil vom 6. März 1957, IV ZR 303/56, LM ZPO § 448 Nr. 2). Wird aber eine Parteivernehmung beantragt, befindet sich die beweisbelastete Partei zudem in Beweisnot und spricht für die Richtigkeit des Tatsachenvortrags dieser Partei eine gewisse Wahrscheinlichkeit, so ist der Tatrichter gehalten, in nachprüfbarer Weise darzulegen, weshalb er von einer Parteivernehmung abgesehen hat. Andernfalls liegt ein Rechtsfehler vor (BGH Urteile vom 1. Februar 1983, VI ZR 152/81, LM ZPO § 448 Nr. 6 = NJW 1983, 2033 und vom 20. Mai 1987, IVa ZR 36/86, LM BGB § 675 Nr. 127 = BGHR ZPO § 448 "Ermessensgrenzen 2"). Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Der beweisbelastete Kläger hatte seine Parteivernehmung beantragt und befindet sich in Beweisnot. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit für seinen Vortrag läßt sich nach Sachlage nicht ohne weiteres verneinen. Es ist schon nach der Erfahrung des Lebens nicht von vornherein von der Hand zu weisen, daß ein in Versicherungsdingen unerfahrener Landwirt nicht ohne Mitwirkung der in diesen Dingen versierten Versicherungsagenten einen Versicherungswert 1914 bestimmt. Die Ehefrau des Klägers, die der Berufungsrichter nicht von vornherein für unglaubwürdig hält, hat als Zeugin ausgesagt, sie jedenfalls hätten diese Versicherungssumme nicht festgelegt. Unter diesen Umständen bedurfte das Absehen von der beantragten Parteivernehmung des Klägers einer für den Revisionsrichter nachprüfbaren Begründung. Das rügt die Revision zu Recht.
[14] Die Aufhebung und Zurückverweisung gibt den Parteien Gelegenheit, zu den für sie neuen rechtlichen Gesichtspunkten ergänzend vorzutragen.