Bundesgerichtshof konkretisiert die Pflichten des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft

BGH, Mitteilung vom 21. 4. 1997 – 24/97 (lexetius.com/1997,482)

[1] Der in Wirtschaftskreisen bekannte Zwist im Hause ARAG, bei dem sich zwei zwar durch familiäre Beziehungen verbundene, aber gleichwohl zerstrittene Aktionärsgruppen gegenüberstehen, gab dem II. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs Gelegenheit, zu der grundsätzlichen Frage der Pflichten des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft Stellung zu nehmen.
[2] Der Vorstandsvorsitzende der ARAG wurde dafür mitverantwortlich gemacht, daß die Gesellschaft durch rechtswidrige Finanztransaktionen ihres früheren Finanzchefs Verluste in Höhe von über 80 Mio. DM erlitten hatte. Die daraufhin erhobene Forderung, den Vorstandsvorsitzenden zum Ausgleich dieses Schadens heranzuziehen, wurde von der Mehrheit des für diese Entscheidung zuständigen Aufsichtsrats abgelehnt. Die Kläger, die diese Entscheidung für rechtswidrig halten, hatten mit ihrer auf Feststellung der Nichtigkeit des entsprechenden Aufsichtsratsbeschlusses gerichteten Klage vor dem Landgericht Erfolg. Das in der Berufungsinstanz mit der Sache befaßte Oberlandesgericht Düsseldorf gab dagegen der Aufsichtsratsmehrheit Recht. Um unternehmerische Entscheidungen nicht zu sehr zu verrechtlichen, müsse – so das OLG – den Organen der AG ein weites, gerichtlich grundsätzlich nicht nachprüfbares Ermessen zugebilligt werden. Eine Ausnahme könne lediglich in den seltenen Fällen gelten, in denen nur eine einzige Entscheidung richtig sei. Eine solche sog. Ermessensreduzierung auf Null wollte das OLG im Streitfall nicht annehmen, weil eine ganze Reihe von Gründen, die gegen die Inanspruchnahme des Vorstandsvorsitzenden sprechen könnten, denkbar seien, wie etwa Schädigung des Ansehens der Gesellschaft in der Öffentlichkeit, die Beunruhigung der Belegschaft, Beeinträchtigung der weiteren Vorstandsarbeit sowie schließlich auch die Rücksichtnahme auf den verdienten Vorsitzenden. Dem ist der Bundesgerichtshof nicht gefolgt. Der hat u. a. ausgeführt:
[3] Raum für unternehmerisches Ermessen, in das sich die Gerichte nicht einzumischen haben, sei dort, wo unternehmerisches Handeln gefordert sei, nämlich bei der Leitung der Gesellschaft durch ihren dazu gesetzlich berufenen Vorstand. Die Führung des Unternehmens erfordere ständig Entscheidungen, bei denen der Vorstand genötigt sei, auch geschäftliche Risiken einzugehen. Erweise sich eine solche Entscheidung trotz sorgfältiger Aufbereitung der Entscheidungsgrundlagen und gewissenhafter Risikoanalyse später als unrichtig, so müsse der Vorstand sicher sein können, dafür rechtlich nicht zur Verantwortung gezogen zu werden, sondern allenfalls, weil ihm die glückliche Hand, also die nötige "fortune" bei der Führung der Geschäfte fehle, abberufen oder nicht wiederbestellt zu werden. In diesem Bereich gelte deshalb der durch einen entsprechenden Ermessensspielraum gegen gerichtliche Nachprüfung abgesicherte Grundsatz unternehmerischer Handlungsfreiheit. An diesem unternehmerischen Ermessen habe auch der Aufsichtsrat Anteil, soweit er bei unternehmerischen Entscheidungen des Vorstands mitzuwirken habe. Anders verhalte es sich dagegen, wenn der Vorwurf im Raum stehe, der Vorstand habe die Gesellschaft in vorwerfbarer Weise durch ein ihm verbotenes, weil gegen Gesetz und Satzung verstoßendes Verhalten geschädigt. In diesem Falle könne sich weder der Vorstand noch der Aufsichtsrat, der als zuständiges Kontrollorgan über die Verpflichtung des Vorstands zu rechtmäßigem Handeln und zur Wiedergutmachung eines von ihm rechtswidrig verursachten Schadens zu befinden hat, auf interne Handlungsfreiheit berufen. Wenn der Aufsichtsrat aufgrund einer sorgfältigen Prozeßrisikoanalyse, bei der ihm nicht mehr als allenfalls der übliche Beurteilungsspielraum zuzubilligen sei, zu dem Ergebnis komme, daß nach aller Voraussicht – Gewißheit ist nicht zu verlangen – gerichtlich durchsetzbare Schadensersatzansprüche gegen den für den Schaden verantwortlichen Vorstand bestünden, so habe der Aufsichtsrat, aufgrund seiner gesetzlichen Aufgabe, den Vorstand zu überwachen und Schaden von der Gesellschaft fernzuhalten, dafür zu sorgen, daß der Vorstand seiner im Gesetz (§ 93 AktG) vorgesehenen Verpflichtung zum Schadensersatz nachkomme, und im Weigerungsfalle Klage zu erheben. Von einem solchen Vorgehen dürfe der Aufsichtsrat nur ausnahmsweise, nämlich dann absehen, wenn die Interessen der Gesellschaft dies erforderten. Dies komme jedoch nur dann in Betracht, wenn die Umstände, die dafür sprechen, den Vorstand nicht in Anspruch zu nehmen und die Gesellschaft ohne Ersatz ihres Schadens zu lassen, wenigstens annähernd das gleiche Gewicht haben wie das Interesse der Gesellschaft an Ausgleich des ihr zugefügten Schadens. Nur bei dieser Abwägung, bei der der Aufsichtsrat in der Regel keinen anderen Gesichtspunkten als demjenigen des Gesellschaftswohls Raum geben dürfe, stehe ihm ein eingeschränktes Ermessen zu.
[4] Da das OLG von seinem abweichenden rechtlichen Standpunkt aus bisher weder geprüft hat, ob der Gesellschaft gerichtlich durchsetzbare Schadensersatzansprüche gegen ihren seinerzeitigen Vorstandsvorsitzenden zustehen, noch Feststellungen dazu getroffen hat, ob im Falle der ARAG gewichtige Interessen der Gesellschaft vorhanden sind, die ausnahmsweise ein Absehen von der Geltendmachung dieser Ansprüche rechtfertigen können, hat der Bundesgerichtshof die angefochtene Entscheidung aufgehoben und den Streitfall zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das OLG zurückverwiesen.
BGH, Urteil vom 21. 4. 1997 – II ZR 175/95