Zur strafrechtlichen Haftung eines Strahlentherapeuten

BGH, Mitteilung vom 19. 11. 1997 – 87/97 (lexetius.com/1997,540)

[1] Der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision des Facharztes für Radiologie Dr. R. gegen ein Urteil des Landgerichts Düsseldorf als unbegründet verworfen, durch das er wegen fahrlässiger Körperverletzung in fünf Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe von 200 Tagessätzen zu je 330, – DM verurteilt worden war.
[2] Dr. R. hatte gemeinsam mit dem früheren Mitangeklagten Dr. K. eine radiologische Facharztpraxis betrieben, in der u. a. auch Strahlentherapie mit einer Telekobaltanlage zur Tumorbekämpfung mit Gammastrahlen durchgeführt wurde. Nach der praxisinternen Arbeitsteilung war Dr. K. für die Strahlentherapie zuständig, während Dr. R. insoweit nur Urlaubsvertretungen wahrnahm. Dr. K. hatte sich von einem Medizinphysiker, dem früheren Mitangeklagten Kr., mit Hilfe eines Computerprogramms eine Tabelle mit den erforderlichen Bestrahlungszeiten erstellen lassen; bei einem Ausdruck wurden jedoch auf nicht mehr klärbare Weise die Werte um den Faktor 2, 2 erhöht. Infolgedessen wurden über einen längeren Zeitraum in den Jahren 1986 bis 1987 zahlreiche Tumorpatienten dieser Praxis mit mehr als der doppelten der medizinisch indizierten Dosis bestrahlt. Auch in mehrfacher anderer Hinsicht entsprach die vorgenommene Strahlentherapie nicht dem aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft. In vier Fällen führte die fehlerhafte Bestrahlung zum Tod von Patienten. Dr. K. wurde wegen fahrlässiger Tötung in vier Fällen und wegen fahrlässiger Körperverletzung in 16 Fällen und der Physiker Kr. wegen fahrlässiger Tötung und wegen fahrlässiger Körperverletzung verurteilt. Beide haben die Verurteilung akzeptiert, während der Urlaubsvertreter Dr. R., dem die fehlerhafte Weiterbehandlung während der Urlaubsabwesenheit des Dr. K. in fünf Fällen vorgeworfen worden ist, Revision einlegte.
[3] Der Bundesgerichtshof hat zunächst ausgesprochen, daß eine Behandlung mit Gammastrahlen in einer zur Tumorvernichtung ausreichenden Dosis wegen der planmäßigen Zellschädigung auch des gesunden Gewebes und wegen der häufig damit verbundenen Nebenwirkungen einen nicht unerheblichen Eingriff in die körperliche Unversehrtheit der Patienten und damit eine Körperverletzung im Sinne des § 223 StGB darstellt, die nur gerechtfertigt ist, wenn sie durch eine Einwilligung des Patienten gedeckt ist. Diese ist jedoch unwirksam, wenn die Bestrahlung mit fehlerhaft ermittelten Überdosen – hier: mehr als doppelt soviel wie medizinisch indiziert – erfolgt.
[4] Ein Fahrlässigkeitsvorwurf ist auch gegenüber dem Urlaubsvertreter Dr. R. berechtigt, der bei fünf Patienten lediglich die von seinem Kollegen begonnene Strahlenbehandlung nach dessen Behandlungsplan fortsetzte, ohne die Richtigkeit der in diesem Plan enthaltenen Bestrahlungszeiten wenigstens durch eine Plausibilitätskontrolle zu überprüfen, die zur Aufdeckung des Fehlers geführt hätte. Dr. R. konnte sich nicht auf den Vertrauensgrundsatz berufen, daß bei einer Arbeitsteilung ein Arzt grundsätzlich auf die Richtigkeit der Vorarbeit seines Kollegen vertrauen darf, solange nicht ausreichende Anhaltspunkte für ernste Zweifel gegeben und für ihn erkennbar sind. Denn die Tätigkeit des Dr. K. in der Strahlentherapie war von zahlreichen Nachlässigkeiten, wie mangelhafter Dokumentation, fehlenden Aufzeichnungen und unterlassenen, nach den Strahlenschutzbestimmungen vorgesehenen Überprüfungen, aber auch dadurch gekennzeichnet, daß die Strahlenbehandlung selbst nicht mehr dem aktuellen Stand der ärztlichen Kunst entsprach. Da Dr. R. diese Mängel erkennen konnte, durfte er sich ohne Plausibilitätskontrolle nicht darauf verlassen, daß Dr. K. die Bestrahlungszeiten zutreffend angegeben hatte.
[5] Dr. K. setzte die Bestrahlungen in Überdosis bei zwei der Patienten selbst dann noch fort, als er bei einer Überprüfung des Telekobaltgeräts durch eine Beauftragte des Gewerbeaufsichtsamtes auf eine zu hohe Dosisleistung und die Notwendigkeit, vor einer gründlichen Überprüfung das Gerät nicht mehr zu benutzen, hingewiesen worden war.
BGH, Urteil vom 19. 11. 1997 – 3 StR 271/97