Europäischer Gerichtshof
1. Der in Artikel 60 Absatz 3 EG-Vertrag genannte vorübergehende Charakter der Dienstleistung ist unter Berücksichtigung ihrer Dauer, ihrer Häufigkeit, ihrer regelmässigen Wiederkehr und ihrer Kontinuität zu beurteilen.
2. Der Dienstleistungserbringer im Sinne des Vertrages kann sich im Aufnahmemitgliedstaat mit der für die Erbringung seiner Leistung erforderlichen Infrastruktur ausstatten.
3. Ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in stabiler und kontinuierlicher Weise eine Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, in dem er sich von einem Berufsdomizil aus u. a. an die Angehörigen dieses Staates wendet, fällt unter die Vorschriften des Kapitels über das Niederlassungsrecht und nicht unter die des Kapitels über die Dienstleistungen.
4. Die Möglichkeit für einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, sein Niederlassungsrecht auszuüben, und die Bedingungen dieser Ausübung sind unter Berücksichtigung der Tätigkeiten zu beurteilen, die er im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ausüben will.
5. Unterliegt die Aufnahme einer spezifischen Tätigkeit im Aufnahmestaat keiner Regelung, so hat der Angehörige jedes anderen Mitgliedstaats das Recht, sich im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates niederzulassen und dort diese Tätigkeit auszuüben. Unterliegt die Aufnahme oder Ausübung dieser Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat jedoch bestimmten Bedingungen, so muß der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, der diese Tätigkeit ausüben will, diese Bedingungen grundsätzlich erfüllen.
6. Nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, müssen vier Voraussetzungen erfüllen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist.
7. Die Mitgliedstaaten müssen die Gleichwertigkeit der Diplome berücksichtigen und gegebenenfalls eine vergleichende Prüfung der in ihren nationalen Vorschriften geforderten Kenntnisse und Qualifikationen und derjenigen des Betroffenen vornehmen.
EuGH, Urteil vom 30. 11. 1995 – C-55/94 (lexetius.com/1995,393)
[1] 1. Der Consiglio nazionale forense hat mit Beschluß vom 16. Dezember 1993, beim Gerichtshof eingegangen am 8. Februar 1994, gemäß Artikel 177 EG-Vertrag zwei Fragen nach der Auslegung der Richtlinie 77/249/EWG des Rates vom 22. März 1977 zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs der Rechtsanwälte (ABl. L 78, S. 17) zur Vorabentscheidung vorgelegt.
[2] 2. Diese Fragen stellen sich in einem vom Consiglio dell' ordine degli avvocati et procuratori di Milano (Vorstand der Rechtsanwaltskammer Mailand) eingeleiteten Disziplinarverfahren gegen Herrn Gebhard, dem zur Last gelegt wird, gegen seine Verpflichtungen aus dem Gesetz Nr. 31 vom 9. Februar 1982 über den freien Dienstleistungsverkehr der Rechtsanwälte, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften sind (GURI Nr. 42 vom 12. Februar 1982), verstossen zu haben, indem er in Italien unter Verwendung der Bezeichnung "avvocato" eine dauernde Berufstätigkeit in der von ihm eingerichteten Kanzlei ausgeuebt habe.
[3] 3. Aus den Akten und den auf die schriftlichen Fragen des Gerichtshofes erteilten Informationen ergibt sich, daß Herr Gebhard, ein deutscher Staatsangehöriger, seit dem 3. August 1977 zur Ausübung des Berufes eines "Rechtsanwalts" in Deutschland berechtigt ist. Er ist in Stuttgart als Rechtsanwalt zugelassen, wo er "freier Mitarbeiter" in einer Kanzlei ("Bürogemeinschaft") ist; eine eigene Kanzlei besitzt er in Deutschland nicht.
[4] 4. Herr Gebhard wohnt seit März 1978 in Italien, wo er mit seiner Ehefrau, einer italienischen Staatsangehörigen, und seinen drei Kindern lebt. Das Einkommen von Herrn Gebhard wird vollständig in Italien, wo er seinen Wohnsitz hat, besteuert.
[5] 5. Herr Gebhard hat seit dem 1. März 1978 eine berufliche Tätigkeit in Italien ausgeuebt, zunächst als Mitarbeiter ("con un rapporto di libera collaborazione") in einer Anwaltssozietät in Mailand und sodann, vom 1. Januar 1980 bis Anfang 1989, als Sozius ("associato") in dieser Kanzlei. Ihm ist kein Vorwurf wegen der Tätigkeiten, die er in dieser Kanzlei ausgeuebt hat, gemacht worden.
[6] 6. Am 30. Juli 1989 eröffnete Herr Gebhard seine eigene Kanzlei in Mailand, in der italienische "avvocati" und "procuratori" mit ihm zusammenarbeiten. Herr Gebhard hat auf eine schriftliche Frage des Gerichtshofes angegeben, daß er ihnen die sporadischen Fälle der gerichtlichen Vertretung italienischer Mandanten in Italien übertrage.
[7] 7. Herr Gebhard erklärt, er übe in Italien die im wesentlichen aussergerichtliche Tätigkeit des Beistands und der Vertretung deutschsprachiger Personen (die 65 % seines Umsatzes entspreche) sowie die Tätigkeit der Vertretung italienischsprachiger Personen in Deutschland oder Österreich (die 30 % seines Umsatzes entspreche) aus. Die verbleibenden 5 % beträfen die Unterstützung italienischer Berufskollegen, die mit Fragen des deutschen Rechts für ihre Mandanten befasst seien.
[8] 8. Einige italienische Berufskollegen, darunter die italienischen "avvocati", mit denen Herr Gebhard bis 1989 zusammengeschlossen war, führten gegen ihn Beschwerde beim Vorstand der Rechtsanwaltskammer Mailand. Sie warfen ihm vor, die Bezeichnung "avvocato" im Briefkopf seines beruflichen Briefpapiers verwendet zu haben, direkt vor der Pretura und dem Tribunale Mailand unter der Bezeichnung "avvocato" aufgetreten zu sein und seine beruflichen Tätigkeiten vom "Studio legale Gebhard" (Anwaltskanzlei Gebhard) aus ausgeuebt zu haben.
[9] 9. Nachdem der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Mailand Herrn Gebhard untersagt hatte, die Bezeichnung "avvocato" zu verwenden, beschloß er, gegen ihn ein Disziplinarverfahren einzuleiten, wobei er ihm zur Last legte, dadurch gegen seine Verpflichtungen aus dem Gesetz Nr. 31/82 verstossen zu haben, daß er in Italien unter Verwendung der Bezeichnung "avvocato" eine dauernde Berufstätigkeit von seiner eigenen Kanzlei aus ausgeuebt habe.
[10] 10. Am 14. Oktober 1991 stellte Herr Gebhard beim Vorstand der Rechtsanwaltskammer Mailand einen Antrag auf Zulassung als Rechtsanwalt. Dieser Antrag wurde auf die Richtlinie 89/48/EWG des Rates vom 21. Dezember 1988 über eine allgemeine Regelung zur Anerkennung der Hochschuldiplome, die eine mindestens dreijährige Berufsausbildung abschließen (ABl. 1989, L 19, S. 16), sowie darauf gestützt, daß er in Italien eine Berufsausbildung von mehr als zehn Jahren absolviert habe. Offenbar hat der Vorstand der Rechtsanwaltskammer diesen Antrag nicht förmlich beschieden.
[11] 11. Das am 19. September 1991 eingeleitete Disziplinarverfahren wurde mit Entscheidung vom 30. November 1992 abgeschlossen, durch die der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Mailand gegen Herrn Gebhard die Sanktion der zeitweiligen Versagung der Ausübung der Berufstätigkeit ("sospensione dell' esercizio dell' attività professionale") für sechs Monate verhängte.
[12] 12. Gegen diese Entscheidung legte Herr Gebhard beim Consiglio nazionale forense einen Rechtsbehelf ein, wobei er klarstellte, daß sich dieser auch gegen die stillschweigende Ablehnung seines Antrags auf Zulassung als Rechtsanwalt richte. Im Rahmen dieses Rechtsbehelfs machte er insbesondere geltend, die Richtlinie 77/249 verleihe ihm das Recht, seine beruflichen Tätigkeiten von seiner eigenen Kanzlei in Mailand aus auszuüben.
[13] 13. Die Richtlinie 77/249 gilt für die in Form der Dienstleistung ausgeuebten Tätigkeiten der Rechtsanwälte. Sie sieht vor, daß der dienstleistende Rechtsanwalt die in der Sprache oder in einer der Sprachen des Herkunftsstaats gültige Berufsbezeichnung des Mitgliedstaats, in dem er niedergelassen ist, unter Angabe der Berufsorganisation, deren Zuständigkeit er unterliegt, oder des Gerichtes, bei dem er nach den Vorschriften dieses Staates zugelassen ist, verwendet (Artikel 3).
[14] 14. Diese Richtlinie unterscheidet zwischen den mit der Vertretung oder der Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden zusammenhängenden Tätigkeiten und allen anderen Tätigkeiten.
[15] 15. Bei der Ausübung der Tätigkeiten der Vertretung oder der Verteidigung hält der Rechtsanwalt die Standesregeln des Aufnahmestaats neben den ihm im Herkunftsstaat obliegenden Verpflichtungen ein (Artikel 4 Absatz 2). Für die Ausübung aller anderen Tätigkeiten bleibt der Rechtsanwalt den im Herkunftsstaat geltenden Bedingungen und Standesregeln unterworfen; daneben hält er die im Aufnahmestaat geltenden Regeln über die Ausübung des Berufes, gleich welchen Ursprungs, ein, insbesondere in bezug auf die Unvereinbarkeit zwischen den Tätigkeiten des Rechtsanwalts und anderen Tätigkeiten in diesem Staat, das Berufsgeheimnis, die Beziehungen zu Kollegen, das Verbot des Beistands für Parteien mit gegensätzlichen Interessen durch denselben Rechtsanwalt und die Werbung (Artikel 4 Absatz 4).
[16] 16. Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie bestimmt: "Die mit der Vertretung oder der Verteidigung eines Mandanten im Bereich der Rechtspflege oder vor Behörden zusammenhängenden Tätigkeiten des Rechtsanwalts werden im jeweiligen Aufnahmestaat unter den für die in diesem Staat niedergelassenen Rechtsanwälte vorgesehenen Bedingungen ausgeuebt, wobei jedoch das Erfordernis eines Wohnsitzes sowie das der Zugehörigkeit zu einer Berufsorganisation in diesem Staat ausgeschlossen sind".
[17] 17. Die Richtlinie ist in Italien durch das Gesetz Nr. 31/82 umgesetzt worden; Artikel 2 dieses Gesetzes bestimmt: "Den im Herkunftsmitgliedstaat zugelassenen Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten ist die gerichtliche und aussergerichtliche Ausübung der beruflichen Tätigkeiten des Rechtsanwalts mit vorübergehendem Charakter ['con carattere di temporaneità'] nach den in diesem Titel festgelegten Modalitäten erlaubt. Es ist nicht gestattet, zur Ausübung der im vorstehenden Absatz genannten beruflichen Tätigkeiten im Hoheitsgebiet der Republik eine Kanzlei oder einen Haupt- oder Nebensitz einzurichten."
[18] 18. Unter diesen Umständen hat der Consiglio nazionale forense das Verfahren ausgesetzt und den Gerichtshof ersucht, folgende Fragen im Wege der Vorabentscheidung zu beantworten:
[19] a) Ist Artikel 2 des zur Durchführung der EWG-Richtlinie vom 22. März 1977 ergangenen Gesetzes Nr. 31 vom 9. Februar 1982 über den freien Dienstleistungsverkehr der Rechtsanwälte, die Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der Europäischen Gemeinschaften sind, wonach es nicht zulässig ist, "im Hoheitsgebiet der Republik eine Kanzlei oder einen Haupt- oder Nebensitz einzurichten", mit der Regelung der genannten Richtlinie vereinbar, berücksichtigt man, daß diese keinen Hinweis darauf enthält, daß in der Möglichkeit, eine Kanzlei einzurichten, ein Anzeichen für die Absicht des Rechtsanwalts erblickt werden kann, die Tätigkeit nicht nur vorübergehend oder gelegentlich, sondern auf Dauer auszuüben?
[20] b) Welche Kriterien sind für die Beurteilung des vorübergehenden Charakters im Hinblick auf die Beständigkeit und Wiederholung der Leistungen des Rechtsanwalts, der nach der Regelung der erwähnten Richtlinie tätig wird, anzuwenden?
[21] 19. In Anbetracht des Wortlauts der Vorabentscheidungsfragen ist daran zu erinnern, daß der Gerichtshof nach ständiger Rechtsprechung nicht zur Entscheidung über die Vereinbarkeit einer nationalen Maßnahme mit dem Gemeinschaftsrecht befugt ist. Er kann jedoch dem vorlegenden Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Gemeinschaftsrechts geben, die es diesem ermöglichen, die Frage der Vereinbarkeit für die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits zu beurteilen (vgl. insbesondere Urteil vom 11. August 1995 in der Rechtssache C-63/94, Belgapom, Slg. 1995, I-0000, Randnr. 7).
[22] 20. Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß die Situation eines Gemeinschaftsangehörigen, der sich in einen anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft begibt, um dort eine wirtschaftliche Tätigkeit auszuüben, entweder unter das Kapitel des Vertrages über die Freizuegigkeit der Arbeitnehmer oder unter das über das Niederlassungsrecht oder unter das über Dienstleistungen fällt, wobei diese Kapitel einander ausschließen.
[23] 21. Da das Kapitel über die Arbeitskräfte im vorliegenden Fall nicht einschlägig ist, kann es von vornherein bei der Prüfung der Vorlagefragen ausser Betracht bleiben, die im wesentlichen die Begriffe "Niederlassung" und "Dienstleistung" betreffen.
[24] 22. Sodann ist festzustellen, daß die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen gegenüber denen des Kapitels über das Niederlassungsrecht subsidiär sind, erstens weil Artikel 59 Absatz 1 nach seinem Wortlaut voraussetzt, daß der Erbringer und der Empfänger der betreffenden Dienstleistung in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten "ansässig" sind, und zweitens weil nach Artikel 60 Absatz 1 die Vorschriften über die Dienstleistungen nur Anwendung finden, wenn die Vorschriften über das Niederlassungsrecht nicht anwendbar sind. Es ist also notwendig, den Geltungsbereich des Begriffes "Niederlassung" zu prüfen.
[25] 23. Das in den Artikeln 52 bis 58 des Vertrages vorgesehene Niederlassungsrecht steht sowohl juristischen Personen im Sinne des Artikels 58 als auch natürlichen Personen zu, die Angehörige eines Mitgliedstaats der Gemeinschaft sind. Vorbehaltlich der vorgesehenen Ausnahmen und Bedingungen umfasst dieses Recht die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten jeder Art, die Gründung und Leitung von Unternehmen und die Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften im Hoheitsgebiet jedes anderen Mitgliedstaats.
[26] 24. Folglich kann eine Person in mehr als einem Mitgliedstaat im Sinne des Vertrages niedergelassen sein, und zwar namentlich im Fall von Gesellschaften durch die Errichtung von Agenturen, Zweigniederlassungen oder Tochtergesellschaften (Artikel 52) und, wie der Gerichtshof im Fall von Angehörigen der freien Berufe ausgeführt hat, durch die Einrichtung eines zweiten Berufsdomizils (vgl. Urteil vom 12. Juli 1984 in der Rechtssache 107/83, Klopp, Slg. 1984, 2971, Randnr. 19).
[27] 25. Der Begriff der Niederlassung im Sinne des Vertrages ist also ein sehr weiter Begriff, der die Möglichkeit für einen Gemeinschaftsangehörigen impliziert, in stabiler und kontinuierlicher Weise am Wirtschaftsleben eines anderen Mitgliedstaats als seines Herkunftsstaats teilzunehmen und daraus Nutzen zu ziehen, wodurch die wirtschaftliche und soziale Verflechtung innerhalb der Gemeinschaft im Bereich der selbständigen Tätigkeiten gefördert wird (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 21. Juni 1974 in der Rechtssache 2/74, Reyners, Slg. 1974, 631, Randnr. 21).
[28] 26. Dagegen sehen die Vorschriften des Kapitels über die Dienstleistungen, insbesondere Artikel 60 Absatz 3 des Vertrages, für den Fall, daß sich der Erbringer einer Dienstleistung in einen anderen Mitgliedstaat begibt, vor, daß dieser seine Tätigkeit dort vorübergehend ausübt.
[29] 27. Wie der Generalanwalt hervorgehoben hat, ist der vorübergehende Charakter der fraglichen Tätigkeiten nicht nur unter Berücksichtigung der Dauer der Leistung, sondern auch ihrer Häufigkeit, regelmässigen Wiederkehr oder Kontinuität zu beurteilen. Der vorübergehende Charakter der Leistung schließt nicht die Möglichkeit für den Dienstleistungserbringer im Sinne des Vertrages aus, sich im Aufnahmemitgliedstaat mit einer bestimmten Infrastruktur (einschließlich eines Büros, einer Praxis oder einer Kanzlei) auszustatten, soweit diese Infrastruktur für die Erbringung der fraglichen Leistung erforderlich ist.
[30] 28. Diese Situation ist jedoch von der des Herrn Gebhard zu unterscheiden, der als Angehöriger eines Mitgliedstaats in stabiler und kontinuierlicher Weise eine Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, in dem er sich von einem Berufsdomizil aus u. a. an die Angehörigen dieses Staates wendet. Dieser Staatsangehörige fällt unter die Vorschriften des Kapitels über das Niederlassungsrecht und nicht unter die des Kapitels über die Dienstleistungen.
[31] 29. Der Vorstand der Rechtsanwaltskammer Mailand macht geltend, daß eine Person wie Herr Gebhard nur dann im Sinne des Vertrages als in einem Mitgliedstaat, hier Italien, "niedergelassen" anzusehen sei, wenn sie dem Berufsstand dieses Staates angehöre oder zumindest ihre Tätigkeit in Zusammenarbeit oder in Gemeinschaft mit Angehörigen dieses Berufsstandes ausübe.
[32] 30. Dieses Vorbringen ist zurückzuweisen.
[33] 31. Die Vorschriften des Kapitels über das Niederlassungsrecht betreffen die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten (vgl. insbesondere Urteil Reyners, a. a. O., Randnrn. 46 und 47). Die Zugehörigkeit zu einem Berufsstand unterliegt nämlich den Bedingungen für die Aufnahme und Ausübung der Tätigkeiten und kann daher nicht als ein konstitutives Element dieser Niederlassung angesehen werden.
[34] 32. Folglich sind die Möglichkeit für einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, sein Niederlassungsrecht auszuüben, und die Bedingungen dieser Ausübung unter Berücksichtigung der Tätigkeiten zu beurteilen, die er im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ausüben will.
[35] 33. Nach Artikel 52 Absatz 2 wird die Niederlassungsfreiheit nach den Bestimmungen des Niederlassungsstaats für seine eigenen Angehörigen ausgeuebt.
[36] 34. Unterliegen die fraglichen spezifischen Tätigkeiten im Aufnahmestaat keiner Regelung, so daß ein Angehöriger dieses Mitgliedstaats für ihre Ausübung keine besondere Qualifikation aufweisen muß, so haben die Angehörigen jedes anderen Mitgliedstaats das Recht, sich im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates niederzulassen und dort diese Tätigkeiten auszuüben.
[37] 35. Die Aufnahme und Ausübung einiger selbständiger Tätigkeiten können jedoch von der Beachtung bestimmter durch das Allgemeininteresse gerechtfertigter Rechts- und Verwaltungsvorschriften, wie der Vorschriften über Organisation, Qualifikation, Standespflichten, Kontrolle und Haftung, abhängig gemacht werden (vgl. Urteil vom 28. April 1977 in der Rechtssache 71/76, Thieffry, Slg. 1977, 765, Randnr. 12). Diese Vorschriften können insbesondere vorsehen, daß die Ausübung einer spezifischen Tätigkeit je nach Lage des Falles den Inhabern eines Diploms, Prüfungszeugnisses oder sonstigen Befähigungsnachweises, den Angehörigen eines bestimmten Berufsstandes oder den Personen, die einer bestimmten Ordnung oder Kontrolle unterliegen, vorbehalten ist. Sie können auch die Voraussetzungen für die Verwendung von Berufsbezeichnungen wie des "avvocato" vorschreiben.
[38] 36. Unterliegt die Aufnahme oder Ausübung einer spezifischen Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat derartigen Bedingungen, so muß der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, der diese Tätigkeit ausüben will, diese Bedingungen grundsätzlich erfüllen. Deshalb sieht Artikel 57 vor, daß der Rat Richtlinien – wie die genannte Richtlinie 89/48 – für die gegenseitige Anerkennung der Diplome, Prüfungszeugnisse oder sonstigen Befähigungsnachweise sowie für die Koordinierung der nationalen Bestimmungen über die Aufnahme und Ausübung selbständiger Tätigkeiten erlässt.
[39] 37. Aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes ergibt sich jedoch, daß nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist (vgl. Urteil vom 31. März 1993 in der Rechtssache C-19/92, Kraus, Slg. 1993, I-1663, Randnr. 32).
[40] 38. Ebenso dürfen die Mitgliedstaaten bei der Anwendung ihrer nationalen Vorschriften nicht die Kenntnisse und Qualifikationen ausser acht lassen, die der Betroffene bereits in einem anderen Mitgliedstaat erworben hat (vgl. Urteil vom 7. Mai 1991 in der Rechtssache C-340/89, Vlassopoulou, Slg. 1991, I-2357, Randnr. 15). Sie müssen daher die Gleichwertigkeit der Diplome berücksichtigen (vgl. Urteil Thieffry, a. a. O., Randnrn. 19 und 27) und gegebenenfalls eine vergleichende Prüfung der in ihren nationalen Vorschriften geforderten Kenntnisse und Qualifikationen und derjenigen des Betroffenen vornehmen (vgl. Urteil Vlassopoulou, a. a. O., Randnr. 16).
[41] 39. Demnach ist auf die Fragen des Consiglio nazionale forense zu antworten, – daß der in Artikel 60 Absatz 3 EG-Vertrag genannte vorübergehende Charakter der Dienstleistung unter Berücksichtigung ihrer Dauer, ihrer Häufigkeit, ihrer regelmässigen Wiederkehr und ihrer Kontinuität zu beurteilen ist; – daß sich der Dienstleistungserbringer im Sinne des Vertrages im Aufnahmemitgliedstaat mit der für die Erbringung seiner Leistung erforderlichen Infrastruktur ausstatten kann; – daß ein Angehöriger eines Mitgliedstaats, der in stabiler und kontinuierlicher Weise eine Berufstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat ausübt, in dem er sich von einem Berufsdomizil aus u. a. an die Angehörigen dieses Staates wendet, unter die Vorschriften des Kapitels über das Niederlassungsrecht und nicht unter die des Kapitels über die Dienstleistungen fällt; – daß die Möglichkeit für einen Angehörigen eines Mitgliedstaats, sein Niederlassungsrecht auszuüben, und die Bedingungen dieser Ausübung unter Berücksichtigung der Tätigkeiten zu beurteilen sind, die er im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats ausüben will; – daß, wenn die Aufnahme einer spezifischen Tätigkeit im Aufnahmestaat keiner Regelung unterliegt, der Angehörige jedes anderen Mitgliedstaats das Recht hat, sich im Hoheitsgebiet des erstgenannten Staates niederzulassen und dort diese Tätigkeit auszuüben. Unterliegt die Aufnahme oder Ausübung dieser Tätigkeit im Aufnahmemitgliedstaat jedoch bestimmten Bedingungen, so muß der Angehörige eines anderen Mitgliedstaats, der diese Tätigkeit ausüben will, diese Bedingungen grundsätzlich erfüllen; – daß nationale Maßnahmen, die die Ausübung der durch den Vertrag garantierten grundlegenden Freiheiten behindern oder weniger attraktiv machen können, vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden, sie müssen aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein, sie müssen geeignet sein, die Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Zieles zu gewährleisten, und sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zieles erforderlich ist; – daß die Mitgliedstaaten ebenso die Gleichwertigkeit der Diplome berücksichtigen und gegebenenfalls eine vergleichende Prüfung der in ihren nationalen Vorschriften geforderten Kenntnisse und Qualifikationen und derjenigen des Betroffenen vornehmen müssen.
Kosten
[42] 40. Die Auslagen der italienischen, der griechischen, der spanischen, der französischen Regierung und der Regierung des Vereinigten Königreichs sowie der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die vor dem Gerichtshof Erklärungen abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Beteiligten des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren Teil des bei dem nationalen Gericht anhängigen Verfahrens; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts.