Bundesgerichtshof

BGH, Urteil vom 30. 11. 1995 – 4 StR 777/94; LG Magdeburg (lexetius.com/1995,456)

[1] Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Magdeburg vom 15. Februar 1994 aufgehoben.
[2] Die Angeklagten werden freigesprochen.
[3] Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen der Angeklagten fallen der Staatskasse zur Last.
[4] Gründe: Das Landgericht hat den Angeklagten G. wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung in sechs Fällen sowie wegen Beihilfe zur Rechtsbeugung in Tateinheit mit Beihilfe zur Freiheitsberaubung zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und sechs Monaten, den Angeklagten K. wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Freiheitsberaubung in acht Fällen zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und neun Monaten verurteilt. Die Vollstreckung der Strafen hat es jeweils zur Bewährung ausgesetzt.
[5] Mit ihren Revisionen rügen die Angeklagten die Verletzung sachlichen Rechts. Der Angeklagte K. beanstandet darüber hinaus das Verfahren.
[6] Die Rechtsmittel haben mit der Sachrüge Erfolg.
[7] A. I. Der 40 Jahre alte Angeklagte G. studierte von 1975 bis 1979 in der ehemaligen DDR Rechtswissenschaft und schloß dieses Studium mit der Prüfung zum Diplomjuristen ab. Von 1979 bis zu seiner Abberufung im Jahr 1990 war er bei der Staatsanwaltschaft beschäftigt.
[8] Der 52 Jahre alte Angeklagte K. hat den Beruf des Bohrwerkdrehers gelernt. 1971/72 nahm er an einem neunmonatigen Lehrgang für Straf- und Strafprozeßrecht teil, war anschließend kurze Zeit Richterassistent und mit dieser Ausbildung ab 1972 Richter am Kreisgericht. Neben seiner richterlichen Tätigkeit absolvierte er ein Fernstudium, mit dem er den akademischen Abschluß als Diplomjurist erwarb. Im Zeitraum von 1981 bis 1990 war er Direktor des Kreisgerichts Magdeburg-Nord.
[9] II. Im Rahmen ihrer jeweiligen beruflichen Tätigkeit wirkten die Angeklagten an der Verfolgung und Verurteilung ausreisewilliger Bürger der DDR mit, der Angeklagte G. als Antragsteller von Haftbefehlen, Anklageverfasser und/oder Sitzungsvertreter der Staatsanwaltschaft in der jeweiligen Hauptverhandlung, der Angeklagte K. als Haftrichter bzw. als Vorsitzender des erkennenden Gerichts:
[10] 1. Die Eheleute Stefan und Petra P. beabsichtigten, nach Neuseeland auszureisen. Nach mehreren vergeblichen Ausreiseanträgen kamen sie nach Absprache mit anderen ausreisewilligen Bürgern der DDR überein, provozierende öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zu ergreifen, um auf diese Weise auf die Ablehnung ihres Ausreiseantrags aufmerksam zu machen und doch noch eine Genehmigung ihrer Ausreise herbeizuführen. Zu diesem Zweck trug Stefan P. in den Jahren 1983/84 an seiner Kleidung einen weiß gestrichenen Ohmschen Widerstand und darunter – seitenverkehrt – eine zum 35. Jahrestag der DDR herausgegebene Anstecknadel mit der Zahl 35 (53 = Datum des Volksaufstandes in der DDR). 1984 hefteten die Eheleute P. an die Außenseite ihrer Wohnungstür einen Werbeprospekt über Neuseeland, unter den Petra P. mit Lippenstift das Wort "Freiheit" schrieb.
[11] Stefan P. wurde wegen mehrfacher, teils gemeinschaftlicher Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gemäß den §§ 214 Abs. 1 und 3, 63, 64 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten, Petra P. wegen gemeinschaftlicher Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt. Bis zu ihrem "Freikauf" verbüßten beide je etwa ein Jahr Freiheitsstrafe.
[12] 2. Nach fünf vergeblichen Ausreiseanträgen wurde den Eheleuten J. im Juli 1985 bei einer bei der Abteilung Inneres des Rates des Kreises der Stadt Halberstadt geführten Aussprache mitgeteilt, daß eine Ausreisegenehmigung für sie nicht in Betracht komme. Daraufhin äußerte Felicitas J. gegenüber zwei Mitarbeitern der Behörde u. a.: "Dann bleibt einem wohl nichts anderes übrig als über die grüne Grenze zu gehen oder den Gashahn aufzudrehen und sich zusammen mit den Kindern davorzulegen". Sinngemäß fügte sie hinzu, daß sie sich wie die Juden im Dritten Reich fühlten, wobei nur der Judenstern noch fehle. In der DDR hätten sie keine Rechte als Mensch mehr.
[13] Wegen dieser Äußerungen wurde Felicitas J. wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit in Tateinheit mit öffentlicher Herabwürdigung gemäß den §§ 214 Abs. 1, 220 Abs. 1 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, von der sie bis zu ihrer Ausreise etwa sieben Monate verbüßte.
[14] 3. Anläßlich einer Aussprache über einen von ihm gestellten Ausreiseantrag mit dem stellvertretenden Oberbürgermeister der Stadt Magdeburg im September 1985 erklärte Manfred L., daß "er sich nunmehr etwas einfallen lassen werde, um seinen Ausreiseantrag doch noch genehmigt zu bekommen". Er wolle, "wie sein Freund Z.", der an der Besetzung der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Prag teilgenommen und so seine Übersiedlung erreicht hatte, "eine Botschaft der Bundesrepublik Deutschland aufsuchen".
[15] Er wurde wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gemäß § 214 Abs. 1 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt, von der er bis zu seiner Abschiebung in die Bundesrepublik Deutschland etwa 13 Monate verbüßte.
[16] 4. Der mehrfach wegen Diebstahls und Körperverletzung vorbestrafte Uwe St. richtete nach Ablehnung eines bereits 1984 gestellten Ausreiseantrags im Januar 1986 erneut ein Ausreisebegehren an den Rat der Stadt Magdeburg, in dem er u. a. wörtlich schrieb: "Um Ihnen in kurzen Zügen klarzumachen, wie sich meine Reaktionen auswirken, möchte ich Ihnen mitteilen, daß ich bis jetzt mehr als genug ertragen habe und endgültig bereit bin zurückzuschlagen. Mir stehen Mittel und Wege zur Verfügung, sollte es zu diesen Vorgängen kommen, mich auf eine ganz bestimmte Art zu wehren. Sollte dieses Schreiben eine Ihrer bekannten monotonen Reaktionen hervorrufen, sehe ich mich gezwungen, Ihnen zu beweisen, daß ich nicht nur schriftlich glaubhaft bin."
[17] Aufgrund dieses Schreibens wurde Uwe St. wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit, "als Rückfalltäter handelnd", gemäß § 214 Abs. 1, 44 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und vier Monaten verurteilt, die er voll verbüßte.
[18] 5. Nach Ablehnung eines Ausreiseantrags im Jahr 1985 versuchte Uwe W. durch provokantes Verhalten am Arbeitsplatz und in der Öffentlichkeit "unbequem" zu wirken, um auf diese Weise seine Abschiebung in die Bundesrepublik Deutschland zu erreichen. Auch nahm er Kontakt zu einer Sprecherin der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte in der Bundesrepublik Deutschland auf, teilte ihr seinen Ausreisewunsch mit und berichtete ihr unter Angabe seiner persönlichen Daten, daß ihm aufgrund seines Ausreiseantrags ein "vorläufiger" Personalausweis ausgestellt worden sei. Im Juni 1986 erklärte er in einer Eingabe an den Vorsitzenden des Ministerrats den Verzicht auf die Staatsbürgerschaft der DDR, legte seinen "vorläufigen" Personalausweis, der ihn als Ausreisewilligen kennzeichnete, bei und erklärte seine Weigerung, diesen wieder entgegenzunehmen. Wörtlich fügte er hinzu: "Sollten Sie meiner Verzichtserklärung keine Beachtung schenken, muß ich davon ausgehen, daß ich als Leibeigener der DDR klassifiziert werde". Von diesem Vorgehen setzte er die Vertreterin der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte ebenfalls in Kenntnis.
[19] Uwe W. wurde wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung und wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit in Tateinheit mit öffentlicher Herabwürdigung gemäß den §§ 99 Abs. 1, 214 Abs. 1, 220 Abs. 2 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt. Er wurde nach Verbüßung von etwa 14 Monaten Freiheitsstrafe entlassen, nachdem er sich bereit erklärt hatte, in der Bundesrepublik Deutschland für das Ministerium für Staatssicherheit geheimdienstlich tätig zu werden.
[20] 6. Im Herbst 1986 stellte Wolfgang K. beim Staatsrat der DDR und der Abteilung Inneres des Stadtbezirks Magdeburg-Mitte einen gleichlautenden Ausreiseantrag, in dem er schrieb: "Ich habe daher am heutigen Tage gekündigt und werde auch hier keine Arbeit mehr aufnehmen", sowie: "Um diesem Antrag Nachdruck zu verleihen, habe ich einen Anwalt in Westberlin hinzugezogen". Bei diesem Vorgehen rechnete er damit, inhaftiert und anschließend freigekauft zu werden. Er wurde wegen mehrfacher Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gemäß § 214 Abs. 1 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt, von der er etwa elf Monate verbüßte.
[21] 7. Im Zeitraum von 1984 bis 1987 stellte Heinz N. insgesamt 21 Ausreiseanträge, um zu seinem Sohn zu gelangen, der in die Bundesrepublik Deutschland abgeschoben worden und dort sozial abgeglitten war. Um seinem Antrag zum Erfolg zu verhelfen, berichtete er seit Ende 1984 Verwandten, die, wie er wußte, Kontakt zu einem Rechtsanwaltsbüro in Berlin (West) aufgenommen hatten, Einzelheiten über seine Ausreisebemühungen und die damit in Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten mit staatlichen Organen der DDR. In einer Anfang 1987 geführten Aussprache mit Mitarbeitern der Abteilung Inneres äußerte er sinngemäß, falls seinem Sohn in der Bundesrepublik etwas zustoßen sollte, werde er sich an die Öffentlichkeit wenden und etwas Illegales tun, um so seine Ausreise zu erreichen.
[22] Er wurde wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme und wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gemäß den §§ 219 Abs. 2 Ziff. 1, 214 Abs. 1 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt, von der er bis zu seinem "Freikauf" etwa sechs Monate verbüßen mußte.
[23] 8. 1985 stellten die Eheleute Dr. Jörg und Walburg L. einen Ausreiseantrag. Hiervon unterrichteten sie ein befreundetes Ehepaar in der Bundesrepublik, das die Bemühungen der L.' s durch Kontaktaufnahme mit dem Bundesministerium für Innerdeutsche Beziehungen sowie mit einem Rechtsanwaltsbüro in Berlin (West) zu fördern suchte. Zu diesem Zweck teilten Dr. Jörg und Walburg L. fortlaufend Einzelheiten über ihre Kontakte zu den Behörden der DDR unter Namensnennung der dortigen Sachbearbeiter mit.
[24] Als ihr Ausreiseantrag abgelehnt wurde, verfaßten sie mehrere in scharfem Ton formulierte Schreiben an verschiedene staatliche Organe der DDR, in denen sie u. a. die Behandlung ihres Ausreiseantrags als "besondere Art der staatlichen Willkür", die politischen Zustände in der DDR als für sie unerträglich und die Grenzanlagen als Ausdruck von Intoleranz und Nichtsouveränität bezeichneten.
[25] In einer sehr heftig geführten Aussprache äußerte Dr. Jörg L. gegenüber zwei Mitarbeitern der Abteilung Inneres u. a.: "die DDR ist … menschenfeindlich, familienfeindlich und kinderfeindlich. In der Sowjetunion, in dem 50jährigen Saustall, wird jetzt aufgeräumt, aber in der DDR nicht, solange Menschen wie Sie an der Macht sind".
[26] Dr. Jörg L. wurde wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme und wegen mehrfacher, teils gemeinschaftlicher öffentlicher Herabwürdigung gemäß den §§ 219 Abs. 2 Ziff. 1, 220 Abs. 1 und 2, 63, 64 StGB-DDR zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und acht Monaten, Walburg L. wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme und wegen gemeinschaftlicher öffentlicher Herabwürdigung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt. Beide wurden nach Verbüßung von jeweils etwa 18 Monaten Haft von der Bundesrepublik Deutschland "freigekauft".
[27] 9. Nach mehreren vergeblichen Ausreiseanträgen lud Manfred H. im Mai 1988 nach einem gemeinsamen Bittgottesdienst etwa 25 Ausreisewillige ein, um bei einer "Grillparty" gemeinsame Maßnahmen zur beschleunigten Durchsetzung ihrer Ausreisebegehren zu besprechen. Während des Treffens schlug er vor, bei der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland in Berlin (Ost) um Hilfe nachzusuchen und die Vertretung, wenn Hilfe nicht gewährt würde, notfalls zu besetzen. Die Anwesenden stimmten dem zu und trafen sich in der Folgezeit erneut, ohne daß es zu einer näheren Konkretisierung ihres Plans gekommen wäre.
[28] Manfred H. wurde wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit gemäß § 214 Abs. 1 und 3 StGB zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und acht Monaten verurteilt, von der er etwa sechs Monate verbüßte.
[29] B. I. Die Verurteilung der Angeklagten hat keinen Bestand. Zwar können Richter und Staatsanwälte der ehemaligen DDR in der Bundesrepublik Deutschland grundsätzlich wegen Rechtsbeugung und wegen tateinheitlich damit verwirklichter Delikte verfolgt werden, da die nach Art. 315 Abs. 1 EGStGB i. V. m. § 2 StGB erforderliche Unrechtskontinuität zwischen § 244 StGB-DDR und § 336 StGB trotz unterschiedlicher Ausgestaltung des Schutzguts Rechtspflege in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR noch gewahrt ist (vgl. BGHSt 40, 30, 33; 40, 169, 174; 40, 272, 275); jedoch haben die Angeklagten die Voraussetzungen des zur Tatzeit geltenden, gegenüber § 336 StGB milderen und damit für die Prüfung ihrer Strafbarkeit maßgeblichen § 244 StGB-DDR in keinem der ihnen zur Last gelegten Fälle erfüllt.
[30] II. Rechtsbeugung gemäß § 244 StGB-DDR beging, wer wissentlich bei der Durchführung eines gerichtlichen Verfahrens oder eines Ermittlungsverfahrens als Richter oder Staatsanwalt gesetzwidrig zugunsten oder zuungunsten eines Beteiligten entschied.
[31] 1. Beurteilungsgrundlage für die Gesetzmäßigkeit oder Gesetzwidrigkeit der getroffenen Entscheidung sind die Gesetze der DDR. Diese können nur dann keine Geltung beanspruchen, wenn sie in einem offensichtlichen und unerträglichen Widerspruch standen zu elementaren Geboten der Gerechtigkeit, wie sie in völkerrechtlich geschützten Menschenrechten ihren Ausdruck gefunden haben (vgl. BGHSt 40, 272, 277, 278; BGH, Urteil vom 20. März 1995 – 5 StR 111/94 – und Urteil vom 5. Juli 1995 – 3 StR 605/94 –, jeweils zum Abdruck in BGHSt bestimmt). Die auf überpositives Recht gestützte Unwirksamkeit gesetzten Rechts muß auf Extremfälle beschränkt bleiben. Ein Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze einer Demokratie westlicher Prägung reicht hierfür nicht in jedem Falle aus (st. Rspr.; vgl. BGH aa0).
[32] 2. Für die von den Justizorganen der DDR vorzunehmende Auslegung der Gesetzesvorschriften gelten im wesentlichen die gleichen Grundsätze. Auch insoweit läßt es das Verbot rückwirkender Bestrafung des Art. 103 Abs. 2 GG nicht zu, auf Wertvorstellungen abzustellen, wie sie in der Bundesrepublik, einem demokratischen Rechtsstaat, herrschen; vielmehr ist zu berücksichtigen, daß Richter und Staatsanwälte in ein anderes System eingegliedert und dessen Wertvorstellungen verhaftet waren (vgl. BGHSt 40, 272, 279; Urteil des Senats vom 30. November 1995 – 4 StR 714/94 -). Dieses System war besonders geprägt durch ein starkes Bemühen, den "demokratischen Zentralismus" sozialistischer Prägung auch auf dem Gebiet der Rechtspflege sicherzustellen (vgl. hierzu BGH, Urteil vom 5. Juli 1995 – 3 StR 605/94 -). Dies wurde in erster Linie durch die Leitungsbefugnis des Obersten Gerichts mit seiner weitreichenden Definitionsmacht bewirkt. Neben formal bindenden Richtlinien und Beschlüssen war dieses Gericht – zum Teil in Abstimmung mit anderen Justiz- und Sicherheitsorganen – zur Verlautbarung von "Rechtsstandpunkten" und Herausgabe von "Orientierungen" befugt, die zumindest eine faktische Bindung nachgeordneter Gerichte an die Rechtsauffassung des Obersten Gerichts herbeiführten (BGH aa0). Eine weitere "Anleitung" erfuhren Staatsanwaltschaft und Instanzgerichte u. a. durch die vom Ministerium der Justiz herausgegebenen Kommentare. Grundsätzlich ist daher davon auszugehen, daß Staatsanwälte und Richter gesetzmäßig handelten, wenn sie sich bei der Auslegung der zur Tatzeit geltenden Gesetze der DDR an den einschlägigen Kommentaren und den verlautbarten Rechtsmeinungen des Obersten Gerichts ausrichteten.
[33] Auch insoweit sind jedoch Ausnahmen denkbar. Ergab sich erst aus der weiten Auslegung einer Norm, deren Wortlaut auch eine andere, menschenrechtsfreundliche Deutung zuließ, ein elementarer Verstoß gegen Menschenrechte, so kann eine solche Auslegung auch dann als Rechtsbeugung zu werten sein, wenn sie der Rechtsmeinung des Obersten Gerichts oder anderer staatlicher Stellen entsprach. Gleiches gilt, wenn die Auslegung die Schranken möglicher Wortbedeutung augenfällig überschritt oder unbestimmte Rechtsbegriffe derart überdehnte, daß die Erkennbarkeit und Vorhersehbarkeit strafbaren Verhaltens für den Normadressaten weitgehend aufgehoben war (BGHSt 40, 272, 279; BGH, Urteil vom 15. September 1995 – 5 StR 713/94 -).
[34] III. In den hier zu überprüfenden Verfahren haben die Angeklagten die so beschriebenen Grenzen zulässiger Rechtsanwendung nicht überschritten.
[35] 1. Insbesondere kann der Vorwurf der Rechtsbeugung entgegen der Auffassung des Landgerichts nicht schon daraus hergeleitet werden, daß die Strafverfolgung durchweg im Zusammenhang mit Ausreisebegehren von DDR-Bürgern stand und sich einfügte in ein von der DDR-Führung angestrebtes "einheitliches, abgestimmtes Vorgehen staatlicher Organe … zur Unterbindung und Zurückdrängung von Versuchen von Bürgern der DDR, die Übersiedlung nach nichtsozialistischen Staaten und Westberlin zu erreichen" (vgl. Verfügung Nr. 143/83 des Vorsitzenden des Ministerrats vom 27. September 1983).
[36] Zwar verstießen Strafverfolgungsorgane und Gerichte, die sich – wie die Angeklagten – in dieses vielfältige Bereiche umfassende System einbinden ließen, gegen den Geist des in Art. 13 der Allgemeinen Erklärung für Menschenrechte vom 10. Dezember 1948 und in Art. 12 IPBR garantierten Menschenrechts der Ausreisefreiheit. Eine so beeinflußte Strafverfolgung stellt aber nur dann Rechtsbeugung dar, wenn die damaligen Beschuldigten auch nach der Überzeugung der Justizorgane der DDR nicht gegen rechtlich geschützte Interesse dieses Staates gehandelt haben, die behaupteten Gesetzesverstöße vielmehr nur als Vorwand für Zwangsmaßnahmen zur Unterdrückung des – auch nach dem Recht der DDR nicht strafbaren – Begehrens nach Ausreise dienten. Dies mag zwar bei der Anwendung der von den Angeklagten herangezogenen Straftatbestände naheliegen (vgl. den Katalog der bei strafrechtlichem Zwang gegen Ausreisewillige vorrangig zu prüfenden Tatbestände in Anlage 6 zur Dienstanweisung Nr. 2/83 des Ministeriums für Staatssicherheit vom 13. Oktober 1983, abgedruckt in "Die geheimen Anweisungen zur Diskriminierung Ausreisewilliger", herausgegeben von Locken und Meyer-Seitz 1992, S. 87 ff.), ist aber auch in diesem Bereich in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung des Grundsatzes "in dubio pro reo" nachzuweisen. Maßgeblich hierfür sind die unverfälschte Feststellung des Sachverhalts und dessen nach den Maßstäben des DDR-Rechts in vertretbarer Weise vorgenommene Subsumtion unter das seinerzeit geltende Recht.
[37] 2. Anhaltspunkte dafür, daß die den Verurteilungen der Ausreisewilligen zugrunde liegenden Sachverhalte von den Angeklagten bewußt unzutreffend ermittelt oder entstellt wiedergegeben worden wären, sind nicht ersichtlich.
[38] 3. Die Subsumtion der von den Angeklagten zu beurteilenden Sachverhalte unter die von ihnen angewendeten Strafbestimmungen entsprach der damaligen Rechtsauffassung und verstieß noch nicht in krasser Weise gegen Menschenrechte.
[39] a) Dies gilt zunächst für die Fälle 1 bis 7 und 9, in denen die damaligen Angeklagten wegen Beeinträchtigung staatlicher oder gesellschaftlicher Tätigkeit gemäß § 214 StGB-DDR i. d. F. des 3. StrafrechtsänderungsG vom 28. Juni 1979 verfolgt und bestraft worden sind, weil sie die Tätigkeit staatlicher Organe entweder durch Drohung beeinflußt haben sollen (Fälle 2, 3, 4, 6 und 7) oder in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise eine Mißachtung der Gesetze bekundet (Fälle 1 und 5) oder zur Mißachtung der Gesetze aufgefordert haben sollen (Fall 9).
[40] aa) Nach den Erläuterungen in dem vom Ministerium der Justiz herausgegebenen Kommentar zum Strafrecht der DDR (4. Aufl. § 214 Anm. 3) waren als Drohungen im Sinne von § 214 StGB-DDR 1. Alt. Ankündigungen von Nachteilen aller Art zu verstehen, die geeignet waren, die geordnete staatliche Tätigkeit zu beeinträchtigen. Weitere Voraussetzung war, daß "die jeweilige Drohung ernstzunehmen sei, d. h. objektiv den Eindruck der Ernsthaftigkeit erwecken" mußte. Schließlich wurde für die Erfüllung dieser Tatbestandsalternative verlangt, "daß die Tat den ordnungsgemäßen Tätigkeitsablauf eines staatlichen Organs beeinträchtigt hat".
[41] Während das Landgericht – zu Recht – keine Zweifel an der Tatbestandsmäßigkeit der von den Ausreisewilligen ausgesprochenen Drohungen hat, hält es die von den Angeklagten als Staatsanwalt bzw. Richter vorgenommene Subsumtion deshalb für rechtswidrig, weil es schon an einer hinreichenden Darlegung der Ernsthaftigkeit der jeweiligen Drohungen fehle, jedenfalls aber keine Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit eingetreten sei. Dem kann nicht gefolgt werden.
[42] Anhaltspunkte dafür, daß aus der Sicht eines objektiven Betrachters die von den damaligen Beschuldigten ausgesprochenen Drohungen nicht ernst gemeint waren, sind nicht ersichtlich. Einer ausdrücklichen Erörterung dieses – ungeschriebenen – Tatbestandsmerkmals in der Anklageschrift oder im Urteil bedurfte es deshalb nicht.
[43] Eine Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit haben die Angeklagten G. und K. ausweislich der schriftlichen Ausführungen in Anklageschrift und Urteil in einer durch die jeweiligen Drohungen bewirkten "Einengung der Entscheidungsmöglichkeit" der für die Bearbeitung der Ausreiseanträge zuständigen staatlichen Organe gesehen. Diese Wertung entsprach der Kommentierung zu § 214 StGB-DDR (vgl. Kommentar zum StGB-DDR aa0) und der höchstrichterlichen Rechtsprechung. So hatte das Oberste Gericht mit Urteil vom 4. Oktober 1978 – 1 OSB 60/78 – entschieden, daß eine Einschränkung der Entscheidungsfreiheit nicht als "meßbarer Erfolg" zu verstehen sei, sondern auch dadurch bewirkt werden könne, daß der Täter Staatsorgane "in eine Zwangslage zwischen zwei schwerwiegenden Alternativen zu bringen sucht". Sowohl die Androhung der Selbsttötung (vergleichbar Fall 2) als auch die Verbindungsaufnahme mit ausländischen Einrichtungen (vergleichbar Fall 6) wurde hierfür als geeignet angesehen (Urteil des OG vom 2. Mai 1980 – 1 OSB 12/80; vgl. auch die "Gemeinsamen Standpunkte zur Anwendung des § 214 StGB" vom 17. Oktober 1980 – Sonderdruck der OG Informationen -).
[44] Mit dieser Auslegung des Begriffs "Beeinträchtigung" im Sinne von "Stören eines reibungslosen Ablaufs" wurde die Wortlautschranke noch nicht in unzulässiger Weise überschritten. Insbesondere setzt die sprachliche Fassung von § 214 Abs. 1, 1. Alt. StGB-DDR nicht zwingend einen Nötigungserfolg i. S. von § 240 StGB voraus. Die Nichterteilung der angestrebten Ausreiseerlaubnis steht daher der Vollendung der Tat nicht entgegen.
[45] Bedenken begegnet allerdings, daß nach der damaligen Rechtspraxis von § 214 Abs. 1, 1. Alt. StGB-DDR auch und gerade solche Nötigungshandlungen erfaßt wurden, die auf die Durchsetzung des völkerrechtlich anerkannten Rechts auf Ausreise gerichtet waren. Gemessen an rechtsstaatlichem Verständnis war die Androhung eines Übels zu dem angestrebten Zweck in den hier zu beurteilenden Fällen nicht als verwerflich und damit auch nicht als strafwürdig anzusehen. Die abweichende Wertung des DDR-Strafrechts stellt jedoch keine derart schwerwiegende Verletzung elementarer Menschenrechte dar, daß die Geltungskraft der Norm in der beschriebenen Anwendung durch überpositives Recht in Frage gestellt würde.
[46] bb) Die Bekundung einer Mißachtung der Gesetze in einer die öffentliche Ordnung gefährdenden Weise gemäß § 214 Abs. 1 2. Alt. StGB-DDR wurde angenommen für Fälle, "in denen der Täter in der Öffentlichkeit oder gegenüber staatlichen Organen und deren Vertretern in demonstrativer Weise, kategorisch und provokatorisch die Gesamtheit oder einzelne Gesetze der DDR herabwürdigt und z. B. ankündigt, sie als ungültig oder für ihn als nicht verbindlich zu betrachten"; dies könne "auch durch demonstrative Handlungen zum Ausdruck kommen" (Kommentar zum StGB-DDR aa0 Rdn. 4). Diese Definition entspricht wörtlich den vom Obersten Gericht der DDR am 17. Oktober 1980 veröffentlichten "Gemeinsamen Standpunkten zur Anwendung des § 214 StGB". Ergänzt werden diese Auslegungsregeln durch die "Orientierung zur Verfolgung bestimmter Straftaten gegen die staatliche und öffentliche Ordnung" des Obersten Gerichts vom Januar 1985, in der darauf hingewiesen wird, daß die oben dargestellten Grundsätze auch dann gelten sollen, wenn für Außenstehende nicht erkennbar sei, daß ein bestimmtes Handeln eine Mißachtung der Gesetze darstelle.
[47] Zwar werden mit dieser weiten Auslegung die Begriffe "Gefährdung der öffentlichen Ordnung" und "Mißachtung der Gesetze" bis an die Grenzen des möglichen Wortsinns ausgedehnt; die Wortlautschranke ist aber noch nicht überschritten (vgl. dazu eingehend BGHSt 40, 280, 281).
[48] Den vom Ministerium der Justiz und vom Obersten Gericht aufgestellten Richtlinien entspricht die von den Angeklagten vorgenommene Wertung, der demonstrative Verzicht auf die Staatsbürgerschaft der DDR, verbunden mit der Rückgabe des dem Ausreisewilligen ausgestellten "vorläufigen" Personalausweises und der strikten Weigerung, diesen wieder entgegenzunehmen (Fall 5) erfülle die Tatbestandsvoraussetzungen des § 214 Abs. 1, 2. Alt. StGB-DDR.
[49] Gleiches gilt für die rechtliche Bewertung in Fall 1 (Neuseelandplakat mit dem Wort "Freiheit", Tragen provozierender Anstecknadeln in der Öffentlichkeit). Soweit das Landgericht eine Überschreitung der Grenzen zulässiger Auslegung hier deshalb annimmt, weil die Eheleute P. mit ihren demonstrativen Handlungen keine Mißachtung von Gesetzen, sondern eine Mißachtung von Verwaltungshandeln bekundet hätten, vermag dies nicht zu überzeugen. Den Eheleuten P. kam es ersichtlich nicht darauf an, lediglich die falsche Anwendung eines von ihnen etwa als richtig und für sie verbindlich anerkannten Gesetzes zu kritisieren. Vielmehr wollten sie – wie andere Ausreisewillige auch – anhand ihres Falles auf die von ihnen zu Recht als unannehmbar empfundene Ausreisegesetzgebung hinweisen. Eine Differenzierung zwischen Kritik an der Gesetzeslage und einem darauf aufbauenden Verwaltungshandeln erscheint unter diesen Umständen gekünstelt, zumindest aber nicht zwingend (vgl. hierzu Urteil des Senats vom 30. November 1995 – 4 StR 714/94 -).
[50] cc) Von den Auslegungsrichtlinien des Obersten Gerichts ebenfalls gedeckt ist die Bewertung der an eine Gruppe von etwa 25 Ausreisewilligen gerichteten Aufforderung zur Besetzung der ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland (Fall 9) als Aufforderung zur Mißachtung der Gesetze im Sinne von § 214 Abs. 1, 3. Alt. StGB-DDR.
[51] Wenn das Landgericht die auch für diese Tatbestandsalternative erforderliche Gefährdung der öffentlichen Ordnung für nicht gegeben hält, weil die Aufforderung zur Botschaftsbesetzung bei einer Privatveranstaltung auf privatem Grund und Boden erfolgt sei, so verkennt es den Charakter der Zusammenkunft. Die Einladung zu dem als "Grillparty" getarnten Treffen richtete sich nicht an einen durch private Beziehungen verbundenen Freundes- oder Bekanntenkreis, sondern erfolgte an eine unbestimmte Vielzahl, untereinander nur durch das gemeinsame Interesse an einer Ausreise aus der DDR verbundenen Personen.
[52] Rechtlichen Bedenken begegnet dagegen die Anwendung des Strafschärfungsgrundes des § 214 Abs. 3 StGB-DDR. Danach wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bestraft, wer eine Tat nach den Absätzen 1 oder 2 "zusammen mit anderen" begeht. In dem von dem Angeklagten K. mitgetragenen Urteil wird eine "gemeinsame" Tatbegehung auf die Zusage der anderen Ausreisewilligen gestützt, an der von Manfred H. vorgeschlagenen Besetzung der Ständigen Vertretung teilzunehmen. Dies entspricht, wie das Landgericht zutreffend ausführt, nicht der amtlichen Kommentierung, nach der § 214 Abs. 3 StGB-DDR ein mittäterschaftliches Handeln i. S. von § 22 Abs. 2 Nr. 2 StGB-DDR verlangt (Kommentar zum StGB-DDR aa0 Anm. 6). Dieses wiederum setzt voraus, daß der Mittäter mindestens ein objektives Tatbestandsmerkmal verwirklicht oder zu verwirklichen beginnt (Kommentar zum StGB-DDR aa0 § 22 Anm. 5). Die bloße Zusage, an der Botschaftsbesetzung teilzunehmen, erfüllt keines der Tatbestandsmerkmale des § 214 Abs. 1 StGB-DDR.
[53] Nicht jede unrichtige Rechtsanwendung stellt aber eine "Beugung des Rechts" dar (vgl. BGHSt 32, 357, 364; 34, 146, 149; BGH NStZ 1994, 240, 241; NStZ 1994, 437). Vielmehr beinhaltet der – in § 244 StGB-DDR zumindest in der Überschrift verwendete – Begriff der Rechtsbeugung ein subjektives Element im Sinne eines bewußten Rechtsbruchs. Hinreichende Anhaltspunkte für eine bewußt falsche Gesetzesanwendung, die, unabhängig von Art und Schwere der für den Beschuldigten in Aussicht genommenen Rechtsfolge stets als schwerwiegender, elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege zu werten wäre (insoweit zutreffend Seebode JR 1994, 1), sind hier nicht ersichtlich; da bei dem von dem Angeklagten K. zu beurteilenden Sachverhalt mehrere Personen in Richtung auf eine Verletzung des nach DDR-Vorstellungen von § 214 StGB-DDR geschützten Rechtsguts zusammenwirkten, erscheint die Annahme von § 214 Abs. 3 StGB-DDR nicht gänzlich fernliegend. Dies gilt insbesondere unter Berücksichtigung der von dem Angeklagten K. erfahrenen wenig intensiven juristischen Ausbildung.
[54] b) Die in den Fällen 2, 5 und 8 erfolgte Verfolgung und Verurteilung der damaligen Beschuldigten wegen öffentlicher Herabwürdigung gemäß § 220 StGB-DDR entspricht ebenfalls der damaligen Rechtslage.
[55] Nach dieser Vorschrift wurde bestraft, wer "in der Öffentlichkeit die staatliche Ordnung oder staatliche Organe, Einrichtungen oder gesellschaftliche Organisationen oder deren Tätigkeit oder Maßnahmen herabwürdigt". Der Begriff des Herabwürdigens wurde definiert als "die in Wort- oder Schriftform oder sonstiger Weise zum Ausdruck gebrachte Darstellung von … unbeweisbaren Behauptungen, die geeignet sind, das Ansehen der staatlichen Ordnung …, ihre Maßnahmen und Tätigkeit in Mißkredit zu bringen", wenn dabei die abwertende Äußerung von einem entsprechenden Willen getragen war (Kommentar zum StGB-DDR aa0 § 220 Anm. 2).
[56] Die Äußerungen der damaligen Beschuldigten, die die Situation von ausreisewilligen Bürgern der DDR mit der der Juden zur Zeit des Nationalsozialismus oder mit Leibeigenen verglichen (Fälle 2 und 5), bzw. die DDR als intolerant, unsouverän, menschen-, familien- und kinderfeindlich bezeichneten (Fall 8), konnten demnach als Herabwürdigung in dem genannten Sinne gewertet werden.
[57] Zweifelhafter erscheint demgegenüber, ob auch das Tatbestandsmerkmal der Öffentlichkeit erfüllt war, da sich die fraglichen mündlichen oder schriftlichen Bekundungen nur an staatliche Bedienstete in ihrer Funktion als Amtsträger richteten und nicht von unbeteiligten Dritten wahrgenommen werden konnten. Öffentlichkeit im Sinne von § 220 StGB-DDR wurde aber – ebenso wie in § 139 Abs. 3 StGB-DDR (Verfolgung von Beleidigungen und Verleumdungen von Bürgern wegen ihrer staatlichen oder gesellschaftlichen Tätigkeit) – nicht nur dann angenommen, wenn die beanstandeten Behauptungen einem unbestimmten Personenkreis zugänglich waren, sondern auch dann, wenn sie mündlich in öffentlichen, staatlichen Dienststellen vorgenommen oder diesen zugeleitet wurden, unabhängig davon, ob sie dabei mehreren oder nur einer einzigen Person zur Kenntnis gelangten (Kommentar zum StGB-DDR aa0 § 220 Anm. 1 unter Verweis auf § 139 Anm. 4).
[58] Diese weite Auslegung geht über die Interpretation des Begriffs "öffentlich" bei den Ehrenschutzdelikten des Strafgesetzbuches der Bundesrepublik Deutschland deutlich hinaus und diente ersichtlich dem Bestreben, Kritik an staatlichem Handeln und an Personen, die staatliche oder gesellschaftliche Funktionen wahrnahmen, weitestgehend unter Strafe zu stellen. Vom Wortsinn wird sie jedoch noch gedeckt, da eine Differenzierung zwischen Äußerungen im rein privaten Bereich, d. h. unter Personen, die durch persönliche Beziehungen miteinander verbunden sind, und solchen gegenüber Personen, die öffentliche Funktionen wahrnehmen, möglich erscheint.
[59] c) Hinzunehmen ist auch, daß das Landgericht die Verfolgung und Verurteilung des Heinz N. und der Eheleute L. (Fälle 7 und 8) wegen ungesetzlicher Verbindungsaufnahme gemäß § 219 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR als dem Gesetzeswortlaut entsprechend beurteilt hat. Die von den damaligen Beschuldigten an Verwandte in Berlin (West) zur Weiterleitung an Rechtsanwaltsbüros bestimmten Informationen über Ausreiseanträge und damit verbundene Beeinträchtigungen der Antragsteller und ihrer Familien durch staatliche Stellen waren geeignet, den Interessen der DDR an einer Geheimhaltung solcher Vorgänge zu schaden. Sie entsprach damit den Tatbestandsvoraussetzungen des § 219 StGB-DDR. Auch diese Vorschrift begegnet – zumal in einer weiten Auslegung – rechtsstaatlichen Bedenken, widerspricht aber noch nicht überpositivem Recht.
[60] d) Letzteres gilt im Ergebnis auch für den Tatbestand der landesverräterischen Nachrichtenübermittlung, § 99 StGB-DDR, der – unter anderem – der Anklageerhebung gegen Uwe W. im Fall 5 zugrunde lag. Danach wurde mit Freiheitsstrafe von zwei bis zwölf Jahren bestraft, wer der Geheimhaltung nicht unterliegende Nachrichten zum Nachteil der Interessen der DDR an die in § 97 genannten Stellen (u. a. ausländische Organisationen sowie deren Helfer) übergab. Von § 219 Abs. 2 Nr. 1 StGB-DDR, der ebenfalls eine den Interessen der DDR nachteilige Informationsweitergabe ins Ausland unter Strafe stellt, unterscheidet sich die Vorschrift im wesentlichen nur durch den Adressatenkreis der übermittelten Nachrichten.
[61] Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, der Uwe W. Einzelheiten über seinen Ausreiseantrag und damit verbundene Benachteiligungen berichtete, wird in der von dem damaligen Staatsanwalt G. verfaßten Anklageschrift als "Feindorganisation einer fremden Macht" und damit als eine der in § 97 StGB-DDR aufgeführten ausländischen Organisationen bezeichnet. Dies entsprach der von staatlicher Seite allgemein vertretenen Auffassung, die darauf beruhte, daß die DDR die Hilfestellung dieser und anderer Menschenrechtsorganisationen bei der Durchsetzung von Ausreisebegehren als unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten ihres Staates auffaßte.
[62] Angesichts der hohen Strafdrohung und der Ausgestaltung als Verbrechenstatbestand widerspricht § 99 StGB-DDR – zumal in der Anwendung auf Ausreisewillige, die sich der Hilfe internationaler Organisationen bedienten – in besonderem Maße rechtsstaatlichem Verständnis. Mit Blick auf die Einschränkungen, die sich aus dem Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG ergeben, kann der Vorschrift gleichwohl nicht jede Geltungskraft und damit die rechtfertigende Wirkung für Richter und Staatsanwälte, die von ihr Gebrauch gemacht haben, abgesprochen werden. Angesichts des hohen Strafrahmens bedurfte jedoch das Tatbestandsmerkmal des Interessennachteils einschränkender Auslegung. Wenn selbst bei großzügiger Berücksichtigung staatlicher Interessen der DDR den übermittelten Nachrichten nur Bagatellcharakter zukam, stellte die Anwendung der Vorschrift in der Regel eine schwere Menschenrechtsverletzung dar (vgl. BGH, Urteile vom 15. September 1995 – 5 StR 642/94 –; 15. November 1995 – 3 StR 527/94 -).
[63] Dies trifft indes hier nicht zu. Uwe W. hatte der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte nicht nur seine Personalien und Lebensumstände sowie seinen Ausreisewunsch mitgeteilt, sondern darüber hinaus über behördliche Schikanen wie die Ausstellung eines vorläufigen Personalausweises berichtet. Vor allem aber hatte er die "Feindorganisation" auch von seinem gegenüber dem Staatsratsvorsitzenden provokatorisch erklärten Verzicht auf die Staatsbürgerschaft der DDR in Kenntnis gesetzt. Mag ein solches Verhalten der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte auch nicht völlig neu gewesen sein, so barg es doch aus der Sicht der um ihren Bestand besorgten DDR die Gefahr propagandistischer Aufbereitung. Die Bedeutung der Mitteilung ging daher über den Einzelfall hinaus. Für die DDR bestand ein erhebliches Interesse, die Aufdeckung eines Aufbegehrens der Bevölkerung gegen staatlichen Zwang, zumal durch eine ausländische Organisation, zu verhindern.
[64] IV. Soweit das Landgericht zu dem Ergebnis gelangt ist, daß zumindest einzelnen Tatbestände des DDR-Strafrechts von den Angeklagten in vertretbarer Weise auf das Verhalten der Ausreisewilligen angewandt worden sind (Fälle 2, 5, 7 und 8), sieht es eine Rechtsbeugung darin begründet, daß die Angeklagten hier – wie auch in anderen Verfahren – Freiheitsstrafen beantragt bzw. verhängt haben, obwohl die Voraussetzungen dafür nicht vorgelegen hätten.
[65] Dem kann im Ergebnis nicht gefolgt werden.
[66] Zwar kann eine Rechtsbeugung auch dadurch begangen werden, daß die beantragte oder verhängte Strafe in unerträglichem Mißverhältnis zur Tat steht. Dies trifft indes nicht auf jede überhöhte Strafe zu. Maßstab kann vielmehr nur sein, ob sich eine Entscheidung offensichtlich als Willkürakt darstellt, weil sie entweder von einer gängigen Rechtspraxis in extremem Maße abweicht, oder weil die Rechtspraxis, an der sie sich orientiert, in krassem Widerspruch zum Verhältnismäßigkeitsprinzip steht, das insbesondere Eingriffe in die Freiheit eines Menschen auch bei strafrechtlichen Verfehlungen begrenzt (BGHSt 40, 242, 282 vgl. auch BGH, Urteil vom 15. November 1995 – 3 StR 527/94 -).
[67] Ersteres kommt hier schon deshalb nicht in Betracht, weil Strafen, wie sie von den Angeklagten beantragt bzw. verhängt wurden, weder nach der Strafart noch nach der Höhe in der Rechtspraxis der DDR ungewöhnlich waren. Sofern von den Verurteilten in den hier zu beurteilenden Verfahren Rechtsmittel eingelegt wurden, blieben diese denn auch stets ohne Erfolg.
[68] Die Wahl von Freiheitsstrafe als schwerste der in den §§ 214, 219 und 220 StGB-DDR vorgesehenen Strafarten entsprach auch den in § 39 StGB-DDR geregelten "Grundsätzen der Anwendung der Freiheitsstrafe" in der für diese Vorschrift seinerzeit vertretenen Auslegung. Danach konnte gemäß § 39 Abs. 2 StGB-DDR Freiheitsstrafe "auch gegen Personen angewandt werden, die ein Vergehen begangen und damit … eine schwerwiegende Mißachtung der gesellschaftlichen Disziplin zum Ausdruck gebracht haben". Letztere konnte sich u. a. darin erweisen, daß der Täter "aus bisherigen Ermahnungen, Belehrungen, Beratungen vor gesellschaftlichen Gerichten usw. keine Lehren gezogen" hat, vielmehr "in der Vergangenheit die gegen ihn als notwendig gewordenen gesellschaftlichen oder staatlichen Erziehungsmaßnahmen demonstrativ ignorierte und sein Verhalten eine verfestigte negative Einstellung gegenüber seiner staatsbürgerlichen Pflicht ausdrückte" (Kommentar zum StGB-DDR aa0 § 39 Anm. 5). Dies traf aus der Sicht der Justiz der DDR auch auf Ausreisewillige zu, die – wie die Beschuldigten in den hier zu beurteilenden Fällen – jeweils bereits einer Vielzahl von "Aussprachen" und Disziplinierungsmaßnahmen ausgesetzt waren, bevor sie schließlich ihre Ausreisebegehren durch Drohungen, provokante Kritik oder Inanspruchnahme von Hilfe aus der Bundesrepublik Deutschland zu fördern suchten.
[69] Aus der Sicht eines Rechtsstaates verstießen die an grundsätzlich anderen Wertvorstellungen von Freiheitsrechten des Einzelnen gegenüber staatlicher Bevormundung ausgerichteten Strafen in allen Fällen zweifellos gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Als unerträglicher Verstoß gegen jegliches, von Ideologien unbeeinflußtes Gerechtigkeitsempfinden und damit als Rechtsbeugung erscheinen sie jedoch nicht.
[70] Dies gilt letztlich auch für die im Fall 5 wegen landesverräterischer Nachrichtenübermittlung und wegen Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit in Tateinheit mit öffentlicher Herabwürdigung verhängte Freiheitsstrafe von drei Jahren. Entgegen der Auffassung des Landgerichts war insoweit nicht von dem Strafrahmen des § 219 StGB-DDR mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren auszugehen, sondern vom Strafrahmen des § 99 StGB-DDR, der Freiheitsstrafe von zwei bis zwölf Jahren vorsieht. Zwar liegt eine menschenrechtswidrig hohe Bestrafung bei Anwendung dieses Tatbestandes besonders nahe, da er in der seinerzeit vertretenen weiten Auslegung auch Sachverhalte minderen Schuldgehalts erfaßte (vgl. auch BGH, Urteile vom 15. September 1995 – 5 StR 642/94 und vom 15. November 1995 – 3 StR 527/94). Da sich die hier verhängte Strafe zugleich auf ein weiteres Delikt bezog und da sie sich im unteren Bereich des insgesamt hohen Strafrahmens des § 99 StGB hielt, kann von einem unerträglichen Mißverhältnis zwischen Tat und Strafe im Sinne willkürlicher Rechtsanwendung jedoch noch nicht gesprochen werden.
[71] Daß der damals Beschuldigte – ebenso wie alle anderen hier erwähnten früheren Beschuldigten – wegen der rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechenden Verfolgung – soweit möglich – nach Rehabilitationsregeln entschädigt werden muß, ist selbstverständlich. Das kann aber nicht – wie dargelegt – zu einer strafgerichtlichen Verurteilung der Angeklagten führen.
[72] V. Die Schuldsprüche wegen Rechtsbeugung bzw. Beihilfe zur Rechtsbeugung und damit auch wegen Freiheitsberaubung und Beihilfe dazu können danach nicht bestehen bleiben. Da die Aufhebung des Urteils nur aufgrund einer anderen rechtlichen Bewertung der vom Landgericht vollständig und fehlerfrei getroffenen Feststellungen erfolgt, spricht der Senat gemäß § 354 Abs. 1 StPO die Angeklagten frei.